Kapitel 1

(Bild: Jocelyn)


Jocelyn

Ich stecke mir eine letzte Haarnadel ins Haar und betrachte meine Frisur kritisch. Aus einer plötzlichen Laune heraus habe ich mich vor wenigen Minuten für einen Fischgrätenzopf entschieden. Und gegen alle Erwartungen ist er mir erstaunlich gut gelungen. Normalerweise lasse ich meine Haare offen, hauptsächlich als Blickfang, aber auch weil ich es mag, wenn sie mir auf den Schultern liegen und ich sie mir um den Finger drehen kann. Aber heute ist eben ein besonderer Tag. Nach wochenlanger Freizeit, die ich ausgiebig genutzt habe, fängt heute die Schule wieder an. Ich zupfe erst ein paar Strähnen so zurecht, dass der Zopf nicht mehr so streng und ordentlich aussieht, und richte dann meine Schuluniform.

Der mit Abstand nervigste Klingelton, den ich auf meinem Handy finden konnte, lässt mich aufseufzen und meinen besten genervten Blick auf das vibrierende Handy werfen. Jack A. steht mitten auf dem Display. Ich schiebe mein Smartphone mit einem Finger vom Rand der Massivholzplatte, welche die beiden Waschbecken vor mir einfasst, um zu verhindern, dass es gleich auf den Fliesen landet, und warte bis mein Vater aufgibt und auflegt. Auf ein Gespräch mit ihm habe ich gerade so überhaupt keine Lust.

Dass heute der erste Tag meines Abschlussjahres ist, ist schon schlimm genug, da muss ich mir nicht auch noch anhören, wie glücklich er in Europa mit seiner Geliebten ist und was ich hier, in seinem Haus, alles zu erledigen habe. Ich werde dieses lieblose und mich bestimmt zu gutem Benehmen und hervorragenden Noten ermahnende Gespräch, in dem mindestens zehn Mal das Ansehen der Familie vorkommen wird, auf später verschieben.

Jack versucht nicht allzu lange mich ans Telefon zu bekommen, und mir ist das nur recht. Mit einem letzten schrillen Piepsen verstummt mein Smartphone und ich atme erleichtert auf. Das erdrückende Gewicht auf meinen Schultern scheint um einiges erträglicher zu werden.

Doch als ich noch einmal einen prüfenden Blick auf mein Handydisplay werfe, bin ich plötzlich doch froh, dass Jack mich angerufen hat. 07:06 Uhr. Wenn ich pünktlich um halb acht in der Schule sein will, muss ich mich beeilen. Ich verteile noch eine dünne Schicht Puder auf meinem Gesicht, um mein Make-Up abzurunden, dann verlasse ich mein Bad und ziehe in meinem Zimmer, welches links davon liegt, meine neuen Sneakers an.

Eigentlich gehören zu der schwarz-weißen Schuluniform der Monroe-High Lackschuhe, aber die stehen schon seit zwei Jahren unbenutzt in meinem Schrank. Seit ich herausgefunden habe, dass sich kein Lehrer meiner sonst so überkorrekten Privatschule mit meinem Vater anlegt, nur weil ich meine Schuhe gegen viel bequemere und um ein gewaltiges Stück besser aussehender Sneakers getauscht habe. Die Monroe lebt von den Spenden der Eltern, weswegen jeder meiner Mitschüler, der nicht über ein Stipendium dorthin gelangt ist, sondern steinreiche Eltern hat, sich inzwischen in gewisser Weise so kleidet, wie er will.

Solange man einen Rock mit zwei weißen Seitenstreifen oder eine lange, anzugähnliche Hose, eine schlichte, weiße Bluse oder ein Hemd in derselben Farbe, die schwarze Krawatte und einen schwarzen Blazer oder ein Sakko mit den weißen Akzenten und dem Schulwappen trägt, ist für die Reichen unter uns alles in Ordnung.

Ich schnappe mir noch meine nagelneue Schultasche, die ich vor einer Woche in der Einkaufsmall entdeckt habe, und eile dann die breite Treppe aus dunklem Holz und mit hellem Treppenläufer hinunter, die in den Eingangsbereich des großen Hauses führt, das ich die meiste Zeit alleine bewohne. Aus der Küche hole ich mir einen meiner unangefochtenen Lieblingsshakes aus dem Kühlschrank und fülle mir schnell meine Thermoskanne mit Kaffee. Mehr Frühstück gibt es heute wohl nicht.

In die Tiefgarage des Anwesens komme ich über eine Wendeltreppe, die aus Sicht der Haustür hinter der größeren Treppenversion, die in die oberen Stockwerke führt, versteckt ist. Ich setze mich in meinen Lamborghini Aventador, den mir mein Vater am Anfang der Sommerferien geschenkt hat und fahre etwas zu schnell in Richtung Schule. Wenn man schon einen so schnellen Wagen hat, dann muss man ihn doch auch ausnutzen, oder? Ein paar Querstraßen von der Schule entfernt bremse ich allerdings ab, damit keiner meiner Mitschüler auf die Idee kommt, dass ich, als Vorzeigetochter schlechthin und typisches Mädchen-Mädchen bekannt, etwas mit Autos anfangen kann.

Ich parke auf meinem Stammplatz und steige mit meiner Tasche in der Hand elegant aus. Viele Blicke folgen mir, als ich zu meinen Freunden gehe, die immer bei einer alten Weide in einer Ecke des Schulhofes bei den anderen eher beliebteren Personen stehen.

Die Schule ist nach dem amerikanischsten Klischee überhaupt in verschiedene Gruppen eingeteilt. Die Leute, denen ihre Schulbildung wichtiger als alles andere ist – Sie sitzen auf der Treppe vor der Eingangstür und lesen in Büchern.

Die Teenager unter uns, die in ihrer eigenen Welt leben und sich nicht um die Schulhierarchie kümmern, was sie wohl oder übel in die unterste Kaste einteilt - Sie stehen am Rand des Schulhofes oder sitzen auf der niedrigen Mauer zwischen dem angrenzenden Gehweg und dem Schulgelände. Manche von ihnen sind dafür bekannt, dass sie wochenlang vor ihren PC's sitzen und Videospiele zocken, andere haben noch nie in ihrem Leben einen Kamm gesehen und wieder andere verbringen den ganzen Tag damit, sich für Chancengleichheit, die Emanzipation und Homosexuelle einzusetzen.

Ich lächle Jeremy zu, der letztes Jahr mein Laborpartner in Chemie war und von dem ich hoffe, dass er mir dieses Jahr wieder Gesellschaft leistet. Mit ihm würde ich es locker schaffen, mein A zu halten, denn er kann die schwierigsten Sachen supereinfach und kurz erklären und außerdem hat er einen besonderen Humor. Der zwar höchstwahrscheinlich auf seinen regelmäßigen Cannabiskonsum zurückzuführen ist, aber das soll mich nicht weiter stören. Er ist der schulbekannte Dealer, der eine ganze Plantage Zuhause hat und alles Mögliche mit ein paar Reagenzgläsern und einem Bunsenbrenner herstellen kann. Wenn man Spaß haben will, geht man zu Jeremy.

Ich wende mich wieder der Gruppe vor mir zu, die hauptsächlich aus Cheerleadern, und Sportskanonen besteht. Neben diesen beiden Elitegruppen haben sich noch die verschiedensten Leute dem Kreis der Beliebten angeschlossen. Ich kenne viele der Mädchen und Jungs schon aus Kindertagen, weswegen ich einfach schon immer dazugehört habe. Die sogenannten Badboys stehen trotz mangelnder Sportbegeisterung neben den Footballern, aber das von Fernem etwas eigentümliche Bild ist mir so vertraut, dass ich es gar nicht mehr komisch finde, dass die beiden vom Typ so unterschiedlichen Personengruppen nebeneinanderstehen und sich sechs Tage die Woche auch bestens verstehen. Inzwischen finde ich es nur noch ein bisschen lächerlich, dass Jayden, Matt, Aiden und Liam seit einigen Monaten sich selbst als Badboys bezeichnen, aber was soll ich machen?

Gerade will ich meine Freunde begrüßen, als Ava, meine beste Freundin, mich schon stürmisch umarmt und mir "Ich hab dich so vermisst, Joce. Was hast du nur die letzten zwei Wochen getrieben?" ins Ohr flüstert.

"Ich dich auch, Ava." Jetzt haben mich auch die anwesenden Cheerleaderinnen Stella, Clair, Zoe und Rose entdeckt und sie ziehen mich in kurze Umarmungen, weswegen ich Avas Frage vorerst nicht beantworte. Ich muss mir sowieso noch eine Notfallausrede ausdenken. Die Badboys Aiden, Matt, und Liam nicken mir nur cool zu.

Einzig Jayden überwindet sich zu einer richtigen Begrüßung. Es ist zwar nur eine kurze Umarmung, aber als seine älteste Freundin weiß ich, dass das für ihn schon genug Nähe für einen ganzen Tag ist. Es ist auf eine gewisse Weise beruhigend sein eben erst aufgetragenes After-Shave zu riechen. Gleichzeitig wird mir mit einem Mal bewusst, dass ich auch ihn die letzten beiden Wochen überhaupt nicht gesehen habe.

Lars, Ben und die anderen Footballer lächeln mich kurz an, bevor sie ihre Diskussion über die bevorstehende Footballseason fortsetzen. Neben ihnen stehen ein paar Mädchen, die allesamt zwischen Jayden und mir hin und her schauen und mir dann giftige Blicke zuwerfen. Aber die Mühe, eifersüchtig zu sein, müssen sie sich überhaupt nicht machen, denn zwischen Jayden und mir wird niemals etwas laufen. Schon alleine, weil uns unsere Freundschaft viel zu wichtig ist.

Ein paar Minuten bevor es zur ersten Stunde klingelt, machen wir uns entspannt auf den Weg zu unseren Klassenräumen. Zum Spind muss keiner von uns, da die Spindnummern erst noch verteilt werden und wir heute sowieso noch keinen richtigen Unterricht machen und dementsprechend auch keine Schulbücher oder Hefte dabeihaben.

Die von uns, die im gleichen Klassenzimmer Unterricht haben, setzen sich alle in die letzte Reihe, die wie für uns gemacht scheint, es ist sogar noch ein Platz frei, auf den ich und Ava unsere Jacken werfen, die wir uns bei dem warmen Wetter Floridas wirklich hätten sparen können. Vor allem die Jungs wollen ganz hinten sitzen und mir ist das ganz recht, weil so niemand in meinem Rücken sitzt. Ich kann es nicht leiden, wenn ich nicht alles im Blick habe.

Gerade als Jayden sagt, dass er von einem neuen Schüler gehört hat, geht die Klassenzimmertür auf und unser diesjähriger Klassenlehrer Mr Stone kommt mit unserem Rektor herein. Hinter ihnen betritt ein Junge den Raum.

Er ist definitiv Europäer. Ich kann nicht sagen, wie ich darauf komme, es ist mir durch den Kopf geschossen, als ich zum ersten Mal seinen bronzefarbenen Teint und seine schwarzen Locken gesehen habe, und je länger ich den Jungen anschaue, desto sicherer werde ich mir. Der Neue hat einen beeindruckend gut gebauten Körper und eine unglaubliche Lässigkeit und Arroganz gleichermaßen an sich, dass ich einen Moment lang nichts anderes machen kann, als ihn anzustarren.

Doch als mir auffällt, wie offensichtlich ich ihn ansehe, lehne ich mich auf meinem Stuhl zurück und mustere ihn ungerührter und viel unauffälliger. Markante Wangenknochen, trainierte Oberarme und ein Sixpack, das man selbst durch das Shirt sieht, sind für mich keineswegs neu, ich trete bei Streetfights eigentlich nur gegen solche Muskelprotze an. Muskeln – ohne Frage, aber Gehirn - Fehlanzeige.

Die ganze Klasse starrt den Jungen mit der schwarzen Hose, dem weißem Shirt und der dunklen Lederjacke an. Einige Mädchen schmachtend, kichernd oder tuschelnd und die Jungen etwas neidisch oder auch feindselig, wenn ein bestimmtes Mädchen sich von dem Neuen angetan zeigt.

"Das ist Emilio De Luca. Ich hoffe, ihr nehmt ihn gut auf. Eine schöne erste Schulwoche, wünsche ich euch.", mit diesen Worten ist der Rektor auch schon verschwunden. Dieser Emilio hat, während alle ihn angestarrt haben, seinen Blick durch die Reihen gleiten lassen und jeden Schüler kurz gemustert. Vielleicht war es Einbildung, aber ich glaube, dass er mich etwas länger angesehen hat. Als er fertig ist, grinst er leicht. Doch als Mr Stone ihn auffordert, sich vorzustellen, erblasst sein Grinsen schnell wieder.

Schließlich sagt er nach einer kurzen Stille, in der ihn alle anstarren:"Ich werde bei meinem Zweitnamen Dean genannt, Emilio nennt mich nur meine Großmutter. Ich komme aus Neapel, einer ziemlich großen Stadt in Italien, für alle, die noch nie davon gehört haben. Und ich sollte euch wohl vorwarnen, ich hatte nie besonders gute Noten in Englisch, weswegen ich wohl einige Fehler machen werde.", meint er mit einem unbestreitbar süßen südländischen Akzent. Am Anfang war es gewöhnungsbedürftig, ihn zu verstehen, aber grammatische Fehler habe ich auf die Schnelle keine in seiner kleinen Ansprache entdeckt.

Mr Stone nickt zufrieden und zeigt auf den leeren Platz rechts neben mir. Der einzig leere Platz. "Setz dich doch neben Jocelyn", als er mein Gesicht sieht fügt Mr Stone noch diplomatisch "zumindest vorerst" hinzu. Verdammt. Ich habe keinen Nerv für diesen ohne Frage selbstbewussten und viel zu gut aussehenden Neuen. Er wird bestimmt reden wollen. Oder schlimmer: flirten.

Emilio, der Dean genannt werden möchte, schlendert zu dem Platz neben mir und setzt sich, jetzt wieder grinsend. Ihm ist anscheinend auch mein nicht gerade erfreuter Gesichtsausdruck aufgefallen, allerdings sehe ich auch Überraschung in seinen Augen. Er ist es also nicht gewohnt, dass ein Mädchen ihn nicht direkt anschmachtet. Ich hole meinen Block aus meiner Tasche und ignoriere ihn und die Tatsache, dass meine und Ava's Jacken noch immer auf seinem Tisch liegen. Dean sieht wie ein großer Junge aus, er wird sich schon zu helfen wissen.

Zehn Minuten später lehnt Dean sich zu mir herüber, sodass sein warmer Atem meinen Nacken streift. Ich bekomme Gänsehaut, während er mir ins Ohr flüstert:"Kein Hallo für den Neuen?" Ich bemerke, dass Ava mich neidisch ansieht und dann schnell wieder zur Tafel schaut, an welche Stone gerade schreibt, welche Projekte er für dieses Jahr geplant hat.

Ich drehe mich zu Dean um und sehe an seinem Grinsen, dass er meine Gänsehaut bemerkt hat. Was er kann, kann ich auch. Ich lehne mich zu ihm, sodass ich seinem Gesicht immer näher komme und sehe in seinen Augen kurz Verwirrung aufblitzen, doch ich drehe kurz bevor meine Lippen die seinen berühren, meinen Kopf so, dass ich ihm etwas ins Ohr hauchen kann: "Sieht so aus."

Schnell lehne ich mich wieder in meinen Stuhl zurück und streiche meinen Blazer glatt. Lächelnd, weil Dean völlig perplex scheint. Damit hat er nicht gerechnet. Leise höre ich ein durch zusammengebissene Zähne gezischtes "Schade". Immer amüsierter, weil er offensichtlich wütend auf sich selbst ist, konzentriere ich mich wieder auf das, was an der Tafel steht.

__________

Als ich schließlich nach endlos langen Stunden das Schulgebäude verlasse, gehe ich, nachdem ich mich von allen verabschiedet habe, hastig zu meinem Auto und fahre vom Schulhof. Der Nachmittagsunterricht startet erst nächste Woche, da wir heute erst angekreuzt haben, was jeder einzelne gerne als Wahlfach belegen will.

Während ich an einer Ampel auf dem Ocean Drive halte, schaue ich, ob ich Nachrichten auf dem Handy bekommen habe. Und tatsächlich, mein Vater hat mich ganze vier Mal angerufen und mir dann schließlich drauf gesprochen. Ich verbinde mein Handy per Bluetooth mit meinem Wagen, drücke auf Mailbox abhören und richte meinen Blick dann wieder auf die Ampel, die genau in diesem Moment von Rot auf Orange umschaltet.

"Jocelyn, ich wollte dir eigentlich persönlich und vor der Schule sagen, dass ich am Samstag heimkommen und drei Gäste mitbringen werde, aber du hast meinen Anruf nicht angenonommen. Sie werden vorerst bei uns einziehen. Das heißt...", Jack räuspert sich und spricht dann in raschem Ton weiter, "der eine Gast ist schon in Miami und wird... Aber mal ganz von vorne. Ich habe mich verliebt, in eine wundervolle, unglaubliche Frau. Ihr Name ist Grace, vielleicht habe ich sie dir gegenüber schon einmal erwähnt." Nein, hat er nicht, aber es ist ihm nie schwer anzusehen, wenn er mal wieder eine neue Geliebte hat. Meine Gedanken wirbeln umher. Er will mir doch nicht gerade wirklich mitteilen, dass er sein Liebesnest nach Hause verlegen will, oder? Zu mir? "Sie und ihre beiden Kinder werden bei uns einziehen. Ihr Sohn ist schon in Miami, weil er ja zur Schule musste. Er wohnt im Moment im Hotel Delux und ich erwarte, dass du ihm und seiner Schwester jeweils die Gästezimmer neben deinem Zimmer etwas herrichtest und ihn dann im Hotel abholst. Grace wird bei mir im Zimmer schlafen. Ach und die Schuluniformen der beiden werden heute Abend von einem Kurier gebracht, nur damit du's weißt. Ich schicke dir seine Nummer per SMS. Ruf mich an, wenn irgendetwas unklar ist."

Ist das sein Ernst? Er hat sich verliebt? Und sie hat Kinder? Gleich zwei? Ich soll die Zimmer herrichten? Und das noch heute? Ich dachte, er hat eine Geliebte und keine Familie, dort, wo auch immer er immer hinfliegt! Ohne es zu merken bin ich stärker aufs Gaspedal getreten und fahre nun viel zu schnell. Was mir aber im Augenblick vollkommen egal ist.

Es ist schon einmal eine Frau bei uns eingezogen, eine Schauspielerin, mit der nicht mein Vater, sondern ich zurecht kommen musste, weil er ja die ganze Zeit zu seinen superwichtigen Projekten fliegen musste und mich mit der Diva, wie ich sie immer genannt habe, allein gelassen hat.

Wie soll ich mich nachts herausschleichen, wenn Jack und die drei zu Hause sind? Es ist schon schwer genug, an meinem Vater vorbeizukommen. Ich werde meine Komfortzone um ein Vielfaches eingrenzen und nun auch Zuhause die brave Tochter mimen müssen. Die schönen Dinge im Leben kann ich dann wohl vergessen, die, die man nur tun kann, wenn man alleine zu Hause ist. Irgendwo im Haus einfach zu tanzen anfangen, Musik bis zum Anschlag hören, Übernachtungspartys mit meinen Freunden und in Folge dessen den ganzen Tag verschlafen. Nein, in Zukunft heißt es stets freundlich, zuvorkommend und perfekt zu sein.

Ich bin Zuhause angekommen, parke in der Garage und steige aus meinem Auto. In der Küche nehme ich mir einen Apfel aus der Obstschale und setze mich auf einen der Barhocker an der Küchentheke, mein Smartphone in der Hand. Ich öffne die SMS meines Vaters, worin nur eine Handynummer steht. Kein Smiley, kein verdammtes Wort. Aber das ist auch besser so.

Mit ein paar Klicks speichere ich sie unter dem Namen Idiot ein, da mir aufgefallen ist, dass ich nicht mal seinen Namen weiß. Jack weiß vielleicht, dass mich, wenn ich ihn wüsste, im Internet erkundigt hätte und mir somit einen vorschnellen Eindruck von ihm machen würde. Wobei, wenn ich so darüber nachdenke, dann kennt mich Jack nicht so gut, als dass er sich solche Gedankengänge zusammenreimen könnte.

Um mich von meiner Wut auf Jack abzulenken, schreibe ich dem Idiot eine Nachricht:

Sei um 18:00 Uhr vor dem Hotel. Ich hol dich ab. PS: Ich bin die Tochter von Jack

Dann stehe ich auf und mache mich, nachdem ich mich aus der Schuluniform gequält und in eine gemütliche Jogginghose bequemt habe, daran, die beiden Zimmer auf Vordermann zu bringen. Bis jetzt sind die vielen Gästezimmer in unserem Haus nur sehr, sehr selten benutzt worden, und das sieht man der verstaubten Möblierung auch an.

Wenn eine meiner Freundinnen bei mir übernachtet, schlafen wir meistens beim Filmeschauen in meinem Bett ein, was kein Problem ist, denn mein Bett ist fast schon groß genug für drei Menschen. Und bei den kleinen Hauspartys, bei denen nur meine Clique aus der Schule kommt, schlafen wir alle im Poolhaus. Nicht selten schläft da auch mal einer im Gras, aber das ist eine andere Geschichte.

Die Räume direkt neben meinem sind die beiden größten Gästezimmer und daher ungefähr so groß wie meiner. Beide sind in unterschiedlichen farblichen Stilen eingerichtet, eines ist mit Möbeln aus hellem Holz und das andere mit weißen ausgestattet. Sie haben jeweils ein großes Bett und einen begehbaren Schrank mit unzähligen Fächern und Schubladen. Ein tiefer Seufzer entfährt mir, als ich sehe, wie viel Arbeit vor mir liegt. Auf der gesamten Einrichtung liegt Staub, genauso wie auf den Holzböden. Die Betten brauchen neu beziehen und den Fenstern würde eine Reinigung auch ganz gut stehen.

Ich fange damit an, mit dem Staubsauger die großen Staubwolken auf und unter den Möbeln einzusaugen, sowohl im ersten, als auch im zweiten Zimmer. Dann mache ich mich daran jede Oberfläche mit einem Lappen abzuwischen und beziehe die Betten neu. Dann sauge ich noch den kompletten Boden und putze zum Schluss die insgesamt vier großen Fenster.

Während ich sauber mache, schwöre ich mir selbst, niemals jemanden hiervon zu erzählen, genauso wenig wie ich jemals erzählen werde, dass wir zwar eine Haushälterin haben, die aber - auf Anweisung meines Vaters - alles putzt außer mein Zimmer und mein Bad. Um meine Selbstständigkeit zu unterstützen, wie Jack so gerne sagt. 

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Als ich endlich fertig bin, ist es schon 17:30 Uhr. Ich bin total verschwitzt, doch habe keine Zeit mehr, um zu Duschen, denn allein die Fahrt zum Hotel dauert mindestens zehn Minuten, eher länger. Ich wasche mich schnell am Waschbecken und wechsle meine verstaubte Kleidung. Die kurze Katzenwäsche ist mir ganz recht, denn um 19:00 Uhr treffe ich mich mit Phil, meinem Personal-Trainer, im Fitnessstudio, damit wir ein bisschen trainieren können. Und vor dem Sport zu duschen ist einfach nur unnötig und eine Verschwendung von Wasser und Zeit.

Ich will mein Badezimmer gerade wieder verlassen und mich auf den Weg zu meinem Auto machen, als mir einfällt, dass dieses Bad genau gegenüber von den beiden Zimmern ist, welche ich gerade aufgeräumt habe. Oh nein, das ist jetzt nicht wahr! Das ist mein Bad!

"Nein, nein, nein!" Ich trete gegen die Wand - was allerdings nur zur Folge hat, dass mein großer Zeh schmerzt. Während ich auf einem Bein hüpfe, kommt mir die Perücke in den Sinn, welche in einem der Spiegelschränke im Bad verstaut ist. Hastig mache ich kehrt und räume alles, was meine Geheimnisse verraten könnte, in meinen Kleiderschrank. Dann räume ich noch mit ein paar Handgriffen das Badezimmer auf und beeile mich schließlich zu dem Hotel zu kommen, in dem mein ach so geliebter neuer Mitbewohner auf mich wartet.

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(Bildquelle: https://www.ikoo-brush.com/wp-content/uploads/2017/09/Fischgrätenzopf-mit-Twist-564x675.jpg)


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