Kapitel 25
Molly P. o. V.
Lucys Schluchzer ebbten nach und nach ab, bis sie schließlich ganz verstummten. Ich ließ meine Hand auf ihrem blonden Wuschelkopf ruhen, so wie früher, wenn wir vor dem Fernseher eingeschlafen waren. Dad war immer ganz aus dem Häuschen gewesen von dem Muggelgerät, das Mum in unseren Haushalt gebracht hatte.
Früher oder später war Lucy immer in meinem Arm eingeschlafen, dann hatte Dad sie nach oben getragen. Heimlich, wenn ich auch schon längst hätte schlafen sollen, war ich in Lucys Zimmer geschlichen und hatte mich zu ihr ins Bett gelegt. Es war ein schönes Gefühl gewesen, wenn man nur ihren gleichmäßigen Atem hören konnte und ich auf sie aufgepasst hatte, ich hatte gefühlt die ganze Nacht über meine kleine Schwester gewacht.
Dieses Gefühl der Geborgenheit, der geschwisterlichen Vertrautheit, es war über die Jahre verloren gegangen, doch jetzt - jetzt war es wieder da.
Die Andeutung eines Lächelns schlich sich auf mein Gesicht.
Ich weiß nicht genau, was es war, was mich dazu verleitet hat mich neben Lucy zu setzen. Als ich sie auf der Treppe hatten hocken sehen - weinend, verzweifelt, in sich zusammen gesunken - hatte sich etwas in mir losgelöst. Eine Art schwesterlicher Beschützerinstinkt.
Die jahrelange Last der Verbitterung und des Zorns war von mir abgefallen, ich wollte nicht länger sauer auf sie sein, wollte nicht länger im Streit mit ihr stehen.
Das führte doch zu nichts.
Was ich wollte, war Frieden.
Lucy hob den Kopf, ihre grünen Augen waren ganz rot vom weinen. Ich drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Ich fragte nicht, was passiert war. Sie würde es mir von alleine erzählen, wenn sie bereit dazu war.
Ich drückte sie ganz fest, mein Kinn auf ihren Kopf gestützt.
Meine kleine Schwester wartete, bis alle Schüler in der Großen Halle verschwunden waren. Dann richtete sie sich langsam auf. Ich hielt ihre zitternden Hände in meinen, strich ihr beruhigend über die eiskalten Finger. Ihre Knie berührten meine, ihre löchrige, schwarze Hose bildete einen so großen Unterschied zu meiner hellblauen, vorbildlich gebügelten Hose.
Beide so verschieden, wie aus anderen Welten.
Und trotzdem beides Hosen.
"Ich bin lesbisch." Lucys Lippen bebten, als sie die drei Worte aussprach. Ehe ich etwas dazu sagen konnte, fuhr sie fort: "Aber das ist nicht das Problem. Ich mag Alice. Wirklich, ich mag sie sehr. Zu sehr, um wahr zu sein, sie ist so viel mehr als nur eine beste Freundin für mich."
Erst kam dieses Geständnis stockend, aber mit jedem Wort schien ihr das Sprechen leichter zu fallen.
Ich war, ehrlich gesagt, kaum überrascht, dass Lucy auf Frauen stand. Wenn ich ganz tief in mich ging, dann hatte ich es doch schon immer gewusst. Nicht wirklich, eher so unterbewusst. Meine kleine Schwester war eben schon immer besonders gewesen, schon immer etwas anders als der Rest. Als große Schwester merkt man so etwas.
Ich spürte, dass das noch nicht alles war, deshalb schwieg ich und drückte Lucys Hand nur noch fester.
"Aber Alice", schniefte sie, "steht nicht auf mich. Nein." Sie feixte verbittert. Man könnte meinen, sie war einfach nur zornig. Aber was mir noch viel deutlicher ins Gesicht sprang, war ihre Trauer. Ich sah, dass Lucy schwer verletzt war und es mit ihrer Mimik überspielen wollte, doch eine Träne löste sich trotzdem aus ihrem Augenwinkel.
Ich hätte sie gerne weggewischt, doch ich wollte Lucy nicht beim reden unterbrechen.
"Sie will was von James."
Meine Augenbrauen schossen in die Höhe und bei der Erwähnung seines Namens rückte ich automatisch ein Stück von Lucy ab.
"Sie waren zusammen auf der Party an Halloween, weißt du noch? Er war sturzbetrunken und hat sie sitzen gelassen. Wer hat Alice in ihr Bett gebracht, als sie sich kaum noch auf den Beinen hatte halten können? Wer hat sie zugedeckt, sich um sie gekümmert? Wer hat sich für sie geprügelt? Das war nicht er, das war ich! Und trotzdem-"
An dieser Stelle versagte Lucys Stimme und sie verbarg ihren Kopf an meinem Hals. Ihre heißen Tränen blieben auf meiner blassen Haut liegen, ihr warmer Atem war an meinem Ohr.
Ich wusste nicht, was ich tun konnte, außer sie ganz fest zu drücken.
"Er ist ein Idiot", murmelte ich mit zusammen gepresstem Kiefer. Nie hatte ich etwas ehrlicher gemeint. "Und trotzdem denkt sie noch immer an ihn", sprach Lucy weiter. "Trotzdem glaubt sie tatsächlich, sie wäre in ihn verliebt. Fuck. Wie kann man denn nur so naiv sein? So - so blind?"
In ihren grünen Augen lag ein Schmerz, den ich nur zu gut nachvollziehen konnte. Es war die Art von Schmerz, die einem das Herz herausriss und bei der man trotz allem nichts anderes wollte, als in den Armen der Person zu liegen, deren Händer das eigene Herz nun hielten.
Dämlich.
Liebe machte nicht nur blind, naiv und doof, sondern schlichtweg richtig dämlich.
Rückblickend konnte ich nicht nachvollziehen, warum ich solch starke für meinen Cousin gehabt habe, und das über einen so langen Zeitraum. Ich wollte gar nicht bestreiten, dass sie da gewesen waren, diese starken, verliebten Gefühle.
Aber das war nun vorbei, endgültig.
James Sirius Potter hatte seinen Glanz verloren.
Ich sah ihn nun wieder mit normalen Augen, er war nicht länger strahlend und besonders. Er war ein Arsch, der aufgrund der eigenen Unsicherheit auf anderen herumhacken musste. Er brauchte das für sein Ego, all diese fiesen Streiche und seine ganzen Mädchen.
Eigentlich, wenn ich ganz genau überlegte, war er ein armes, bemitleidenswertes Schwein.
Ich war nicht länger dämlich vor Liebe und ich wünschte Lucy von ganzem Herzen, dass auch sie bald weniger dämlich war.
Von dem Tag an verbrachten Lucy und ich wieder mehr Zeit miteinander. Wenn ich ganz ehrlich war, dann hatte ich kaum Freunde. Lucy ging es zumindest im Moment ähnlich, da sie mit Alice keine Zeit verbringen wollte und Frank dauernd mit Dominique rumhing.
So saßen wir die Nachmittage gemeinsam in der Bibliothek, während es draußen immer kälter wurde.
Ich gab meiner kleinen Schwester Nachhilfe, obwohl ich selber viel mit den Vorbereitungen meiner UTZ-Prüfungen zu tun hatte und der Berg an Hausaufgaben nicht kleiner wurde.
Meine kleine Schwester.
Nie hatten diese Worte aus meinem Mund liebevoller geklungen.
"Ich hasse Zaubertränke", knurrte sie und schleuderte das Buch über den Tisch. Nachdem ich mich mit einem Blick vergewissert hatte, dass Madam Pince diese Schandtat nicht mitbekommen hatte, meinte ich tröstend: "Nächstes Jahr kannst du es abwählen. Und so schwer ist es doch gar nicht."
Lucy schnaubte. "Sorry, Molly, aber wenn du das sagst zählt das nicht."
Grinsend schaute ich zur Seite, wobei mein Blick auf Lorcan fiel. Er saß, wie immer, am Tisch gegenüber von uns und schien sich kaum mit dem Buch vor seiner Nase zu beschäftigen. Stattdessen wanderten seine blauen Augen immer wieder zu uns beiden.
"Was glotzt der denn schon wieder so dämlich", grummelte ich verstimmt. Unter seiner Beobachtung fühlte ich mich unwohl, ja, fast eingeengt.
Lucy grinste breit. "Tja", machte sie.
"Was 'tja'?", gab ich pampig zurück, doch mein Herz pochte ganz aufgeregt. Eigentlich ahnte ich es ja schon, warum er so starrte. Aber er war nicht mein Typ. Er war so anders als James, das komplette Gegenteil.
Lucy zögerte nicht lange und winkte Loran zu uns heran. "Was machst du denn da? Bist du verrückt?", zischte ich und versuchte, ihre Hand zu greifen. Doch zu spät: Lorcan war bereits aufgestanden und zögernd zu uns an den Tisch getreten.
"Ja?", machte er. Seine Stimme war angenehm ruhig. Ich warf ihm einen bösen Blick zu.
"Ich habe gehört, du bist Jahrgangsbester in Zaubertränke. Sogar noch vor meiner Streberschwester. Sie ist zu inkompetent um es mir begreiflich zu machen, vielleicht kannst du mir das ja erklären?", fragte Lucy schelmisch grinsend.
Lorcan lachte leise. Er hatte ein melodisches, tiefes Lachen, das gar nicht zu seinem bubenhaften Aussehen passte. Ich verdrehte genervt die Augen.
"Klar, gerne", sagte er nur und ließ sich auf den Stuhl neben mir und gegenüber von Lucy fallen.
Nachdem er ihr das Zusammenspiel von Gift und Gegengift erläutert hatte, ging er nicht, sondern blieb neben uns sitzen. Schließlich fragte er mich für den Test morgen in Verwandlung ab. Obwohl ich es nicht wollte - das wollte ich wirklich nicht - kamen wir ins Gespräch.
Es war so leicht, sich mit ihm zu unterhalten. Ganz anders als bei James.
Als er sich schließlich von uns verabschiedet hatte, hielt ich Lucys vielsagende, amüsierte Blicke nicht länger aus. "Ich mag ihn nicht. Er ist echt doof", stellte ich klar, da mir nichts Besseres einfiel.
"Gleich und gleich gesellt sich gern", erwiderte Lucy lachend.
"Mach deine Hausaufgaben und schweig", wies ich sie zurecht, doch sobald sie sich wieder über ihr Heft gebeugt hatte, konnte ich mein breites Grinsen nicht länger verstecken.
In den nächsten Tagen und Wochen setzte Lorcan sich öfter zu uns. Mal auf Lucys Wunsch, mal unaufgefordert.
Irgendwann auch auf meinen Wunsch.
Ich weiß nicht genau, wann ich mich in Lorcan Scamander verliebt habe. Es war Liebe, zweifellos, doch es war anders und bedeutender als alles, was ich zuvor erlebt habe. Es stellte meine vergangenen Gefühle für James völlig in den Schatten. Die Liebe zu Lorcan kam nicht stürmisch wie bei James, es war keine Liebe auf den ersten Blick, es war nicht schlagartig und plötzlich wie ein Blitz bei Gewitter.
Die Liebe schlich sich langsam von hinten an mein Leben an, zuerst waren die Gefühle platonisch. Ich schätzte seine Art zu denken und zu reden, wie er andere behandelte, was er alles wusste.
Und dann, ganz zaghaft, war da diese neue Anziehungskraft, der ich mich nicht entziehen konnte.
Es brauchte Zeit, doch schließlich war Lorcan kaum noch aus meinem Leben wegzudenken.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top