Kapitel 81 - Sheila
Sheila half Mona, ihr Kleid anzuziehen und kämmte ihr vielleicht ein wenig zu ruppig die Haare, anschließend schickte sie sie zu Jonathan ins Bad, damit sie sich die Zähne putzte.
Auch wenn sie erst vor wenigen Minuten aufgestanden war, fühlte sie sich vollkommen erschöpft.
Mit einem Seufzen ließ sie sich auf der Bettkante nieder, vergrub das Gesicht in den Händen und versuchte mühsam, nicht zu weinen.
Was ging nur in Jonathan vor? Seine Reaktionen wurden immer unberechenbarer und auch wenn er ihr eben nicht wehgetan hatte, wurden durch sein Festhalten unangenehmen Erinnerungen in ihr geweckt.
Zwar widerstrebte es ihr noch immer, Jonathan und Ville, ihren drogenabhängigen und gewalttätigen Ex mit ihm zu vergleichen, aber auch mit Ville hatte es damals so angefangen. Erst hielt er sie grob fest, dann fing er an, sie zu schubsen und schließlich rutschte ihm das erste Mal die Hand in ihr Gesicht aus.
Sheila spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam und schüttelte heftig den Kopf, um die unangenehmen Erinnerungen loszuwerden.
Jonathan war nicht wie Ville und er würde es auch nie sein.
Diesen Satz sagte sie sich immer und immer wieder wie ein Mantra vor, dennoch fing ihr Körper unkontrolliert an zu zittern und sie verspürte den unbändigen Drang, davonzulaufen und zu schreien.
Sie erhob sich, ging zum Kleiderschrank und nahm sich ein frisches T-Shirt und einen Rock heraus, zog sich beides an und griff nach ihrem Handy, das auf dem kleinen Nachttisch neben ihrem Bett lag.
Im Urlaub achtete sie recht wenig darauf, aber nun war sie froh, dass sie es bei sich hatte. Kurz überlegte sie, Leonard zu schreiben, aber das würde Jonathan sicherlich provozieren und das sollte sie heute nun wirklich nicht mehr tun.
Stattdessen wählte sie die Nummer ihres Bruders über das Internettelefon, denn sie war sich nicht sicher, wie teuer ein normaler Anruf aus Lanzarote nach Deutschland sein würde.
Erst als es schon eine ganze Weile tutete, überlegte sie, welcher Wochentag heute war. Nach kurzem Überlegen kam sie auf Samstag, ihr Bruder musste also zu Hause sein.
Sheila ließ es klingeln und klingeln, bis Matthias endlich nach einer gefühlten Ewigkeit vollkommen verschlafen das Gespräch annahm.
„Ich bin's", sagte sie und hörte, wie Matthias Bettdecke raschelte. Offensichtlich hatte sie ihn geweckt, aber das war ihr in diesem Moment ziemlich egal.
„Ja, sehe ich. Was gibt es?", fragte er in einem Ton, der eindeutig zeigte, dass er viel lieber weiter schlafen wollte als mit ihr zu reden.
Unwillkürlich wanderte Sheilas Blick zum Badezimmer, wo Mona und Jonathan sich noch immer die Zähne putzten.
Automatisch wechselte sie in ihre Muttersprache, damit Jonathan nicht heimlich lauschen konnte.
„Er benimmt sich vollkommen daneben und ich weiß nicht mehr, was ich tun soll", platzte es aus ihr heraus, auch wenn dieser Satz ihre Situation nur ansatzweise beschrieb.
Sie hörte, wie Matthias durch seine Wohnung marschierte, dann scharrte ein Stuhl über den Boden und er seufzte.
„Was heißt denn daneben?", fragte ihr Bruder nach, wodurch Sheila sich merkwürdig angespannt fühlte. Es war, als würde eine dunkle, schleimige Masse, die unbedingt aus ihr herausmusste, über die Mauer klettern, die sie um sich herum gebaut hatte, um nicht verletzt zu werden.
Sie musste sich einfach alles von der Seele reden, damit es ihr besser ging.
Sie erhob sich, öffnete die Terrassentür und trat hinaus in den angenehm warmen Sonnenschein.
„Du weißt schon. Mit seiner Eifersucht. Ich habe Angst, dass er Schluss macht", sagte sie leise, auch wenn Jonathan nichts verstehen konnte.
Matthias hustete, als hätte er sich an einem Kaffee oder so etwas verschluckt.
„Wie bitte?", fragte er, vollkommen überrascht, woraufhin Sheila anfing, zu erzählen.
Sie versuchte, sich an jeden ihrer Streits zu erinnern, auch ihr unnötiges und im Nachhinein ziemlich dämliches Besäufnis ließ sie nicht aus. Als sie an dem Punkt angelangt war, als Jonathan seinen Ring abgelegt, aber dann doch wieder zurückgenommen hatte, fing sie an zu weinen.
Gleichzeitig fühlte es sich unglaublich erleichternd an, alles noch einmal zu erzählen. Es kam ihr alles noch dämlicher und sinnloser vor, als ohnehin schon und sie hoffte, ihr Bruder hätte irgendeinen Rat, der ihr weiterhelfen konnte.
Als sie geendet hatte, sah sie Mona aus dem Hotelzimmer auf die Terrasse kommen, ihr pinkes Klemmbrett an sich gepresst.
Sheila streckte den Arm nach ihr aus, doch Mona schüttelte den Kopf, ließ sich auf dem weichen Gras vor der Terrasse nieder und fing an, auf dem Klemmbrett herumzukritzeln.
Matthias am anderen Ende der Leitung blieb einen Moment lang still, als würde er überlegen, doch dann sog er scharf die Luft ein.
„Willst du denn noch mit ihm zusammen sein? Wenn ihr euch die ganze Zeit streitet?", fragte er leise, doch diese einfache Frage trieb ihr die Tränen in die Augen.
„Ja, natürlich will ich mit ihm zusammen bleiben. Er muss nur wieder so werden, wie er früher war", antwortete sie und meinte es auch so.
Wieder herrschte eine Weile Schweigen.
„Aber für ihn muss es doch so wirken, als wärest du an Leonard interessiert. Ich weiß, du bist es nicht, aber... allein von dem was du erzählst... ich wäre auch eifersüchtig. Klar, er reagiert nicht angemessen, aber verstehen kann ich ihn schon", sagte ihr Bruder und Sheila glaubte, jemand hätte den Stuhl unter ihr weggezogen.
„Was?", purzelte es aus ihr heraus, denn niemals hätte sie erwartet, dass Matthias nicht vollkommen auf ihrer Seite wäre.
„Na, du hast Händchen mit ihm gehalten und bei ihm im Bett geschlafen, betrunken. Ich wäre auch ausgeflippt", erklärte er, was Sheila den Kopf schütteln ließ.
Sie fühlte sich missverstanden und bereute, ihn angerufen zu haben.
„Ich habe doch nur bei ihm übernachtet, weil Jonathan mich nicht mehr reinlassen wollte. Was hätte ich denn tun sollen?", fragte sie und schnaubte, doch ihr Bruder schien im Gegensatz zu ihr vollkommen ruhig zu bleiben.
„Es war schon nicht richtig, dass du dich betrinkst, wenn Mona dabei ist", bemerkte er, was Sheila noch wütender werden ließ. Ihr Bruder wollte ihr etwas darüber sagen, wie viel sie zu trinken hatte? Das war lächerlich, immerhin hatte er sich eine Zeit lang jeden Tag besoffen, bis er seine Arbeit verloren hatte.
„Toll, vielen Dank. Und was soll ich jetzt machen?", fragte sie patzig, woraufhin Matthias mit der Zunge schnalzte.
„Geh Leonard aus dem Weg. Hör auf, mit ihm zu flirten und verbringe deine Zeit mit deiner Familie", sagte er, als läge das offen auf der Hand.
Sheila schüttelte den Kopf.
„Ich flirte nicht mit ihm", widersprach sie und konnte bildlich vor sich sehen, wie Matthias die Augen verdrehte.
„Doch, tust du. Du sollst ihn ja nicht vollkommen ignorieren, aber... lass ihn einfach eine Weile in Ruhe, bis du und Jonathan euch wieder vertragen habt. Das wird ja wohl möglich sein", wiederholte Matthias, was Sheila nun doch zum Nachdenken brachte.
Sie hatte nicht erwartet, dass er Verständnis für Jonathans Verhalten hatte und es löste ernste Zweifel in ihr aus, ob sie sich richtig verhielt. Sie schluckte einen schweren Kloß hinunter, der sich aber nur auf den noch größeren in ihrer Brust zu legen schien.
„Du schaffst das schon", sagte Matthias ungewöhnlich optimistisch, dann gähnte er.
Sheila musste tatsächlich kurz Grinsen, doch dann wurde sie wieder ernst.
„Na gut. Ich versuche, es irgendwie hinzukriegen", sagte sie, dann beendeten sie das Gespräch und sie erhob sich, um ihr Handy wieder nach drinnen zu bringen.
Gerade, als sie das Zimmer betreten wollte, zuckte sie zusammen, denn Jonathan stand mit verschränkten Armen im Türrahmen und musterte sie eindringlich. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er dort stand.
„Das war mein Bruder", erklärte sie und wackelte ein wenig mit dem Handy vor seiner Nase herum.
Jonathan nickte, griff dann aber nach ihrem Handgelenk und zwang sie so, mit dem Gewackel aufzuhören.
Schuldbewusst senkte sie den Blick, quetschte sich an ihm vorbei und warf ihr Handy auf ihr Bett. Sie spürte Jonathans Blick auf sich, aber sie wusste nicht so recht, was sie ihm sagen sollte. Sie wünschte sich einfach nur, dass sie heute einen unbeschwerten und streitfreien Tag verbringen konnten, auch wenn das irgendwie merkwürdig weit weg erschien.
„Gehen wir zum Frühstück?", fragte sie schließlich, einfach nur um irgendetwas zu sagen.
Jonathan, der noch immer im Türrahmen stand, nickte. Zwar wirkte er angespannt und nervös, aber er zwang sich gleichzeitig zu einem Lächeln.
Vorsichtig ging Sheila näher zu ihm und streckte den Arm nach ihm aus, bis sie sanft über seine Hand strich.
„Es tut mir alles so leid. Ich...", setzte sie an, brach aber ab, denn sie wusste nicht so recht, was sie eigentlich sagen sollte. Jonathans angespannte Miene löste sich ein wenig und er breitete kaum merklich die Arme aus.
Sofort folgte sie seiner Aufforderung und ließ sich von ihm umarmen.
Es fühlte sich tröstlich und vertraut an und sie schloss die Augen. Sie spürte, wie er ihr einen Kuss aufs Haar drückte, sich dann aber wieder von ihr löste.
„Lass uns erst einmal was Essen gehen und dann überlegen wir, was wir heute machen, okay?", schlug er vor und sie nickte.
„Papa! Da geht Onkel Leonard. Hat er uns vergessen?", durchbrach Mona den Moment der Zweisamkeit und sofort drehte Jonathan sich zu ihr um und trat nach draußen auf die Terrasse.
Sheila folgte seinem Blick und erkannte Leonard, der schon in einiger Entfernung den Weg in Richtung Restaurant entlang lief. Er hatte den Blick auf den Boden gesenkt und die Hände in den Hosentaschen vergraben und marschierte zielstrebig davon.
„Vielleicht möchte er heute einen Tag allein sein. Immerhin wollten wir doch einen Ausflug machen", erklärte Jonathan und nicht zum ersten Mal war Sheila froh, dass er ihr die Frage beantwortete.
Mona nickte, sprang anschließend auf und kam zu ihnen. Jonathan nahm ihr das Klemmbrett ab und reichte es Sheila, die es nach drinnen auf Monas Bett legte.
„Was machen wir denn heute?", fragte Mona und griff nach Jonathans Hand. Sheila schloss die Terrassentür von innen, zog den Vorhang zu und verließ das Zimmer durch die Eingangstür und lief eilig um das Gebäude herum zu den anderen beiden.
Jonathan und Mona unterhielten sich über dies und das, während sie gemeinsam zum Restaurant gingen.
Leonard war schon nicht mehr zu sehen, aber Sheila hatte genau wie er die Hände in die Taschen ihres Rockes geschoben und betrachtete den Boden unter ihren Füßen.
Die Einschätzung ihres Bruders hatte sie nachdenklich gemacht und sie zweifelte das erste Mal ernsthaft daran, was ihre Freundschaft mit Leonard anging. Ja, er flirtete mit ihr und ja, es gefiel ihr und machte ihr Spaß. Aber Leonard wusste doch, dass es von ihrer Seite aus nicht mehr als Freundschaft war und sie hatte den Eindruck, dass er es akzeptiert hatte. Warum sollte sie ihm also aus dem Weg gehen, wenn das zwischen ihnen beiden eindeutig geklärt war?
Sheila erinnerte sich, dass Jonathan sie schon mehr als einmal darum gebeten hatte, Leonard nicht mehr so nahe zu kommen und nicht mehr so viel Zeit mit ihm zu verbringen.
Bisher hatte sie sich geweigert, aber nun überlegte sie, ob es nicht vielleicht doch eine gute Idee war, um ihre Ehe zu retten.
Denn dass man sie retten musste, stand außer Frage.
Sie glaubte Jonathan, wenn er sagte, dass er ernsthaft überlegte, sich von ihr zu trennen.
Komischerweise versetzte dieser Gedanke sie nicht mehr so sehr in Panik, wie noch vor ein paar Monaten. Vielleicht, weil es in den letzten Wochen realistischer geworden war, dass dieser Zustand tatsächlich eintraf.
Die Trennung.
Sheila erschauderte, denn sie wollte nicht, dass Jonathan ging. Schon wieder stiegen ihr Tränen in die Augen, die sie nur mit Mühe zurückhalten konnte und sie sah zu Jonathan und Mona, die einige Schritte vor ihr gingen.
Eilig beschleunigte sie ihre Schritte, bis sie zu ihnen aufgeschlossen hatte und griff nach Jonathans Hand. Zögerlich und fragend, doch als er genau so zögerlich seine Finger mit ihren verschränkte, flatterte ihr Herz erleichtert.
Vielleicht würde doch noch alles gut werden, wenn sie sich beide zusammenrissen.
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