Kapitel 91 - Sheila

Sheila wusste in dem Moment, in dem sie Jonathan sah, was er dachte. Sein Blick war so eindeutig und beinahe hasserfüllt, dass sie wusste, dass sie es vermasselt hatte. 

„Sheila", hörte sie Leonard sagen, doch sie schaffte es nicht, den Blick von Jonathan zu lösen. 

Gleichzeitig klammerte sie sich an Leonard fest, damit sie nicht hinfiel. Sie fing an zu zittern und wieder sagte Leonard ihren Namen, dieses Mal drängender. Erst da löste Jonathan sich aus dem Schatten und kam mit verschränkten Armen auf sie zu, ganz langsam. 

„Oh nein", sagte Leonard, der sie sofort losließ, was sie straucheln ließ. Keine Sekunde später spürte Sheila wieder seinen festen Griff um ihren Arm, der sie auf den Beinen hielt. 

Eilig wanderte ihr Blick zu Mona, die auf der Mauer saß und die Situation beobachtete. Jonathan kam näher und Sheila sah, wie ihm eine Träne über die Wange lief. Kopfschüttelnd sah er sie an, dann Leonard. 

„Ich wusste es die ganze Zeit und ihr habt mich beide angelogen", sagte er und schnaubte verachtungsvoll. Sheila schluckte, riss sich von Leonard los und schlang die Arme um Jonathan, der die Umarmung jedoch nicht erwiderte. 

„Bitte, es ist nicht so, wie es aussieht. Ich liebe nicht ihn, sondern dich", sagte sie leise an seinem Ohr, musste aber zugeben, dass es wenig überzeugend klang, auch wenn es die Wahrheit war. 

Jonathan packte sie unsanft an den Schultern und schob sie ein Stück von sich weg. 

„Das war's", sagte er, so leise und doch kam es ihr vor, als hätte er sie angeschrien. 

„Wie meinst du das?", fragte sie mit zitternder Stimme und kam sich vor wie in Trance. Passierte das gerade wirklich? 

„Das weißt du ganz genau. Ich gebe dich frei, du kannst mit ihm zusammen sein", sagte er vollkommen ruhig und beherrscht, griff dann mit seiner linken Hand an seine rechte und zog sich den Ring vom Finger. 

„Nein, bitte...", flehte sie und Tränen stiegen ihr in die Augen. 

Plötzlich ging alles ganz schnell. 

Jonathan bewegte sich abrupt und voller Entschlossenheit, als er ein paar Schritte Anlauf nahm und seinen Ring in hohem Bogen über die Mauer in den Sand warf, dann ging er zu Mona, nahm sie auf den Arm und marschierte davon. 

Danach spürte Sheila einen stechenden Schmerz in den Knien, denn irgendwie war sie hingefallen. Sie sah durch einen Schleier von Tränen, wie Leonard Jonathan versuchte aufzuhalten und auf ihn einredete, aber Jonathan riss sich von ihm los und trug Mona, die inzwischen auch weinte, davon. 

Plötzlich war Leonard neben ihr und zog an ihr, anscheinend wollte er ihr aufhelfen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. 

Jonathan hatte mit ihr Schluss gemacht. Und er hatte es ohne Zweifel vollkommen ernst gemeint. 

Mit Leonards Hilfe schaffte sie es wieder auf die Füße, doch sie machte sich von ihm los und kletterte über die Mauer, wo Jonathan seinen Ring weggeschmissen hatte. Ungeschickt ließ sie sich auf der anderen Seite der Mauer herunter, schrammte sich dabei den Ellbogen auf und landete unsanft im Sand. 

Sie musste seinen Ring wieder finden, damit sie ihn ihm zurückgeben konnte, wenn sie wieder zusammenfanden. Denn das würden sie, oder? Sie mussten, schon allein wegen Mona. 

„Sheila, der Ring ist weg, komm wieder hoch", rief Leonard ihr nach, aber sie ignorierte ihn. 

Plötzlich stupste sie jemand am Arm an und verwundert sah sie einen kleinen Jungen, vielleicht in Monas Alter. Er hielt ihr etwas hin, das sie schnell als Jonathans Ring identifizierte. 

„Danke", hauchte sie, nahm den Ring zurück und schloss die Faust darum. 

Hoffentlich würde Jonathan mit sich reden lassen und gab ihr eine Chance, sich zu erklären. 

Natürlich musste es für ihn so aussehen, als wäre zwischen ihr und Leonard mehr gelaufen, aber sein Versuch, sie zu küssen, hatte sie wirklich überrascht. Natürlich hatte Leonard sie schon die ganze Zeit so angesehen, als er sie und Mona die Promenade entlang zu der Musikgruppe geführt und sie dann in die Mitte der Menschentraube geschoben hatte, damit sie tanzte. 

Leonard hatte sich in ihrem gemeinsamen Urlaub wirklich wieder in sie verliebt, daran bestand kein Zweifel, aber er hätte sie nicht versuchen sollen zu küssen. Auch wenn sie nicht ganz unschuldig war, sie hätte Jonathans Bitte einfach befolgen und ihm aus dem Weg gehen können, aber dafür war sie zu egoistisch gewesen. 

Das hatte sie nun davon, ihre Ehe war ein Scherbenhaufen, ein Typ war in sie verliebt und nutzte wahrscheinlich die Chance, dass sie Single war, obwohl sie schon jetzt wusste, dass sie niemals mit Leonard zusammenkommen würde. 

Das Schlimmste jedoch war, dass Jonathan Mona mitgenommen hatte und sie war sich sicher, dass er sie ihr vorenthalten würde. 

Allein bei diesem Gedanken wurde sie panisch und ihre Knie fingen so heftig an zu schlottern, dass sie sich in den von der Sonne aufgewärmten Sand fallen ließ. Ihre Hand klammerte sich um Jonathans Ring, bis ihre Finger taub wurden. 

Eine ganze Weile saß sie hier, leise weinend und alles um sich herum ignorierend, bis sie jemand am Arm packte und nicht ganz unsanft hochzog. Auch wenn sie sich kraftlos hängen ließ, bugsierte Leonard sie irgendwie auf die Füße und schlang den Arm um sie. 

„Komm, wir müssen zurück zum Hotel gehen", sagte Leonard eindringlich, doch auf einmal spürte Sheila, wie ein ungewohntes Gefühl in ihr aufstieg. Es fing ganz unten in ihrem Bauch an und kochte höher und höher, bis es sich um ihr geschundenes Herz legte. 

Erst als sie Leonard von sich stieß und ihn anschrie, wusste sie, dass es Wut war. 

Sie stieß ihn so heftig gegen die Brust, dass er keuchte und einen Schritt zurücktaumelte, dann eilte sie zur Treppe, die zurück auf die Promenade führte. 

Leonard rief ihr etwas hinterher, aber sie ignorierte ihn. Es war unfair, ihm allein die Schuld an Jonathans Entscheidung zu geben, immerhin hatte sie sich bereitwillig auf seine Flirtversuche eingelassen, aber er hätte akzeptieren müssen, dass sie nicht mehr von ihm wollte als Freundschaft. 

Sheila spürte, wie der Sand in ihren Schuhen wie Schmirgelpapier ihre Sohlen bearbeitete, aber der brennende Schmerz tat gut. Er zeigte ihr, dass sie Schuld daran war, wenn sie ihre Tochter nicht mehr sehen würde. 

Von dem Gedanken an Mona angetrieben rannte sie bis zum Hotel, auch wenn es ein gutes Stück bis dahin war. 

Es war inzwischen stockdunkel und panisch hämmerte sie gegen die Tür ihres Hotelzimmers. 

Ihr Körper schmerzte und sie fühlte sich vollkommen erschöpft und irgendwann ebbte ihr Hämmern zu einem flehenden Scharren an der Tür ab, das weiterhin von Jonathan ignoriert wurde. Sie stolperte um den Gebäudekomplex herum und versuchte ihr Glück an der Terrassentür. Sie klopfte unablässig und versuchte, durch die geschlossenen Vorhänge zu sehen, aber sie hatte keine Chance. Jonathan hatte sie absichtlich so zugezogen, dass sie nicht hineinsehen konnte. 

Nach einer gefühlten Ewigkeit sah sie, wie sich die Vorhänge bewegten. Ihr Herz hämmerte so laut, dass Jonathan es doch hören musste. 

Sein Gesicht erschien zwischen den Vorhängen, dann öffnete er die Tür und schlüpfte zu ihr nach draußen. 

Sheila fühlte sich wie gelähmt, denn sie hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass er herauskommen würde. Ohne darüber nachzudenken klammerte sie sich an ihm fest und weinte bitterlich. 

„Sheila, lass mich los", sagte er, doch sie schüttelte den Kopf, bis er sie unsanft an den Armen packte und sie von sich schob. 

Erst jetzt betrachtete sie ihn aufmerksamer und bemerkte, dass auch er ganz verquollene Augen hatte. 

„Bitte", flehte sie, aber Jonathans Miene blieb hart. 

„Wo ist er?", fragte er stattdessen und Sheila brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass er Leonard meinte. 

„Ich... ich weiß nicht. Ich habe ihn an der Promenade zurückgelassen", erklärte sie und spürte, wie sie sich allmählich beruhigte. 

Immerhin redete er hier mit ihr, das war doch ein gutes Zeichen. 

Dann tat Jonathan etwas vollkommen Unerwartetes. Er bedeutete ihr mit einer kaum merklichen Kopfbewegung, dass sie hereinkommen sollte. 

Noch immer hielt er sie an den Armen fest und führte sie ins Zimmer. Sheila zitterte und sofort wanderte ihr Blick zu Mona, die in Jonathans Bett lag. 

Sie schien wach zu sein, denn ihre Augen waren geöffnet. Reglos lag sie da, an ihr Kuscheltier geklammert. 

„Geh dich waschen, du bist voll mit Sand, dann kannst du zu ihr", sagte er leise und ließ sie los. 

Sheila blieb jedoch stehen und suchte im schwachen Licht des Mondes nach seiner Hand. Sie hörte, wie sich sein Atem beschleunigte, als wäre er nervös. Sanft drückte sie ihm seinen Ring in die Hand und schloss seine Finger darum. 

„Sheila", setzte er an, seine Stimme klang gequält. 

„Nimm ihn, bitte. Ich... es ist nichts zwischen mir und Leonard", hauchte sie, doch das waren eindeutig die falschen Worte. 

Jonathan schnaubte, packte sie an den Schultern und schob sie eilig ins Bad, dann schloss er die Tür hinter ihr. Sie hörte, wie er leise vor sich hin fluchte, dann das Rascheln einer Bettdecke. 

Sheila betrachtete sich für eine Sekunde im Spiegel über dem Waschbecken und bereute es sofort. Sie sah fürchterlich aus, das Haar ganz zerzaust und das Gesicht nass von Tränen. 

Sie drehte den Wasserhahn auf und folgte seiner Anweisung, sich zu waschen, anschließend pellte sie sich aus ihrem Kleid und ließ es achtlos auf den Boden fallen. 

Anschließend verließ sie das Bad, griff nach ihrem Schlafanzug, der in ihrem Bett lag und zog ihn an. Sie bemerkte, dass Mona noch immer in Jonathans Bett lag und er es sich in ihrem bequem gemacht hatte. 

Er lag mit dem Rücken zu ihr und sie hörte, wie er leise schniefte. Es brach ihr mehr als einmal das Herz, ihn so zu sehen, doch dann wanderte ihr Blick zu Mona, die sie mit leerem Blick ansah. 

Sie war wirklich eine schreckliche Mutter, dass sie es zuließ, dass Mona das alles mitbekam. 

Eilig schlüpfte sie ins Bett, breitete die Arme aus und schloss sie um ihre Tochter, die sich sofort an sie schmiegte. Sanft strich sie ihr durchs Haar und küsste sie auf die Wange, während stumme Tränen über ihre Wangen liefen. 

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