Kapitel 74 - Jonathan
Jonathan verließ den Bus, gefolgt von Nicole, Mona und Maja, Nicoles Tochter. Es war unerwartet voll in der Straße und er vermutete, dass hier irgendeine Veranstaltung stattfand. Leute strömten in Richtung Innenstadt und neugierig beobachtete er das Treiben.
„Ach, das habe ich ganz vergessen. Heute findet doch der Marsch der Kapelle statt", hörte er Nicole sagen und als er sich nach ihr umsah, grinste sie übers ganze Gesicht. Als sie es aussprach, erinnerte Jonathan sich dunkel daran, dass Sheila von einem Musikaufgebot gesprochen hatte, als sie den Urlaub geplant hatten.
Tatsächlich hatte er es vollkommen vergessen.
„Wollen wir da hin gehen?", fragte er und sah Mona an, die zu Maja sah und dann nickte.
„Okay, dann gehen wir mal den ganzen Leuten hinterher", lachte er, nahm Mona an die Hand und folgte dem Strom der Leute.
Nicole ging neben ihm, auch sie hatte Maja an der Hand, damit sie in dem Gewusel nicht verloren ging.
Ziemlich schnell gelangten sie an einen großen Platz, an dem sich schon eine Musikgruppe aufgestellt hatte. Jonathan erinnerte sie an eine Kapelle aus dem alljährlichen Martinszug und er betrachtete die bunten Uniformen. Immer mehr Musiker reihten sich ein, während die Zuschauer sich am Straßenrand drängten.
„Ich sehe nichts", beschwerte Mona sich und kurz sah Jonathan sich um. Er bemerkte eine Bank, die ganz in der Nähe stand, auf dem schon ein weiteres Kind stand, um besser sehen zu können.
„Komm mit", forderte er Mona auf und führte sie durch die Leute hindurch zu der Bank. Eilig kletterte sie darauf, woraufhin der Junge, der bereits darauf stand und einige Jahre älter zu sein schien als sie, ihr den Platz vor ihm anbot.
Jonathan lächelte, als Mona sich auf die Zehenspitzen stellte, um besser sehen zu können.
Nicole hatte anscheinend nicht mitbekommen, dass sie weggegangen waren, aber er verspürte nicht unbedingt den Drang, sie ebenfalls hierher zu holen. Sie würden sich schon wieder finden und wenn nicht, war es auch kein Weltuntergang.
Jonathan sah immer wieder zu Mona, doch sie schien recht zufrieden mit ihrem Platz zu sein, sodass er keine Sorge hatte, sie würde woanders hingehen.
Er ließ den Blick über die Menge schweifen, als die Musiker anfingen zu spielen. Es klang eindrucksvoll und die Kinder hatten Spaß, also war auch er zufrieden.
Nach wenigen Minuten wanderte die Kapelle die Straße entlang, und er sah, wie einige Leute, vor allem Kinder, ihr folgten.
Sofort griff er nach Mona, die genau in diesem Moment von der Bank sprang. Sie bedeutete ihm mit einem Zupfen an seinem T-Shirt, dass auch sie sich anschließen wollte und so ging er mit ihr die Straße entlang hinter der Kapelle her.
Beinahe sofort begegnete er wieder Nicole, die auch mit ihrer Tochter der Kapelle folgte.
„Ach, hier seid ihr", sagte sie, als wäre sie erleichtert, ihn wiedergefunden zu haben. Jonathan nickte nur und ignorierte sie. Selbst wenn er vielleicht mit ihr reden wollte, hier war eindeutig nicht der richtige Ort.
Plötzlich spürte Jonathan, wie Nicole ihn am Arm anstieß.
„Ist das nicht deine Frau?", fragte sie und deutete mit dem Finger in die Menge, die am Straßenrand stand.
Jonathan durchfuhr ein Schock, auch wenn es durchaus möglich war, dass Sheila beim Einkaufen ebenso wie er den Menschenansturm bemerkt und ihm gefolgt war.
Er folgte Nicoles Fingerzeig, dann blieb er abrupt stehen. Als erstes sah er Leonard, dann Sheila. Sein Herz blieb stehen, denn es war nicht die Tatsache, dass die beiden zusammen hier waren, die ihn wütend machte, sondern die Tatsache, dass sie Händchen hielten.
Jonathan wurde angerempelt und Mona zog an seiner Hand, doch er fühlte sich wie gelähmt.
Sheilas und Leonards Finger waren locker verschränkt und das war absolut unangemessen.
Blinde Wut stieg in ihm auf und am liebsten wäre er zu den beiden gestürmt und hätte sie zur Rede gestellt.
„Komm, sie haben dich noch nicht gesehen. Lass uns von hier verschwinden und du erzählst mir alles, okay?", raunte Nicole ihm zu und erst da konnte er sich aus seiner Erstarrung lösen.
Er nickte, nahm dann Mona kurzentschlossen auf den Arm und stürmte davon, so schnell es ging.
Was dachte Sheila sich nur dabei? Wusste sie denn nicht, dass Leonard jede Möglichkeit nutzen würde, sie ihm auszuspannen? Warum zum Teufel begriff sie das nicht und ließ sich auf seine Spielchen ein? Er konnte nicht glauben, dass sie eine solche Nähe zu ihm zuließ, wenn sie doch angeblich keine Gefühle für ihn hatte.
„Papa, warum gehen wir?", fragte Mona, aber er schaffte es nicht, ihr zu antworten. Es tat ihm leid, aber er musste einfach nur noch weg von hier.
Schneller als erwartet erreichte er das Hotel, Nicole dicht hinter ihm. Er marschierte zum Spielplatz, wo er Mona wieder absetzte und sie mit einem Blick auf das Klettergerüst schickte.
Sie begriff, dass er wütend war und sah ängstlich drein, dann lief sie aber zur Schaukel und ließ sich darauf nieder.
Jonathan stemmte die Hände in die Hüften und fing an, unruhig auf und ab zu laufen, bis Nicole ihn am Ellbogen packte und so zum Anhalten zwang.
Maja war inzwischen zu Mona gelaufen und sie waren allein.
„Jetzt setz dich erst einmal", forderte sie ihn auf und mit einem Seufzen gehorchte er. Seine Gedanken rasten, gleichzeitig spürte er den fordernden Blick von Nicole auf sich. Sie schien ziemlich neugierig zu sein, was ihn unheimlich nervte in diesem Moment.
Er vergrub das Gesicht in den Händen und drängte mit Mühe die Tränen zurück. Mit Sicherheit würde er nicht vor ihr heulen, auch wenn er am liebsten genau das getan hätte.
Mehr und mehr hatte er das Gefühl, dass er Sheila verlor. Natürlich wusste er auch, dass sein Verhalten ihr immer wieder einen Schubs in Leonards Richtung gab, aber die beiden so vertraut zusammen zu sehen, zerriss ihm das Herz.
Nicole legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte sie sanft und mühsam riss er sich zusammen.
„Was ist los?", fragte sie, eindeutig drängend, als gehe es ihr nahe, ihn leiden zu sehen.
Jonathan suchte nach einem Satz, der ihre Situation beschrieb, aber es fiel ihm einfach nichts Passendes ein.
„Glaubst du, sie hat was mit diesem Typen am Laufen?", fragte sie, doch Jonathan schnaubte.
„Er ist mein Cousin und schmachtet sie an, seit er sie kennt. Ihm ist schon einmal seine Hand ausgerutscht und sie hat es zugelassen", setzte er an, schüttelte dann aber den Kopf, denn diese Beschreibung wurde der vertrackten Situation, in der er sich befand, einfach nicht gerecht.
Nicole nickte, ihre Hand noch immer auf seiner Schulter.
„Das tut mir leid", sagte sie einfühlsam, was ihn nur den Kopf schütteln ließ. Jonathan atmete tief durch und straffte die Schultern, denn wenn er eine ehrliche Meinung von Nicole haben wollte, musste er ihr alles erzählen, auch von seinen Eifersuchtsanfällen.
Er drehte den Kopf und suchte ihren Blick, dann fing er an, alles zu erzählen. Jedes noch so kleine und schmutzige Detail erzählte er ihr und tatsächlich tat es unheimlich gut, das alles einmal loszuwerden.
Gleichzeitig fühlte es sich gar nicht so an, als wäre es seine eigene Geschichte, sondern als wäre er nur ein stiller Beobachter gewesen und das alles war jemand anders passiert.
Nicole hörte ihm geduldig zu, nickte ab und zu oder stellte eine kurze Frage.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam er zu dem vergangenen Abend und als er berichtete, dass Sheila bei Leonard im Bett übernachtet hatte, schnaubte sie verächtlich.
„Für mich klingt es so, als würde es zwischen euch einfach nicht mehr funktionieren. Das kommt vor und es ist sinnlos, jemandem die Schuld zu geben", sagte sie, nachdem er seinen Bericht beendet hatte, aber Jonathan fand ihre Antwort nicht wirklich passend.
Es kam ihm so vor, als wäre das die bequeme Lösung, seine Probleme zur Seite zu schieben und nicht zu lösen. Auch wenn er ernsthaft darüber nachdachte, sich von Sheila zu trennen, würden die ersten Wochen danach die Hölle für ihn werden.
Sein ganzes Leben würde sich verändern und er wusste nicht so recht, ob er das wollte.
Allerdings war es keine Option, dass sich nichts änderte, das wusste er auch.
„Du klammerst dich an eine Beziehung, die in einer Krise steckt. Vielleicht braucht ihr Abstand und sie muss sich ausprobieren, damit sie erkennt, was sie an dir hat", sagte Nicole und als Jonathan begriff, was sie da sagte, starrte er sie ungläubig an.
„Du willst sagen, dass sie...", setzte er an, aber er brachte die Worte nicht über die Lippen.
„Ja, genau das will ich sagen. Ganz offensichtlich hat sie Gefühle für deinen Cousin, so wie sie sich ihm gegenüber verhält. Es könnte doch sein, dass sie sich nicht traut sie zuzulassen, weil sie dich nicht verlieren will. Aber vielleicht braucht sie diese Erfahrung, um zu dir zurückzufinden. Damit sie merkt, dass du es bist, den sie liebt", führte Nicole aus und mit jedem weiteren Wort aus ihrem Mund zog sich seine Brust enger zusammen.
„Du glaubst, ich könnte noch mit ihr zusammen sein, wenn sie mit meinem Cousin geschlafen hat?", fragte er und allein der Gedanke verursachte in ihm einen Würgereiz.
Nicole sah ihn verständnislos an.
„Wenn es euch hilft, wieder besser miteinander auszukommen", sagte sie schulterzuckend, als wäre nichts dabei.
„Das ist ausgeschlossen. Sobald sie mit ihm im Bett war ist es aus und zwar für immer", sagte er bestimmt, denn er wusste, dass es danach nie wieder so sein würde wie früher. Seine Eifersucht würde noch stärker werden und was war, wenn Sheila dadurch gar nicht zu ihm zurückfand, sondern die letzten zehn Jahre bereute, die sie mit ihm verschwendet hatte, anstatt mit Leonard zusammen zu sein?
Panik stieg in ihm auf und er sprang unwillkürlich auf. Seine Beine fingen an, hin und her zu gehen und er spürte, wie Nicole ihm mit dem Blick folgte.
Sheila und Leonard, allein die Vorstellung von den beiden zusammen trieb ihn in den Wahnsinn.
„Ich muss sie anrufen", sagte er und kramte nach seinem Handy in seiner Hosentasche.
„Und dann? Selbst wenn sie zurückkommt, willst du so aufgebracht mit ihr reden? Das endet nur in einem Streit", sagte Nicole und sprang ebenfalls auf.
„Beruhige dich. Rede heute Abend ganz in Ruhe mit ihr und ich bin mir sicher, dass sich alles klären wird", sagte sie sanft, aber eindringlich.
Jonathan schloss die Augen und atmete kontrolliert ein und aus.
„Ja, du hast recht. Ich warte einfach hier, bis sie zurückkommt. Wenn sie zu unseren Zimmer will, kommt sie ohnehin hier vorbei", sagte er und ließ sich wieder auf seinen Platz auf der Bank nieder.
Allerdings ging ihm das Bild von Sheila und Leonard nicht mehr aus dem Kopf und es fühlte sich quälender als jemals zuvor an.
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