Kapitel 27
Albus Severus Potter P. o. V.
Ein ganz komisches Gefühl beschlich mich, als ich dabei zu sah, wie Elinor sich genüsslich eine Weintraube in den Mund schob. Mein Blick blieb wie hypnotisiert an ihren schmalen, rosafarbenen Lippen hängen. Wie jede Pause saßen wir auf "unserer" Bank in der Eingangshalle und redeten.
Mit Elinor zu reden war für mich das schönste überhaupt. Auch wenn wir uns erst seit wenigen Wochen kannten, so hatte ich schon jetzt das Gefühl, die junge Ravenclaw bereits ewig zu kennen.
Wenn sie etwas sagte, hörte ich wirklich zu, weil ihre Worte so klug und ihre Sätze so durchdacht waren. Ihre Gedanken spiegelten den Kern meiner Seele wieder, und wenn wir uns doch einmal uneinig bei einer Sache waren, empfand ich unsere lebhaften Diskussionen als angenehm und lehrreich.
Elinor Black war der erste Mensch auf dieser Welt, der mich verstand.
Doch seit ich sie kannte, verstand ich mir selbst nicht mehr so ganz.
Wenn sie den Klassenraum betrat und den freien Platz neben mir ansteuerte, breitete sich ein freudig-nervöses Kribbeln in meiner Magengegend aus.
Wenn sie mich anlächelte, schien das Herz in meiner Brust zu explodieren.
Wenn ihre Hand zufällig meine streifte, mochte ich auf einmal das Gefühl menschlicher Haut.
Wenn sie sich zu nah zu mir beugte und ihr Parfum zu mir rüber wehte, wollte ich den Geruch am liebsten inhalieren.
Wenn sie beim Frühstück in der Großen Halle über einen Witz von Simon Boot lachte, kochte die Wut in mir hoch und mich überkam das Verlangen, mich dazwischen setzen zu müssen. Ich wollte Simon dann liebend gerne schlagen, und ich kannte nicht einmal den Grund dafür. Ich hatte bisher nie ein Wort mit dem stämmigen Sechstklässler aus Ravenclaw gewechselt.
Wenn sie sich mit konzentriertem Blick das schwarze, lockige Haar aus dem Gesicht strich, stieg ein ganz merkwürdiges Gefühl in mir auf. Ich hatte dann das Bedürfnis, ganz wild zu lauter Musik zu tanzen und zu springen und herumzuwirbeln. Und ich spürte dann etwas in mir, eine Art inneren Frieden. Ich war glücklich, wenn ich mit Elinor zusammen war.
Sie tat mir gut.
Ich fand es wunderbar, dass wir befreundet waren und wollte am liebsten so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen. Das verwunderte mich ziemlich, da Rose doch eigentlich meine beste Freundin war, schon seit Ewigkeiten. Elinor kannte ich erst einen Bruchteil der Zeit, die ich mit Rose verbracht hatte. Und trotzdem wollte ich nur bei Elinor sein, tatsächlich hatte ich in den letzten Tagen eher wenig mit meiner Lieblingscousine gesprochen.
Obwohl. Wenn ich ganz genau darüber nachdachte und meine Emotionen analysierte, dann fiel mir auf, dass das mit Elinor doch noch etwas anders war als mit Rose.
Dass ich etwas von der Rolle war, blieb auch Elinor nicht verborgen. Wie auch? Dieses Mädchen war der aufmerksamste Mensch, den ich kannte. "Alles klar, Albus?", fragte sie und nahm sich eine weitere Weintraube.
"Mir geht es fabelhaft", krächzte ich mit heiserer Stimme und musste mich erst einmal kräftig räuspern. Mir geht es fabelhaft? Wo war denn bitte meine Schlagfertigkeit geblieben? Meine trockene Ironie? Mein beißender Sarkasmus?
Alles weg, wenn Elinor mich mit diesem einen Lächeln ansah.
"Gut", erwiderte sie nur und lehnte sich lächelnd zurück. Nun konnte ich sie von meiner jetzigen Platz aus prima betrachten. Sie hatte sehr markante Wangenknochen und eine lange Nase mit einem kleinen Huckel. Ihre Augenbrauen waren rabenschwarz und sehr buschig. Ihre Schwester Penny wäre - wenn Elinor es denn zugelassen hätte - schon längst mit der Pinzette ran gegangen, doch ich fand es so viel schöner. Ihr schwarzes, lockiges Haar kringelte sich besonders an den Spitzen, wo es eine helle Färbung bekam.
Verglichen mit den Mädchen, die ich sonst kannte, war Elinor die Schönste. Sie hatte etwas Natürliches, Unverfälschliches an sich.
"Was guckst du denn so?", erkundigte sie sich neugierig. Ein Funkeln lag in ihren grünen Augen, als sie - ohne eine Antwort abzuwarten - aufsprang und ihre braune Ledertasche schulterte.
Ich machte meinen Mund auf und schloss ihn sogleich wieder. Eigentlich dachte ich vorher darüber nach, was ich sagen wollte, doch Elinor nahm mir schlichtweg die Gabe, meine Gedanken zu ordnen.
"Ich muss los", meinte sie und rollte genervt mit den Augen. "Penny braucht ganz dringend Nachhilfe in Zaubertränke!" Dieses mal versuchte ich gar nicht erst, etwas Geistreiches von mir zu geben und zog nur die Augenbrauen hoch. Elinor lachte trotzdem: "Jaah, ich weiß! Genau genommen bräuchte sie in jedem Fach Nachhilfe, aber so viel Zeit habe ich leider nicht. Wir sehen uns später!" Sie winkte zum Abschied.
In meinem Kopf ratterte es. Ich wollte so sehr eine witzige Bemerkung machen oder Penny imitieren (Elinor schmiss sich immer weg vor Lachen, wenn ich das tat), oder ihr vielleicht mit einem Kompliment schmeicheln, doch alles, was ich herausbekam, war: "Hoffentlich!"
Glücklicherweise hörte sie das schon nicht mehr, doch trotzdem überkam ich ganz plötzlich das Verlangen, meinen Kopf gegen die Wand zu schlagen. Da dass jedoch unter Selbstverletzung fiel und ich ja kein willensloser Hauself war und auch nicht zu Madam Pomfrey wollte, vergrub ich lediglich den Kopf in meinen Händen.
Lange konnte ich allerdings nicht so verweilen, da auf einmal eine große Bärenpranke auf meinen Rücken herunterraste und ich fast von der Bank fiel.
Ach, nein, falsch. Es war keine Bärenpranke, sondern nur die abnormal riesigen Hände meines Bruders James Sirius. Vom IQ her machte das aber keinen Unterschied. Obwohl, doch. Der Bär hätte im Gegensatz zu ihm nicht so dämliches Zeug gelabert.
"Na, du Frauenheld!", feixte er und schwang sich locker über die Bank. Zu meinem Verdruss ließ er sich tatsächlich neben mich fallen und hatte offenbar vor, sich hier häuslich einzurichten.
"Was willst du?", fragte ich müde, ohne auf seine Bemerkung einzugehen.
"Mit dir reden, natürlich, was könnte es Schöneres geben?", spottete er und fuhr sich arrogant durch die Haare. "Kein Interesse", gab ich pampig zurück und machte Anstalten, aufzustehen, allerdings hielt James mich zurück. "Lass mich los", zischte ich und versuchte, seine Finger von meinem Umhang zu lösen, doch er hielt ganz gelassen fest.
Zugegeben, für die anderen muss es wohl lustig ausgesehen zu haben, wie ich wild rudernd versuchte, mich von ihm zu befreien.
Irgendwann gab ich es auf und setzte mich peinlich berührt unter den Lachern einiger vorbeigehender Sechstklässler wieder hin. Und was war mein einziger Gedanke? Genau: Merlin sei Dank hat Elinor das nicht gesehen!
"Was läuft denn bei dir und der kleinen Ravenclaw?", fragte mein großer Bruder schelmisch nach. Irritiert blickte ich auf, tat so, als ob ich nicht wüsste, von wem er da sprach. James klatschte in die Hände - meinen Umhang ließ er immer noch nicht los - und warf mir einen kumpelhaften Seitenblick zu.
Ich betete währenddessen zu Merlin oder Gott oder wem auch immer, dass das hier keins dieser klischeehaften Männergespräche werden würde. Bitte, bitte nicht.
"Ganz ehrlich, ich muss gestehen: Persönlich finde ich ihre Schwester, diese Penny, viel heißer, aber das musst du wissen!", lachte er, zwinkerte dämlich und schlug mir erneut kumpelhaft auf den Rücken.
Wieso wurden meine Gebete denn NIE erhört? Tja, vielleicht hatten Merlin und Gott heute beide einen schlechten Tag, aber trotzdem: So schlimm war ich jetzt auch nicht, dass man mir so etwas antun musste. Eine echte Zumutung!
Ohne irgendeine Erwiderung meinerseits abzuwarten, fuhr er mit seinem sinnfreien Gelaber fort: "Also, ich habe ja immer geglaubt, dass du schwul bist oder so. Oder asexuell, kein Plan! Aber wie du die Kleine eben angesehen hast . . . Mensch, Albus!"
So langsam stieg in mir der Gedanke auf, dass James doch ganz gut zu Penny passen würde. Zumindest nach dem Niveau und der Intellektualität seiner Worte zu urteilen . . .
Ich schwieg weiter beharrlich, bis James irgendwann meinte: "Wem willst du hier eigentlich etwas vormachen? Dass du sie magst habe ich längst gemerkt, das merkt jeder, so wie du sie wie ein hechelnder Hund anstarrst!"
"Und?", zischte ich. Nun hatte mein Schweigen doch gebrochen. "Du bist gekommen, um dich über mich lustig zu machen. Schön. Das ist nun erledigt, ich gratuliere. Kannst du jetzt bitte so großzügig sein und mich nicht weiter mit deiner Anwesenheit beglücken?" Verdammt. Ich hatte doch cool bleiben wollen, hatte mich dieses eine Mal nicht von ihm provozieren lassen wollen.
Für eine Sekunde sah James mich betroffen an, dann senkte er den Blick und ließ mich los. Das wäre der perfekte Moment gewesen, um mich aus dem Staub zu machen, doch irgendetwas hielt mich davon ab. Zögernd blieb ich auf der Bank sitzen, meine Finger spielten nervös mit dem Saum meines Umhangs, den James bis vor einer Sekunde noch festgehalten hatte.
Eine Weile sagte niemand etwas. "Warum wolltest du wirklich mit mir reden?", wollte ich schließlich wissen. James sträubte sich sichtlich, mir zu antworten, bis er schließlich hochguckte. In seinen braunen Augen war kein arroganter, selbstverliebter Blick. Da war etwas anderes, etwas neues.
Etwas wie . . . Traurigkeit?
Konnte James Sirius Potter traurig sein? Hatte er überhaupt so etwas wie ein Herz? Bisher hatte ich immer angenommen, dass da einfach ein schwarzes Loch war. Oder ein Stein. Ein grauer, stumpfer Stein.
Allerdings habe ich auch die Theorie, dass James kein Hirn hatte und stattdessen mit seinem Penis dachte, von daher war vermutlich an meiner Glaubwürdigkeit zu zweifeln.
"Ich will mich mit dir gut stellen, Albus", erwiderte er in einem ruhigen Ton, doch seine Finger zitterten wild.
Verwundert sah ich hoch, wagte nicht, ein einziges Wort zusagen. Erst als er weitersprach merkte ich, dass ich die ganze Zeit der Stille über den Atem angehalten hatte.
"Wieso hassen wir uns denn so sehr?", fragte er mit schwerer Stimme.
Ich nehme an, dass in uns allen so viel mehr Vielfalt steckt, als der Großteil der Leute sieht. Da war nicht nur ein James, da waren unheimlich viele, verschiedene James . . . Da war auch nicht nur ein Albus, nein, auch wenn das jetzt verdammt schizophren klang.
Der James, der da zu mir sprach, war nicht der normale James, der jeden Tag aufs Neue arrogant durch die Gänge von Hogwarts lief und mit tausend Mädchen schlief und niemanden an sich heranließ.
Genauso wenig war es der zurückhaltende, sarkastische Albus, der ihm mit bebender Stimme antwortete: "Ich hasse dich doch gar nicht."
Ich sagte die Worte ganz leise, so wie man ein Geheimnis oder etwas Verbotenes aussprechen würde.
Wir lächelten uns beide an, voller Scheu und Angst, verletzt zu werden.
Irgendwann fragte James fast schüchtern: "Darf ich dir ein paar Tipps für die Sache mit Elinor geben?" Ich hatte die ganze Zeit gewusst, dass er ihren Namen kannte, mit Absicht hatte er sie konsequent "die Kleine" gennant. Bis jetzt. Er öffnete sich mir, gab einen kleinen Teil seiner Selbstschutzmauer auf und einen großen Teil seines Herzens preis.
Jetzt war es an mir, meine eigenen Mauern einzureißen und mich meinem großen Bruder zu offenbaren.
Dass er sich hinter meinem Rücken über sie informiert hatte, dass er sich mit dem Umfeld seines kleinen Bruders beschäftigte und so vorbeugen wollte, dass ich mich mit den falschen Leuten abgab, sagte doch schon einiges aus.
Ich hatte eine neue Theorie, eine ohne schwarze Löcher, stumpfe Steine und dauergeile Penisse: In mir wuchs die Überzeugung, dass mein großer Bruder mich eigentlich lieb hatte und mir es nur nicht zeigen konnte.
"Okay", krächzte ich und schluckte schwer.
"Gut", gab James nur zurück. "Denn, mal ehrlich: Du bist zwar echt schlau und so, aber von Mädchen hast du echt keine Ahnung."
Die tollpatschige Art, wie er es sagte, brachte mich zum Lachen. Außerdem hatte er Recht damit, leider. Hinzu kam, dass Elinor verdammt schwer zu durchschauen war. Aber das war vermutlich auch genau der Grund, warum ich sie so sehr mochte.
"Dann leg mal los mit deiner Lektion in Sachen Mädchen", forderte ich meinen großen Bruder auf und lehnte mich grinsend zurück.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top