Kapitel 73 - Sheila
Sheila klammerte sich an Leonards Arm fest, als sie sich durch die überlaufenen Straßen schoben. Zwar würde sie ihn nicht aus den Augen verlieren können, immerhin überragte er fast alle anderen Leute, aber es gab ihr das Gefühl von Sicherheit.
Er führte sie durch eine kleinere Seitenstraße weg von den Menschenmengen und schon nach wenigen Minuten hatte sie die Orientierung verloren.
„So, hier ist es ein wenig ruhiger", sagte Leonard, befreite sich dann aus ihrem Klammergriff und schlenderte mit den Händen in den Hosentaschen die Straße entlang. Auch hier gab es noch einige Läden, allerdings wirkten sie eher wie normale Geschäfte, keine Souvenirshops, die nur für Touristen eröffnet worden waren.
Neugierig sah sie in die Schaufenster und betrachtete die ausgestellten Kleider und Schmuckstücke.
Nach einer Weile blieb sie vor einem Schuhgeschäft stehen und blickte ins Schaufenster. In der Spiegelung erkannte sie Leonard, der hinter ihr stehen geblieben war und sie scheu ansah. Sie versuchte, ihn möglichst unauffällig durch die Spiegelung im Glas zu beobachten, doch schon nach ein paar Sekunden räusperte er sich.
„Hör auf mich so anzusehen, mit mir ist alles okay und du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben", sagte er leise und doch klingelten seine Worte in ihren Ohren. Schuldbewusst senkte sie den Blick, drehte sich dann aber zu ihm um.
„Wie schaffst du das nur? Ich meine... wenn du lieber nicht mehr mit mir so viel Zeit verbringen willst, dann...", setzte sie an, aber Leonard unterbrach sie, indem er warnend den Zeigefinger hob.
„Hör schon auf. Du weißt, dass ich gern Zeit mit dir verbringe. Wenn es nicht so sein sollte, wäre ich nicht hier", sagte er ernst und in diesem Moment bewunderte sie ihn.
Wenn er wirklich die Gefühle für sie hatte, wie er vorgab und es dennoch akzeptierte, dass sie sie nicht erwiderte und auch noch an ihrer Freundschaft festhielt, war er viel stärker, als ihr bisher bewusst gewesen war.
Sheila kam sich dumm vor, dass sie es nie so gesehen hatte und ihre ohnehin schon große Achtung vor ihm wuchs noch mehr. Zwar war Leonard oft kindisch und alberte herum, aber in der Hinsicht war er viel reifer, als sie erwartet hatte.
Sheila nickte und wieder spürte sie den Drang, ihn zu umarmen und ihm zu zeigen, was für ein toller Mensch er war.
„Gehen wir hier mal rein?", hörte sie sich sagen, ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben und deutete mit dem Daumen über die Schulter in Richtung des Schuhgeschäftes.
„Ich dachte schon, du fragst nie", lachte Leonard, packte sie an den Schultern, drehte sie herum und schob die dann durch die Tür in den kleinen Laden hinein.
Es waren einige Leute hier und Sheila ließ den Blick durch die an den Wänden aufgestellten Kartons wandern. Oben auf standen einige Schuhe, die ihr auf Anhieb gefielen. In der Mitte des Ladens, der nur aus einem kleinen, rechteckigen Verkaufsraum bestand, waren einige Hocker aufgestellt, wo man sich zum Anprobieren der Schuhe hinsetzen konnte.
Zielstrebig ging Sheila zu den aufgestapelten Kartons und nahm sich zwei Paar Ballerinas in ihrer Größe heraus. Leonard, der noch immer etwas unschlüssig neben der Tür stand, trat näher an sie heran und nahm ihr die Kartons ab. Anschließend ließ sie sich auf einem der freien Hocker nieder, kickte ihre Flip Flops von den Füßen und nahm die Schuhe entgegen, die er ihr anreichte.
Es fühlte sich schön an, auch wenn es nur eine kleine Aufmerksamkeit war. Sheila probierte die Schuhe an und entschied sich, gleich beide Paare mitzunehmen.
Schon nach einer Viertelstunde verließen sie den Laden wieder und schlenderten weiter die Straße entlang.
„Setzen wir uns kurz dahinten auf die Bank?", fragte Leonard und deutete mit dem Finger auf eine Gruppe von Parkbänken, die um einen Springbrunnen herum platziert worden waren.
Sheila nickte, beschleunigte ihre Schritte, bis sie bei den Bänken ankam und ließ sich mit einem Seufzen darauf nieder. Leonard tat es ihr gleich und legte seinen Arm hinter ihrem Rücken auf der Lehne der Bank ab, ohne sie zu berühren. Dennoch fühlte es sich merkwürdig intim an, aber nicht unangenehm.
„Meinst du, Jonathan wird wütend, wenn er erfährt, dass du mit mir zusammen einkaufen gegangen bist?", fragte Leonard nüchtern, aber Sheila zuckte unsanft zusammen. Ihr war bewusst, dass Jonathan mit Sicherheit jedes noch so kleinste Detail erfahren wollte und schon jetzt war sie genervt davon. Sie seufzte, nickte dann aber.
„Er wird im Moment wegen allem sauer. Egal was ich mache, es ist immer falsch. Zumindest sieht er das so", sagte sie und ließ die Schultern hängen.
Die Tüte, in der ihre neuen Schuhe steckten, raschelte bei der Bewegung und sie stellte sie neben sich auf der Bank ab. Leonard grummelte vor sich hin und schüttelte dann den Kopf.
„Du weißt, dass du jederzeit zu mir kommen kannst, wenn es dir zu viel wird", erinnerte er sie, woraufhin sie nickte.
„Danke", hauchte sie, denn es war ungewohnt, dass jemand sich so sehr um sie sorgte.
„Wie geht es eigentlich deinem Knöchel?", fragte er weiter und unwillkürlich wanderte ihr Blick nach unten zu ihrem Fuß. Sie hatte sich vor ein paar Tagen den Fuß an einer Liege aufgeschrabbt, aber es war nicht weiter schlimm. Sie hob den Fuß auf die Sitzfläche der Bank, sodass Leonard ihn sehen konnte.
„Alles wieder gut", sagte sie und fuhr mit dem Finger sanft über die harte Kruste, die sich inzwischen gebildet hatte. Leonard legte seine Hand um ihre Wade und zog ihren Fuß auf seinen Schoß, sodass Sheila sich seitlich zu ihm drehen musste, damit ihr Bein nicht verdreht wurde. Sie kicherte leise, während er ihren Fuß betrachtete.
„Und was sagen Sie, Herr Doktor?", fragte sie belustigt, woraufhin Leonard den Finger ans Kinn legte, als würde er über etwas Wichtiges nachdenken.
„Ich verordne Ihnen Spaß für den Rest des Urlaubs", sagte er ernst, suchte dann aber ihren Blick und grinste dämlich. Sheila lachte.
„Du bist bescheuert", erwiderte sie, musste aber zugeben, dass sie seine Albernheiten ablenkten und sie für eine Weile ihre Probleme vergessen ließen.
Leonard ließ ihr Bein wieder los, doch anstatt es von seinem Schoß zu nehmen, legte sie sich auf den Rücken quer über die Bank und legte auch ihr anderes Bein auf seinen Schoß.
„Ach, liegst du bequem?", fragte er spöttisch, woraufhin Sheila die Hand über die Augen legte, um die Sonne abzuschirmen und dann nickte.
„Ja, kann mich nicht beschweren", erwiderte sie, bemerkte aber, dass Leonard etwas verunsichert wirkte.
Nach ein paar Sekunden legte er seinen Arm wieder auf der Lehne der Bank ab, seinen freien Arm ließ er auf ihre Schienbeine sinken. Seine Hand ruhte auf ihrem Knie, reglos, als wäre es ihm unangenehm.
„Würde Jonathan wissen, dass ich das mache, würde er mich umbringen", sagte sie, denn genau das musste es sein, was Leonard auch dachte. Beinahe erschrocken sah er sie an, doch nur für eine Sekunde, dann breitete sich ein teuflisches Grinsen auf seinen Lippen aus.
„Wenn du das so möchtest, dann ist es wohl okay. Ich meine auch das hier", sagte er, strich sanft mit dem Daumen über ihr Knie und sah sie fragend an. Er schluckte schwer, ganz offensichtlich wusste er nicht, ob sie es okay fand, dass er sie am Knie berührte.
Sie richtete sich ein wenig auf und stützte sich auf den Ellbogen ab und suchte seinen Blick. Beinahe scheu erwiderte er ihn, hörte aber sofort auf, mit dem Daumen über ihre Haut zu streicheln.
Sheila erinnerte sich daran, dass Jonathan sie vor ihrem Urlaub darauf angesprochen hatte, dass es ihn störte, dass sie so viel Körperkontakt mit Leonard hatte. Damals hatte sie es komisch gefunden, aber wenn sie nun darüber nachdachte, konnte sie es doch irgendwie verstehen.
Es würde ihr auch nicht gefallen, wenn Jonathan die Beine einer anderen Frau auf seinem Schoß hatte. Der Unterschied war nur, dass der Kerl, auf dem sie ihre Beine ablegte, Leonard war. Er war kein Fremder, sondern er gehörte zur Familie. Das war etwas ganz anderes.
„Ja, natürlich ist es okay. Wenn nicht, dann würde ich es dir sagen", erklärte sie, wartete ab, bis er nickte und ließ sich dann zurück auf die Bank sinken.
Die Sonne schien ihr ins Gesicht und sie schloss die Augen. Es war ein schönes Gefühl hier zu liegen, seine Berührung zu spüren und einfach nur die Zeit zu genießen.
Allerdings durchzuckte sie nach nur wenigen Minuten ein unangenehmer Gedanke. War es wirklich Leonard, mit dem sie hier sitzen wollte? Oder sehnte sie sich eigentlich nach Jonathans Nähe?
Wenn sie ehrlich war, tendierte sie eher zur zweiten Variante, aber gleichzeitig wusste sie, dass sie und Jonathan im Moment kaum eine Stunde miteinander verbringen konnten, ohne sich zu streiten.
Sheila spürte, wie Leonards Hand zur ihrer Wade wanderte und anfing, sie zu kneten.
„Entspann dich. Du verkrampfst dich total", bemerkte er und erst da fiel ihr es selbst auf und sie versuchte, all ihre Muskeln zu entspannen.
Es war, als fiele eine Last von ihren Schultern und sie musste zugeben, dass es gut tat, loszulassen.
„Denk nicht an ihn. Zumindest, solange wir hier sind", sagte Leonard in einem Ton, der beinahe flehend klang. Sheila öffnete die Augen und setzte sich wieder auf. Leonard lächelte sie an, doch wieder wirkte er, als ginge ihm eine Menge durch den Kopf, genau wie heute Morgen.
„Ich wünsche mir einfach nur, dass Jonathan wieder so wird wie früher", seufzte sie, woraufhin Leonard langsam den Kopf schüttelte.
„Du weißt, ich wünsche es mir auch für dich, aber er hat schon vor Wochen die Grenze überschritten, wenn du mich fragst", sagte Leonard, doch Sheila begriff nicht, was er ihr damit sagen wollte.
Verwirrt sah sie ihn an, eine stumme Aufforderung, dass er es erklären sollte. Er holte tief Luft, drehte sich seitlich zu ihr und sah sie eindringlich an.
„Ich meine die Grenze, bis zu der du sein Verhalten noch akzeptieren solltest. Ich will dir nichts schlecht reden, aber er dreht doch vollkommen ab in letzter Zeit", erklärte er und tippte sich mit dem Finger an die Schläfe, als zeigte er ihr einen Vogel.
Sheila schluckte schwer, dann nickte sie.
„Du hast ja recht. Aber...", setzte sie an, wusste aber nicht, wie sie es logisch erklären sollte.
„Du liebst ihn eben. Habe ich schon verstanden. Aber du sollst dich nicht von ihm fertig machen lassen. Und wenn du mich fragst, ist diese ganze Sache mit dem Ring ablegen der reinste Psychoterror", redete Leonard sich in Rage, sodass Sheila ihm besänftigend eine Hand auf den Arm legte.
„Es wird schon alles wieder gut", sagte sie, nicht nur um Leonard zu beruhigen, sondern auch sich selbst. Er nickte, brummte aber noch etwas Unverständliches in sich hinein.
Eine Weile schwiegen sie, bis Leonard sich ächzend erhob und ihr die Hand hinhielt.
„Gehen wir zurück? Es wird Zeit fürs Mittagessen", fragte er und grinste. Sheila nickte, griff nach seiner Hand und ließ sich auf die Beine ziehen.
„Nicht deine neuen Schuhe vergessen", erinnerte er sie und deutete auf die Tüte, die auf den Boden gerutscht war, als sie sich hingelegt hatte. Sie lachte, hob sie eilig auf und hielt sie demonstrativ hoch.
„Keine Sorge", sagte sie, dann ging sie ihm voran in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Er folgte ihr und holte sie schnell wieder ein und für eine Sekunde erwartete sie, dass er ihre Hand nahm. Sie wusste nicht warum, aber sie glaubte, dass er es gern wollte.
Aber sie wurde enttäuscht. Er tat es nicht, sondern ging einfach nur neben ihr her, wie es zwei Bekannte eben tun würden.
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