Kapitel 12

Jocelyn

Am Sonntag schlafe ich aus. Als ich schließlich um 13 Uhr aufwache, und fertig angezogen und geschminkt mit einer Sporttasche in der Hand in die Küche wanke, haben die anderen schon zu Mittag gegessen. Jennifer lächelt mich breit an und fragt mich mit großen Kulleraugen, ob ich mit ihr mit ihren Barbies spielen will. Ich kann gar nicht anders als zuzustimmen, als sie mich so treuherzig anschaut, und schon wenige Sekunden später sitze ich auf der Couch, wo bereits eine beachtliche Anzahl aus kleinen Plastikpuppen auf uns warten. Jen erklärt mir ihre Namen und wer mit wem verwandt ist. 

Ich spiele mindesten eine halbe Stunde mit Sophia und Tessa, als Grace die Treppe zu uns herunter gestiegen kommt. Sie lächelt breit als sie uns so auf der Couch miteinander spielen sieht. "Hast du hunger, Jocelyn?", fragt sie mich freundlich und augenblicklich fühle ich mich schuldig, weil ich beim letzte Abendessen einfach nicht gekommen bin und mich auch nicht gemeldet habe. "Nein, habe ich nicht. Aber danke, dass du gefragt hast." Grace lächelt mich schon wieder so unglaublich wohlwollend an und ich merke, wie in mir das Bedürfnis aufkeimt aufzuspringen und aus dem Haus zu rennen. Doch ich bleibe ruhig sitzen und lasse mir nichts anmerken. "Kein Problem. Aber wenn du es dir anders überlegst: Wir haben noch etwas Auflauf im Kühlschrank." Ich nicke lächelnd und wende mich dann wieder Jen zu. Doch sobald Grace wieder aus dem Raum gegangen ist, sage ich Jennifer, dass ich jetzt dringend los muss und laufe schnellen Schrittes in die Garage. 

Zuerst fahre ich zu dem Blumenladen, zu dem ich jeden Sonntag fahre und ein paar Rosen kaufe. Dann, nachdem ich mich von der netten Verkäuferin verabschiedet habe, die mich inzwischen schon kennt, fahre ich zu meinem Lieblings China-Restaurant. Als ich Grace vorhin gesagt habe, dass ich keinen Hunger hätte, war das nicht ganz die Wahrheit. Eigentlich sterbe ich beinahe vor Hunger, aber ich mache das, was ich jetzt machen werde jeden Sonntag und ich bin nicht bereit jemanden davon zu erzählen. Ich lasse mir mein Essen einpacken und fahre dann weiter zu dem Friedhof etwas außerhalb der Stadt. Dem, auf dem meine Mutter begraben liegt. 

Als ich bei dem Grab ankomme, auf dem in großen, geschwungenen Buchstaben 'Kathleen Ashton' steht, fühle ich sofort eine Wärme in mir, die nur ein Besuch bei meiner Mom in mir auslöst. Wenn ich hier bin, ist es, als würde die Zeit stillstehen und als ob die Leere in meinem Inneren nicht ganz so groß ist, wie ich immer denke.

Ich tausche die welken Rosen von letzter Woche gegen die Frischen, welche ich gerade erst gekauft habe und lächle, weil ich mir sicher bin, dass Mom diese Rosen gefallen hätten. Sie hat Rosen geliebt, und es war ihr egal welche Farbe sie hatten, solange sie nur bunt waren. Ich lasse mich vor ihrem Grab ins Gras sinken und öffne den Deckel meines Essens. Das wöchentliche Mittagessen bei meiner Mom halte ich schon seit Jahren ab - und ich habe nicht die Absicht damit aufzuhören.

Die Ehe meiner Eltern hat schon als die ersten, harmloseren Symptome ihrer Krankheit auftraten nicht mehr richtig gepasst. Jack war nur im Ausland unterwegs, während Mom und ich Zuhause blieben. Ich wusste schon damals, dass sie einsam war, und dass Jack das zugelassen hat, obwohl er genau wusste, dass sie bald sterben würde, macht mich unglaublich wütend. Es hätte sie unterstützen müssen. Für sie da sein müssen. Er hätte an meiner Stelle Tag und Nacht an ihrem Krankenbett sitzen müssen. Aber das hat er nicht. Er hat seine todkranke Frau mit seiner siebenjährigen Tochter alleine gelassen. Hat zugelassen, dass ich mit ansah, wie meine Mutter, die Frau, die ich immer als Unbesiegbar hielt, immer schwächer wurde. Irgendwann war sie nicht mehr in der Lage ihre Muskeln zu kontrollieren, in zusammenhängenden Sätzen zu sprechen oder gar das kleine Ein-Mal-Eins aufzusagen. Sie hat nach und nach ihre motorischen und geistigen Fähigkeiten verloren, selbst ihr Gedächtnis. Und wo war Jack, als ich jeden Tag nach der Schule bei ihr im Pflegeheim saß? In Dubai! Er hat eines seiner bekanntesten Projekte seiner Familie vorgezogen. Dafür hat er sogar die Beerdigung seiner Frau verpasst. Mom, die anders als die meisten anderen Chorea Huntington-Erkrankten schon ein paar Monaten nach den ersten Symptomen starb, hat zwar versucht an ihren besseren Tagen mich davon abzulenken, dass ich in dieser Zeit von einem Kindermädchen großgezogen wurde und nicht von meinem Vater, aber ich merkte trotz meinem jungen Alters, dass sie selbst enttäuscht von ihrem Ehemann war. 

Traurig lächelnd sehe ich zu der Inschrift, welche direkt unter ihrem Namen in den Stein eingraviert wurde: Spuren im Sand verwehen, Spuren im Herzen bleiben. Wie wahr. Ich werde meine Mom niemals vergessen, und auch wenn Jack alles dafür tun würde, damit er das kann, wird es auch ihm nicht passieren. Dafür war Mom einfach eine zu starke und wunderbare Frau. Sie hat ausgesehen wie ich. Blond und blauäugig. Doch außer ihrer natürlichen Schönheit war es ihre Aura die dafür sorgte, dass sie von niemandem jemals vergessen werden konnte. Sie hatte dieses gewisse Etwas an sich, was jeden dazu brachte sie zu mögen. Ihre herzliche Art und das Engagement, welches sie jedem entgegenbrachte, machte sie unverwechselbar und unvergesslich.


Nach meinem leckeren, aber ungewöhnlichen Mittagessen, mache ich mich auf den Weg zu Janine und Oliver. J hat mich gestern gefragt, ob ich heute Zeit hätte, um ein paar neue Choreographien einzustudieren und ich habe sofort zugesagt. Alex, Andrei und Kate werden auch da sein, und ich freue mich schon sie alle wieder zu sehen. Es ist viel zu lange her, seit wir zusammen getanzt haben.


Dean

Ethan, Matt, Liam und ich verbringen den ganzen Sonntag bei Jayden. Wir spielen auf seiner Play Station Videospiele, trinken dabei Bier und Matt und Jayden ziehen ein paar Mal an einem Joint. Sie haben es mir auch angeboten, aber ich habe dankend abgelehnt. Kiffen, rauchen und Drogen nehmen habe ich hinter mir gelassen als ich Spanien verließ. Noch vor knapp zwei Monaten war es Alltag für mich gewesen abends in einem Club blaue Pillen zu verticken und auch selbst mal eine einzuwerfen und erst am Morgen danach total verkatert und erledigt in einem fremden Bett wieder aufzuwachen. Aber das will ich nicht mehr. Nie wieder. Hier in Miami kann ich neu anfangen und so sein wie ich sein will. Am Anfang, als ich die High School zum ersten Mal betrat, dachte ich, dass ich mit meiner gewohnten arroganten und lässigen Art dieses letzte Schuljahr auch noch schaffen würde, doch es ist nicht mehr nötig mich zu verstellen und herablassend zu anderen zu sein. Ich habe hier Freunde gefunden, die mich so in ihrer Clique aufgenommen haben wie ich bin, und das ist es was zählt. 

Ich komme erst am späten Abend nach Hause, aber das ist kein Problem, weil ich meiner Mom schon vor Stunden geschrieben habe, dass sie beim Abendessen nicht mit mir rechnen braucht. Es erschien mir einfach fair kurz Bescheid zu sagen. Als ich mir gerade meine Schuhe abstreife kommt meine Mom aus dem Wohnzimmer und lächelt mich breit an. "Hattet ihr Spaß?" Ich nicke lächelnd. "Was habt ihr den ganzen Tag gemacht?" Ich hake mich bei ihr unter und zusammen gehen wir zur Couch, auf der auch schon Jack sitzt, und lassen uns darauf fallen. "Wir sind mit Jen ins Kino gegangen - sie wollte doch schon seit Ewigkeiten diesen neuen Pferdefilm sehen. Und dann sind wir ein bisschen in der Stadt herumgebummelt." 

Hinter uns kommt Jocelyn ins Zimmer. Überrascht sehe ich sie an. Ich hatte gar keinen Wagen herfahren hören. Sie trägt Leggins und ein verschwitztes Sport-T-Shirt. Allerdings trägt sie keine Laufschuhe und eine Tasche in der Hand, weswegen ich vermute, dass sie im Fitnessstudio war. Dass sie dorthin fährt ist mir immer noch ein Rätsel. Ich meine, im ersten Stock ist ein voll ausgestatteter Fitnessraum mit allem was man so braucht, und dennoch geht sie dorthin. Sie beachtet Jack nicht weiter, sondern sieht meine Mom an. "Haben wir noch etwas von diesem Auflauf, von dem du heute Mittag gesprochen hast, Grace? Ich habe einen Riesenhunger!", sie schaut Mom fragend an, welche sie breit lächelt. "Natürlich, es steht noch etwas davon im Kühlschrank. Soll ich es dir warm machen?" Jocelyn schüttelt den Kopf. "Nein, ich werde erst Duschen, bevor ich mich darüber hermache, aber danke." Mit federnden Schritten geht sie aus dem Raum und rennt schon fast die Treppe hinauf. Wieso ist sie denn nun wieder so gut drauf? Dieses Mädchen, macht mich echt fertig mit ihren Launen. Am einen Abend schlägt sie wild auf einen Boxsack ein und am nächsten schwebt sie beinahe durch den Raum? Frauen! 

Mom wendet sich fröhlich an Jack. "Macht Jocelyn schon immer so viel Sport?" Jack, welcher die letzten Minuten stur auf die Tischplatte vor uns gestarrt hat, sieht auf. "Ja, schon seit acht Jahren. Sie ist irgendwie besessen davon, dass sie fitter ist, als alle anderen." Ich habe das ungewöhnliche Gefühl, dass Jack statt dem 'fitter' erst etwas anderes sagen wollte, doch genau kann ich das nicht sagen. "Was war denn vor acht Jahren?", fragt Mom interessiert und ich sehe Jack neugierig an. Er sieht erschrocken aus und weicht unseren Blicken aus. "Sie hat sich damals sehr verändert, das ist alles." Mit einer einzigen schnellen Bewegung ist er aufgestanden und in der nächsten Sekunde ist er durch den Türbogen in die Küche verschwunden. Als er wenig später mit einem Bier in der Hand wiederkommt, sieht er wieder etwas entspannter aus und bevor wir auch nur das Geringste sagen können, meint er:"Was haltet ihr davon, wenn wir den Fernseher anschalten?" Mir - und bestimmt auch meiner Mom - ist klar, dass Jack nicht die ganze Wahrheit gesagt hat, aber wir fragen beide nicht mehr was damals passiert ist, obwohl es mir in den Fingern juckt. "Ich muss noch lernen. Ich schreibe morgen eine Arbeit. Gute Nacht.", damit stehe ich auf und verschwinde nach oben. 


Die Dusche läuft und damit ich mitbekomme, wann Jocelyn im Bad fertig ist, lasse ich meine Zimmertür auf. Ich lerne ungefähr eine viertel Stunde, als die Badtür aufgeht und sie auf Zehenspitzen nur in einem Handtuch gewickelt in ihr Zimmer schleicht. Unwillkürlich muss ich grinsen. Ich glaube nicht, dass sie bemerkt hat, dass ich sie gesehen habe, aber ganz sicher bin ich mir da nicht. Um ihr noch etwas Zeit zu lassen, gehe ich erst fünf Minuten später zu ihr. Ich klopfe vernehmlich und warte Geduldig auf das 'Herein', ehe ich ihr Zimmer betrete. Sie liegt mit dem Smartphone in der Hand auf dem Bett und sieht sich ein Video an, welches sie aber hastig ausstellt, als ich eintrete. Jetzt macht sie mich aber neugierig! Ich lasse mich von Jocelyns fragenden Blick nicht einschüchtern und frage:"Wie geht es deinen Händen?" Sofort verändert sich ihr Ausdruck in den Augen. Sie wirkt auf mich resigniert und skeptisch gleichzeitig. Oh wow. Typisch Jocelyn. "Alles gut. Schon bald kann man von alle dem überhaupt nichts mehr sehen.", meint sie wage. Unzufrieden mit ihrer Antwort lasse ich mich neben sie auf die Matratze sinken. 

Ich wette, dass sie eigentlich wollte, dass ich aus dem Zimmer verschwinde, wenn sie so abgehackt antwortet. Sie sieht mich missmutig an, als ich ebenfalls meine Beine ausstrecke und mich - für ihren Geschmack viel zu nah bei ihr - an das Bettende anlehne. Sanft greife ich nach ihren Händen und betrachte sie eingehend. Von wegen alles gut! Es sieht eher danach aus, als ob ihr jede Bewegung damit Schmerzen bereitet. "Hast du die Salbe noch einmal draufgetan?", frage ich sie, woraufhin sie nur den Blick senkt. Ich seufze. Es kommt mir so vor, als will sie gar nicht heilen, sondern sich nur immer weiter selbst zerstören. Ich sehe mich im Zimmer um und entdecke die Tube mit meiner Wundersalbe auf dem Nachtschrank auf ihrer Seite. Sie folgt meinem Blick und nimmt sie, ohne dass ich ein Wort sagen muss, in die eine Hand. Vielleicht weiß sie inzwischen, dass sie mich in solchen Sachen niemals loswird. Ich werde erst gehen, wenn ich mir sicher bin, dass es ihr besser geht, als in dem Moment als ich zu ihr gekommen bin. Sie streicht die Salbe dieses Mal selbst auf, aber ich lasse sie dabei keine Sekunde aus den Augen. 

"Bist du jetzt zufrieden?", meint sie missgelaunt, als sie fertig ist, und ich nicke lächelnd. "Und wie!" Ich sehe mich um, als eine peinliche Stille entsteht und als ich die Schulbücher am Ende des Bettes liegen sehe, beuge ich mich erleichtert vor um danach zu greifen. "Bist du vorbereitet auf die Klausur morgen?" Jocelyn zuckt mit den Schultern. "Ich denke schon. Das Meiste kann ich." Herausfordernd grinse ich sie an und schlage dabei das Buch auf. "Na dann kannst du mir bestimmt erklären wie man das Volumen einer Pyramide berechnet, oder?" Ein schwaches Lächeln tritt auf ihr Gesicht und sofort fühle ich mich berauscht davon. "Natürlich kann ich das, Sanchez.", wirft sie mir fröhlich an den Kopf, ehe sie die korrekte Formel aufsagt. Ich frage sie noch ein paar weitere Sachen aus dem Schulbuch, die wir morgen bestimmt wissen müssen und immer, wenn sie eine Frage richtig beantworten kann, lässt sie ein echtes kleines Lächeln sehen und ich fahre fort, um noch eines zu sehen zu bekommen. Ich komme mir vor wie ein Junkie. 

Langsam kommt mir diese Situation surreal und seltsam vor, weswegen ich das Buch weglege und zu Jocelyn hinübersehe, die inzwischen die Augen geschlossen hat und immer noch auf die nächste Frage wartet. Ich mustere ihre Gesichtszüge genau. Die reine Haut und die rosanen Lippen, die noch immer zu einem Lächeln verzogen sind. Ich erkenne eine winzige, harmlose Narbe über ihrer Augenbraue und als ich genauer hinsehe auch eine an ihrem Hals. Die ist allerdings weder winzig noch harmlos. Es sieht beinahe wie ein gerade, aber nicht besonders tiefer Schnitt mit einem Messer aus. Mir kommt in den Sinn, wie sie an ihren Hals gefasst hat, als ich sie im Bademantel gesehen habe. Mit offenem Mund starre ich auf die Linie, die nur ein ganz kleines bisschen heller ist als ihre restliche Haut. Was da wohl passiert ist? Ist es bei einem ihrer Ausflüge mit einer Perücke geschehen? Aber welcher Bastard drückt einem 17-jährigen Mädchen ein Messer an den Hals? 


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