Kapitel 97 - Sheila
Sheila schluchzte und schaffte es einfach nicht, damit aufzuhören. Sie saß auf dem Boden, den Rücken an die Tür gelehnt und das Gesicht in den Händen verborgen.
Wie konnte Jonathan sie allein lassen? Warum glaubte er ihr nicht, wenn sie ihm versicherte, dass zwischen ihr und Leonard nichts war? Und vor allem: Warum beharrte er so sehr darauf, dass zwischen ihr und Leonard schon was gelaufen war?
Sie schüttelte den Kopf und wischte sich die Tränen von den Wangen, nur um so Platz für neue zu schaffen. Sie spürte, wie die kalten Fliesen unter ihren Füßen sie zittern ließen und obwohl es draußen angenehm warm war, wurde ihr kalt.
Plötzlich riss sie ein Klopfen aus ihrer Versenkung und sie brauchte einen Moment bis sie begriff, dass es an der Tür klopfte. Ihr erster Gedanke war Jonathan, aber er würde sicherlich nicht klopfen, immerhin hatte er vorhin die Schlüsselkarte mitgenommen.
„Sheila, mach auf", hörte sie eindeutig Leonard und eilig und sehr mühsam erhob sie sich. Bevor sie öffnete, wischte sie sich noch einmal die Tränen aus dem Gesicht und atmete tief durch.
Kaum dass sie die Tür einen Spalt breit geöffnet hatte, legte Leonard eine Hand an den Türrahmen, sodass sie die Tür nicht mehr schließen konnte, ohne ihm wehzutun.
Er sah panisch und besorgt aus und er war ein wenig außer Atem, so als sei er gerannt.
Doch dann bemerkte sie, wie er sie ansah und ihr wurde bewusst, dass sie noch immer nur den Schlafanzug trug. Peinlich berührt verschwand sie hinter der Tür und kreuzte die Arme vor der Brust.
„Ich muss mich umziehen", sagte sie und eilte zum Bett, wo noch immer ihr halbgepackter Koffer stand. Sie wühlte darin herum und suchte nach irgendetwas Passendem, bis sie schließlich eine einfache Jeansshorts und ein lila Top herauszog.
„Kann ich reinkommen?", fragte Leonard und panisch warf sie wieder einen Blick zur Tür, wo Leonard noch immer durch den kleinen Spalt hineinschaute. Sheila zögerte, denn sie hatte die ganze Zeit nur Jonathan im Kopf und was er denken würde, wenn er genau in diesem Moment hereinkam.
„Warte, ich komme gleich raus", sagte sie und verschwand im Bad, um sich anzuziehen.
Jonathan würde vollkommen ausrasten, wenn er Leonard in ihrem Zimmer erwischte, während sie nur einen Schlafanzug trug.
Mit einem Seufzen zog sie sich an, betrachtete sich dann aber noch einmal im Spiegel. Ihre Augen waren geschwollen und ihr Haar ein wenig zerzaust, aber das war nicht das Schlimmste.
Ihr Blick machte ihr selbst Angst. Er schien leer und hoffnungslos zu sein und Sheila kam sich vor, als würde sie nicht in ihrem Körper stecken, sondern sich von außen betrachten.
So sah also jemand aus, der seine Ehe vor die Wand gefahren hatte.
Es schüttelte sie und eilig griff sie nach der Bürste, um sich nicht länger im Spiegel ansehen zu müssen. Sie ordnete ihr Haar, atmete noch einmal tief durch und verließ dann wieder das Bad.
Leonard stand noch immer gehorsam vor der Tür und sie griff instinktiv nach der zweiten Schlüsselkarte, die neben der Tür auf dem kleinen Tisch lag. Sie schlüpfte in ihre Schuhe, dann trat sie nach draußen und zog die Tür hinter sich zu.
Leonard starrte sie beinahe an, die Arme hinter dem Rücken, so als würde er sich so daran hindern, sie zu berühren. Sheila senkte den Blick auf den Boden, dann ging sie in Richtung Strand.
Leonard folgte ihr in einigem Abstand, allerdings spürte sie die ganze Zeit seinen Blick auf sich.
Sie betrat einen kleinen Holzsteg, der über den Sand gebaut worden war und ging ihn bis zum Ende durch, dann zog sie sich die Schuhe wieder aus und tapste durch den Sand, der noch angenehm kühl war.
Nach ein paar Sekunden packte Leonard sie unsanft am Ellbogen und zwang sie so zum Stehenbleiben.
„Jetzt warte doch mal", forderte er, woraufhin sie sich zu ihm umdrehte.
„Was ist denn passiert?", bohrte er weiter, doch Sheila winkte ab. Auch wenn es sicherlich befreiend sein würde, mit ihm zu reden, war es gleichzeitig viel zu anstrengend.
Leonard trat näher an sie heran, legte einen Arm um ihre Schultern und führte sie zu einer der nahestehenden Liegen, wo er sie mit sanfter Gewalt nach unten drückte, sodass sie sich setzen musste. Er nahm neben ihr Platz und musterte sie eindringlich.
„Er will es nicht noch einmal versuchen, hab ich recht?", fragte er, was Sheila zusammenzucken ließ.
Sie hörte, wie Leonard langsam und tief ein- und ausatmete, als würde er sich mühsam beherrschen.
Vorsichtig sah sie zu ihm, denn bei ihrem ganzen Streit mit Jonathan hatte sie noch keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, wie es eigentlich Leonard ging. Immerhin war gestern Abend eindeutig eine Spannung zwischen ihnen gewesen und wenn Jonathan nicht aufgetaucht wäre, wer wusste denn schon, was dann passiert wäre? Sicherlich hätte Sheila es zutiefst bereut, aber Leonard würde das bestimmt anders sehen.
„Wie geht es dir denn? Ich meine... für dich ist das doch auch alles nicht leicht", hörte sie sich mit belegter Stimme sagen, was Leonard abrupt den Kopf herumreißen ließ.
Ihre Blicke trafen sich so schnell, dass Sheila sich merkwürdig ertappt fühlte.
„Wie soll es mir schon gehen? Immer wenn ich denke, dass... du vielleicht auch so etwas wie Gefühle für mich hast, taucht er auf, benimmt sich wie ein Arsch und du rennst ihm hinterher", sagte er dann so leise, dass sie sich anstrengen musste, ihn zu verstehen.
Sheila schluckte schwer, denn ihr wurde klar, dass sie ihn durch ihr Verhalten verletzte.
„Tut mir leid", murmelte sie, doch Leonard schüttelte den Kopf.
„Sheila, du musst dich schon irgendwann entscheiden. Ich meine... du liebst ihn, hab ich kapiert. Und es fällt dir schwer ihn nach - wie viel Jahren? Zehn? - zu verlassen, aber wenn er dir wirklich so viel bedeutet, warum dann das hier zwischen uns? Du wusstest, dass ich dich nicht nur als eine Freundin sehe und trotzdem flirtest du mit mir. Das in der Stadt im Meer, als wir von dem Steg gesprungen sind, das war doch mehr als Freundschaft", redete er sich in Rage und fuhr sich anschließend mit der Hand durchs Haar.
Es quälte ihn, eindeutig. Sheilas Gewissensbisse wurden nur noch schlimmer und sie spürte, wie sich neue Tränen in ihren Augen stauten. Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, denn auch wenn sich all das mit Leonard richtig und gut angefühlt hatte, musste sie zugeben, dass er recht hatte.
Sie war eine Heuchlerin, die auf keinen der beiden, weder Jonathan noch Leonard, verzichten wollte, auch wenn sie beiden damit wehtat. Verfluchte Gefühle, wer hatte sich die noch mal ausgedacht? Sie spürte eine innere Qual und sie wollte sich am liebsten hier im Sand eingraben und nie wieder raus kommen.
Leonard sah sie noch immer an, doch als sie schwieg, schnaubte er und stand auf. Er ging ein paar Schritte von ihr weg, blieb dann aber stehen und drehte sich wieder zu ihr um.
Auf einmal streckte er die Hand nach ihr aus, eindeutig eine Aufforderung, sie zu nehmen. Panisch überlegte sie, was sie tun sollte. Sie hatte ihm schon genug wehgetan und sie wollte ihn nicht als Freund verlieren.
Das Ganze mit seinen Gefühlen für sie würde sich hoffentlich wieder legen, sobald er zu Hause war und ein wenig Abstand von ihr bekam.
Zögernd stand sie auf und nahm seine Hand. Sofort umklammerte er ihre Hand unerwartet fest und zog sie wieder den Strand entlang zurück in Richtung ihrer Zimmer.
„Du hast noch nichts gefrühstückt, hab ich recht?", fragte er und sie war unendlich erleichtert, dass er nicht weiter davon sprach, warum sie dies oder das getan hatte. Denn darauf hätte sie ihm keine wirkliche Antwort geben können, sie wusste es ja selbst nicht.
„Nein, noch nicht", gestand sie, woraufhin Leonard in Richtung des Restaurants abbog.
„Dann machst du das jetzt als Erstes, dann überlegst du dir, was du heute machen möchtest", sagte er übertrieben fröhlich, was in dieser Situation so absurd klang, dass sich ein klitzekleines Lächeln auf ihre Lippen legte.
„Wo ist Mona?", fragte sie, denn eigentlich hatte sie sie bei Leonard gelassen.
„Jonathan hat sie. Er wird mit irgendetwas unternehmen, um sie abzulenken. Und genau das Gleiche machen wir beide heute. Ist immerhin mein letzter Tag", sagte er und zog sie weiter den Strand entlang.
Sheila eilte ihm hinterher, doch auf einmal bekam sie Angst, Jonathan würde sie sehen. Sie hielt nach ihm Ausschau, konnte ihn aber nicht entdecken, gleichzeitig entzog sie Leonard ihre Hand.
Er nahm es hin, aber sie wusste, was in ihm vorging. Er war enttäuscht.
Sheila fühlte sich deswegen schlecht, gleichzeitig war sie froh, dass er hier war und versuchte, sie aufzumuntern.
Sie gingen bis zum Restaurant und vor den wenigen Stufen, die zum Eingang führten, blieb sie stehen, um sich den Sand von den Füßen zu klopfen.
Leonard wartete auf sie, dann bedeutete er ihr mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen. Automatisch ließ Sheila den Blick durch den Saal wandern, aber Jonathan und Mona schienen schon nicht mehr hier zu sein.
Sie schluckte schwer, denn sie vermisste ihre Tochter. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sich anfühlte, sie zwischen sich und Jonathan hin- und herzuschieben, geschweige denn davon, wie es sich für Mona anfühlen musste.
„Komm", forderte Leonard sie auf und zog sie geradewegs zum Buffet, wo es ungewohnt leer war. Leonard reichte ihr einen Teller an, sich selbst nahm er auch einen, obwohl er vorhin schon mit Mona gefrühstückt haben musste.
„Na los, Essen ist wichtig für dich. Dann wirst du groß und stark", scherzte er und stupste sie mit dem Ellbogen an.
Sheila grinste schwach, denn eigentlich war sie nicht zu Scherzen aufgelegt. Dennoch lud sie sich jede Menge zu Essen auf den Teller und steuerte anschließend auf einen Tisch am Fenster zu, von dem aus sie das Meer sehen konnte.
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