Kapitel 4
Lysander Scamander P. o. V.
Genervt spuckte ich auf den Boden. Lorcan warf mir einen verletzten Blick zu. "Aber jetzt hör doch mal zu, wollen wir nicht mal wieder-", begann er von vorne. "Hast du es nicht kapiert?", fuhr ich meinen Zwillingsbruder wütend an. "Ich habe keinen Bock darauf! Und jetzt verzieh' dich, bevor uns noch jemand zusammen sieht!" Nach einem kurzen Moment des Zögerns ging Lorcan ein paar Schritte rückwärts, die blauen Augen weiter unverwandt auf mich gerichtet: "Schon verstanden. Bist und bleibst halt ein Arschloch." Mit diesen Worten verschwand er und ließ mich alleine in der Dämmerung zurück. Ich schluckte schwer und zündete mir dann eine Zigarette an. Einige tiefe Züge später fühlte ich mich schon wieder viel besser. Ich schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und blies den Rauch in die Nacht. Im Anschluss trat ich die glühende Zigarette auf dem Boden aus. Mit den Händen in den Taschen guckte ich auf den Schwarzen See und dachte über das Gespräch nach. Lorcan hatte unsere "Beziehung verbessern" wollen, wie er es immer so schön formulierte und einen weiteren verzweifelten Versuch gestartet, mich zu einem gemeinsamen Ausflug zu überreden. Mein Lachen klang verbittert und viel zu laut in der Stille, schließlich endete es in einem Hustenanfall. Ich brauchte meinen ätzenden Streberbruder ganz sicher nicht. Es war nicht meine Schuld, dass er seine Zeit lieber mit irgendwelchen imaginären Geschöpfen verbrachte, anstatt sich ordentliche Freunde zu suchen. Ich jedenfalls wollte meine nicht verlieren, und das Risiko ging ich definitiv ein, wenn ich mich mit Lorcan abgab. Das Leben war halt nicht immer fair, aber das musste mir bestimmt keiner sagen. Mein Bruder wurde doch seit Jahren von meinen Eltern bevorzugt, nur weil er sich für ihre Arbeit als Forscher interessierte. Tut mir ja wirklich unglaublich Leid, dass ich nichts für Nargel und Schrumpfhörnige Schnarchkackler übrig hatte! Ich schnaubte verächtlich. Da verzichtete ich besser auf die Liebe meiner Familie, als mich so geistig gestört zu verhalten! Wütend lehnte ich mich an einen Baumstamm. Mum und Dad waren sowieso die meiste Zeit auf Berufsreise, um in irgendwelchen fremden Ländern neue bescheuerte Arten zu entdecken. Und wenn sie mal zu Hause waren, dann diskutierten sie mit Lorcan ganz angeregt über ihre blöde Wissenschaft. Ganz ehrlich? So einen Scheiß musste ich mir nicht geben. Ich schloss schwer atmend die Augen, als die Tränen zu brennen begannen. Verzweifelt haute ich meinen Knöchel immer wieder gegen das Holz, bis meine Hand schließlich zu bluten begann. Fuck. Ich saugte die rote Flüssigkeit etwas auf, es schmeckte nach Metall. Angeekelt schnalzte ich mit der Zunge. Eigentlich war ich doch gar nicht so jämmerlich wie jetzt! Aber ab und zu, da hatte ich einen meiner schwachen Momente und dann war ich immer verdammt froh, dass mich niemand sehen konnte. In Augenblicken wie jetzt hinterfragte ich meine gesamte Persönlichkeit und mich plagten Dinge, um die ich mich sonst nie scherte. Voller Unmut stellte ich fest, wie viel Schlechtes in meinem Herzen fest verankert war. Es schnürte mir die Kehle zu, zu wissen, dass mich niemand wirklich liebte. Niemanden zu haben, der mir Sicherheit gab. Nur zu wissen, dass da nichts Gutes mehr in mir war. Ich war doch der coole Typ, der sich von niemandem erwas vorschreiben ließ und verdammt toll Quidditch spielen konnte. Ach ja? Ich presste die Hände gegen die Stirn und versuchte verzweifelt, mich zu beruhigen. Wenn meine Freunde mich jetzt sehen könnten, wären sie da sicher anderer Meinung. Wer war ich eigentlich? Gab es irgendjemanden auf dieser Welt, der mich wirklich kannte und mochte? Die Antwort lautete nein. Die Freundschaft zu meinen sogenannten Freunden erschien mir in diesem Augenblick noch lächerlicher als sonst und ich schniefte zu meiner eigenen Überraschung wie ein kleines Kind laut auf. Für Lorcans alberne Geschöpfe hatten Mum und Dad alle Zeit der Welt und stets ein offenes Ohr. Mir hätte es ehrlich gesagt vollkommen ausgereicht, wenn mein Vater ein einziges Mal mit mir zu einem Quidditchspiel gekommen wäre. Ich wäre schon zufrieden gewesen, wenn sie ein kleines bisschen Interesse an meiner großen Leidenschaft, nämlich Quidditch, gezeigt hätten. Aber nein. Da hatte ich immer nur verständnislose Blicke geernet. Weil ich ja der Unnormale in unserer Familie war, und nicht Lorcan! Übellaunig lachte ich auf und nahm mir schnell eine weitere Zigarette, bevor die Wut und der Hass meine Gedanken wieder zu sehr kontrollierten. Voller Genugtuung dachte ich daran, dass es hier in Hogwarts anders war, hier war ich beliebt und Lorcan wurde schräg angesehen. So etwas wie Scham empfand ich angesichts meiner abscheulichen Gedanken schon gar nicht mehr, dafür war der Groll viel zu viele Jahre lang genährt worden, sodass er sich nun nicht mehr unterdrücken ließ. Hogwarts war mein wirkliches zu Hause. Meine Familie konnte mir da doch echt total egal sein. War sie aber nicht. Verdammt, ich kam immer noch nicht mit dieser Zurückweisung zurecht! Erneut fing ich an zu weinen. Kurz bevor Lorcan vorhin zu mir gestoßen war, hatte ich noch heimlich die ganze Weasleyfamilie beobachtet, wie sie alle gemeinsam am Ufer gesessen und entspannt den Nachmittag verbracht hatten. Neid stieg in mir hoch und ich dachte verdrossen an ihre glücklichen Gesichter. Auch wenn ich Fred Weasley und James Sirius Potter nicht leiden konnte, war ich der Meinung, dass sie sich verdammt glücklich schätzen konnten. Es lag ja nicht nur am Quidditch, ich wusste auch, dass meine Eltern ihre Eltern mochten. Das wiederum veranlasste mich dazu, sie und ihre ganze Familie unsympathisch zu finden. Außerdem dachten Weasley und Potter wohl, sie seien besonders cool und lustig, doch ihre Sprüche und Streiche trieben mich noch zur Weißglut! In diesem Augenblick knackte es hinter mir im Gebüsch laut, sodass ich alarmbereit herumfuhr. Mit einer hektischen Bewegung wischte ich die letzten Tränenspuren fort und hielt meinen Zauberstab verteidigungsbereit. Kurz geschah nichts, dann stolperte auf einmal eine Gestalt auf mich zu und riss mich um. Ich war so überrumpelt, dass ich sogar vergaß, wütend zu sein und einfach nur unter ihm oder ihr liegen blieb. Mir schlug ein warmer Atem entgegen und ich hatte auf einmal einen angenehmen Duft in der Nase. Es roch irgendwie zimtig und ohne es zu beabsichtigen sog ich es gierig in mir auf. Eine Rasterlocke kitzelte mich am Kinn und zwei starke, muskulöse Arme waren neben meinem Kopf aufgestützt. Ich hob den Blick und schaute geradewegs in ein dunkelbraunes Augenpaar. Im nächsten Moment realisierte ich, dass Fred Weasley auf mir lag. "Runter von mir!", zischte ich wütend und stieß ihn von weg. Er sah betreten aus und klopfte sich beim Aufstehen eilig den Dreck von der Hose. "Was sollte das denn, du Penner?", wollte ich abweisend wissen. Ich war sauer auf mich selber, weil ich zugeben musste, dass mir dieser Moment eben gefallen hatte. Hatte ich zu viel geraucht oder wie? "Komm mal runter!", meinte Fred erstaunt und hob beruhigend die Hand. Zu meiner Verwunderung funktionierte es und ich entspannte mich. "Also, was hattest du eben für ein Problem?", fragte ich Fred jetzt schon etwas ruhiger, während ich mich zum Schwarzen See drehte. Ich wollte nicht, dass er mein Zittern bemerkte. Sein zimtiger Geruch wehte zu mir herüber und der Gedanke an seine schokoladigen Augen ließ meine Knie weich werden. Verdammt, was bei Merlins Bart war in mich gefahren? Am liebsten hätte ich eine geraucht, so wie ich es vor meinen Freunden auch stets tat, aber vor Fred traute ich mich komischerweise nicht. "Ich . . . äh . . . tut mir Leid, es lag ja gar nicht in meiner Absicht, ich zu erschrecken . . .", entschuldigte er sich holprig und ließ seine Hand mehrmals durch das lockige, braune Haar fahren. Irgendwie wirkte er ziemlich verwirrt und durcheinander. Gerne hätte ich ihn weiter angeschrien, aber der Schock saß mir noch zu sehr in den Gliedern und ich konnte ihm gerade aus einem mir unbekannten Grund nicht böse sein. Eine Weile standen wir einfach so da am Ufer und lauschten den Wellen, die sachte vor unsere Füße schwappten. Mit verschränkten Armen wartete ich ab, während sich in meinem Inneren ein wilder Konflikt abspielte. Ich war nicht schwul. Nein, verdammt, war ich nicht! Ich hatte zum Beispiel in der fünften Klasse etwas mit einer mega scharfen Siebtklässlerin gehabt. Bei der Erinnerung an Chloe schlich sich ein gequältes Grinsen auf mein Gesicht. Oh Gott, wir hatten es wirklich überall getrieben. Aber was war, wenn ich auch auf Männer stand? Und weil es ja noch nicht genug ungeklärte Punkte über meine Persönlichkeit gab, die ich mir täglich von neuem stellte, gesellte sich jetzt noch die Frage nach meiner Sexualität hinzu. Wahnsinnig toll. Da hatte ich ja ein echtes Glückslos gezogen. Urplötzlich und ohne Vorwarnung platzte es aus Fred heraus: "Hör mal, sorry, aber ich hab vorhin aus Versehen mit bekommen, wie du so fertig warst. Wenn du mal jemanden zum Reden brauchst . . . also . . . du verstehst schon . . ." Er sprach sehr schnell und ohne mich direkt anzusehen. Das war wahrscheinlich auch besser so, weil ich die folgenden Worte bestimmt nicht hätte aussprechen können, wenn ich dabei in seine dunkelbraunen Augen geschaut hätte: "Ja? Dann darf ich mich bei dir Looser ausweinen? Ist ja echt großzügig von dir . . ." Spöttisch und betont kühl blickte ich Fred an, doch in mir drin brodelte die Wut. Wie hatte ich nur so unfassbar dumm sein und annehmen können, zwischen uns hätte es gefunkt? Nee. Der nette Sohn aus der perfekten Vorzeigefamilie wollte dem armen schwarzen Schaf mit den beknackten Eltern helfen. Na, vielen Dank auch. Darauf konnte ich gut und gerne verzichten. Noch viel schlimmer war aber die Tatsache, dass er mich hatte weinen gehört. Fred Weasley hatte mich in einem meiner schwachen Momente erwischt und es würde mich nicht wundern, wenn er und seine Kumpels mich so blamieren würden. Deshalb trat ich provozierend auf ihn zu und meinte: "Wehe, du erzählt jemandem etwas davon!" Der Gryffindor sah aus, als würde er sich mächtig über sich selbst ärgern. "Gut, vergiss es, du Idiot! Mich kümmert es sowieso nicht, ich wollte nur helfen. Aber um das zu begreifen reicht dein IQ wohl nicht mehr aus, hm? Wir sehen uns auf dem Quidditchfeld!", knurrte er. Es klang wie eine Drohung. Mit versteinerter Miene sah ich ihm nach, wie er wütend den Hang zum Schloss hochstapfte. Ich atmete aus. Nun, wo er nicht mehr da war, kam mir der Gedanke, ich könnte ihn attraktiv finden unglaublich lächerlich vor und mir entfuhr ein verdruckstes Kichern über mich selbst. Doch jetzt ging es mir dank diesem Weasley noch beschissener als vorher. Erschöpft kniete ich mich hin und verbarg den Kopf in den Händen.
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