Kapitel 24
Lucy Weasley P. o. V.
Meine Hände krallten sich augenblicklich haltsuchend ins grüne Gras auf den Ländereien von Hogwarts, als Alice den Abhang hinunter gerutscht kam.
"Huch!", lachte sie überdreht und fiel neben mir hin. "Na? Wie geht es dir?", fragte sie erwartungsvoll guckend und stützte ihr Kinn auf ihrem rechten Handrücken auf.
Es war eins dieser "Wie geht es dir?" bei dem die fragende Person die Antwort eigentlich gar nicht wirklich wissen wollte und nur darauf wartete, von ihrem eigenen Befinden zu berichten.
Normalerweise hörte ich Alice gerne zu, egal was sie sagte, hörte sie einfach gerne sprechen, sah sie an, während ihre vertraute Stimme in mein Ohr eindrang . . . Aber heute hätte ich ausnahmsweise gerne einmal von mir erzählt.
Ich wollte sie fragen. Nein, ich musste sie fragen. Musste fragen, was mit uns beiden war und ob es die Möglichkeit gab, dass sie auch für mich empfinden könnte, was ich für sie empfand. Ich hielt diese Ungewissheit nicht länger aus, verdammt!
Sollte Liebe nicht eigentlich etwas schönes sein? Wo blieb bitte das Kribbeln im Bauch und die Schmetterlinge, von denen alle immer redeten? Die rosarote Brille?
Aber nein.
Das Einzige, was momentan in meinem Magen flatterte, waren keine Raupen mit Flügeln, sondern nur das Mittagessen von vorhin. Kartoffeln mit Spinat und Ei. Lecker.
Alles in mir sträubte sich dagegen, Alice diese eine Frage zu stellen. Früher, im Kindergartenalter, wäre das so viel einfacher gewesen. Da hätte man einfach einen krakeligen Zettel auf der Bank mit den Worten "Willst du mit mir gehen?" und drei Kästchen ("Ja", "Nein," "Vielleicht") rübergeschoben. Aber heute musste man über seine Gefühle reden, sie versuchen zu erklären, die passenden Worte finden, seine Angst überwinden.
Ich war eine Gryffindor.
Und eine Weasley noch dazu.
Ich hatte vor nichts Angst. Nicht vor Drachen, nicht vor der Dunkelheit, nicht vor den Slytherins.
Doch vor der Einsamkeit. Und vor der Gefahr, Alice zu verlieren. Denn dieses Risiko ging ich mit einem Geständnis meiner Gefühle definitiv ein. Ich wollte unsere Freundschaft nicht aufs Spiel setzen. Wirklich nicht. Aber umso weniger wollte ich unsere Freundschaft langsam und schmerzhaft zerstören, was ich jedoch mit Sicherheit tun würde, wenn ich ihr nicht die Wahrheit sagte.
Aber was war die Wahrheit?
Dass ich sie am liebsten immer um mich haben wollte? Dass ich sie vermisste, wenn ich alleine war? Dass ich sie vermisste, wenn ich unter Leuten war? Dass ich sie sogar vermisste, wenn sie bei mir war, weil sie nicht so da war, wie ich sie wollte? Nicht als gute Freundin, sondern als feste Freundin? Dass ich sie brauchte? Dass ich ihr gehören wollte? Sie mein Eigen nennen wollte? Wie viel und wie lange ich schon solch unfreundschaftlichen Gefühle empfand? Dass ich es nicht länger aushielt?
Ja. Das alles war wahr.
Wie ich vermutet hatte, interessierte sie mein Befinden gar nicht richtig. Sie war viel zu aufgekratzt und irgendwie fürchtete ich, was sie in diesen freudigen Zustand der Begeisterung versetzt hatte. Ohne meine Antwort also abzuwarten, umschlang sie mit ihren dünnen Armen ihre angehockten Beine und fing mit einem breiten Strahlen an zu erzählen.
"Lucy, du glaubst ja gar nicht, mit wem ich eben gesprochen habe!", meinte sie mit verschwörerischer Stimme und beugte sich noch dichter zu mir rüber, sodass ich ihren zarten Lavendelduft unglaublich intensiv vernahm und ihr blasser Hals ganz nah vor meinem Gesicht schwebte.
Ich musste schlucken, bevor ich mich fähig glaubte, mit zittriger Stimme zu erwidern: "Wen denn?"
Ja, wer war es denn? Wer machte sie so glücklich? Wer schaffte es, meine Alice zum Lachen zu bringen?
Sie holte einmal ganz tief Luft.
"James!", platzte es aus ihr heraus.
Meine Kinnlade klappte herunter. Ich gab mir nicht mal Mühe, mein Entsetzen zu verbergen. Ich sah den Grund einfach nicht. Den Grund, warum ich ihr nicht zeigen sollte, was ich davon hielt.
Ich hatte angenommen, die Sache - diese verdammte Scheißsache - war abgeschlossen. Für uns beide. Ich hatte angenommen, dass sie endlich begriffen hatte, dass er es nicht wert war. Dass er ein Arschloch war. Dass er es nicht ernst mit ihr meinte. Ich hatte geglaubt, dass die Botschaft, die sein Verhalten unbestreitbar aussendete, bei ihr angekommen war. Dass es lange gedauert hatte, bis ihr verliebtes Mädchenherz das hatte akzeptieren wollen, doch das sie es letztendlich geschafft hatte. Dass sie nun vielleicht bereit für jemand neues war.
Für jemanden wie mich, vielleicht.
Wie dumm von mir.
Wie unfassbar dumm von mir.
In diesem Moment verstand ich, dass ich so eins auch hatte. Ein verliebtes Mädchenherz. Das bestimmte Dinge nicht sah oder einfach nicht sehen wollte.
"Er hat sich entschuldigt! Lucy, kannst du dir das vorstellen? Er hat sich für sein Verhalten entschuldigt! Merlin, ich freue mich so!", quietschte Alice und erdrückte mich in der nächsten Sekunde fast in einer stürmischen Umarmung.
Normalerweise hatte ich immer gerne mit ihr gekuschelt.
Hatte es naiverweise als Zeichen gesehen, dass sie auch für mich Gefühle hegte. Gefühle, die über die normale Zuneigung zwischen zwei Freundinnen herausging.
Doch heute versteifte sich mein ganzer Körper, ich konnte es einfach nicht länger ausnutzen, ich konnte ihr nicht länger die beste Freundin vorspielen!
Endlich merkte nun auch Alice, das irgendetwas nicht stimmte, denn sie lehnte sich leicht zurück, ihre Hände ruhten noch immer auf meinen Schultern. Fragend sah sie mich an, der Blick ihrer braunen Augen schien mich zu durchbohren und sie musterte mich, als suchte sie in meinem Gesicht nach Antworten.
Antworten auf ihre unausgesprochene Frage, warum ich mich so merkwürdig verhielt.
Antworten, die ich ihr nicht zu geben bereit war.
Abrupt stand ich auf und stieß sie so unabsichtlich von mir weg, sodass sie nach hinten ins weiche Gras fiel. Die Hände in den Taschen meines grünen Parkers verborgen stapfte ich los. Alices verwirrte Rufe hörte ich noch, als ich bereits bei der Peitschenden Weide war.
Die heißen Tränen brannten auf meinem Gesicht und ich sah keine Notwendigkeit darin, sie aufzuhalten oder zu verbergen. Viel zu lange hatte ich den Kopf steif gehalten, die Schultern gestrafft und allen mit meinem Lächeln ins Gesicht gelogen.
Ich war am Ende.
Es war Zeit, aufzugeben.
Erschöpft und zugleich zufrieden über meine frisch gewonnene Erkenntnis ließ ich mich auf den Stufen der Treppe, die in Richtung des Gryffindor- und Ravenclawgemeinschaftsraums führten, in der Eingangshalle nieder.
Die neugierigen und teils verächtlichen Blicke der Schüler, die vereinelt an mir vorbeiströmten, ignorierte ich. Es hatte doch keinen Sinn mehr, weiterhin zu lächeln, obwohl ich doch viel lieber weinen wollte.
Sollten sie doch alle sehen, wie beschissen es mir ging.
Sollten sie doch sehen, wie mein Herz blutete, wie der ganze Schmerz aus mir heraussickerte.
Sollten sie sich doch ihre Mäuler darüber zerreißen, dass Lucy Weasley heulend auf der Treppe saß.
Sollten sie doch denken, was sie wollten. Mir war es egal. Um die Wahrheit kümmerte sich nämlich niemand, die Leute glaubten immer, was sie auch glauben wollten.
Plötzlich legte sich eine weiche Hand auf meine Schulter. Eine blasse Hand mit zarten, langen Fingern, eine geschmeidige Hand mit sauber geschnittenen Nägeln. Bevor ich meinen Kopf hatte drehen können, umschlangen mich in der nächsten Sekunde auch noch zwei Arme und jemand legte seinen Kopf auf meinem ab, strich mir beruhigend über das Haar, machte leise "Schsch" in mein Ohr.
Jemand.
Ein jemand mit rotem Haar.
Nun drehte ich doch den Kopf, wandte ihn nach oben und durch meinen von Tränen verschleierten Blick erkannte ich meine Schwester Molly.
Molly ließ nicht zu, dass ich aufstand und ging, sondern umarmte mich gleich wieder. Etwas unsicher ließ ich meinen Kopf auf die Schulter meiner großen Schwester sinken, lehnte mich an sie.
Ich hatte losgelassen. Hatte mich von meinem falschen Lächeln gelöst, von Alice, war gefallen - und von Molly aufgefangen worden.
So blieben wir dort sitzen, auf den Stufen der Treppe, während die Schüler und Schülerinnen der verschiedenen Häuser an uns vorbei liefen, hungrig hin zum Abendessen.
Wir blieben sitzen, bis die Eingangshalle leer war.
Schwester und Schwester, Arm in Arm, endlich wieder vereint.
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