Kapitel 71 - Sheila

Sheila seufzte und verschränkte die Arme vor der Brust. Nirgendwo hatte sie ihre Schuhe gefunden, weder an der Poolbar noch sonst irgendwo auf dem Weg zu ihrem Zimmer. 

„Deine Schuhe sind wohl weg", bemerkte Leonard, der mit in die Hüften gestemmten Händen neben ihr stand und sie ansah. 

„Scheint so", erwiderte sie und setzte sich in Bewegung. Sie ging den kleinen Weg entlang, der zurück zu ihrem Zimmer führte. Leonard folgte ihr und hatte nach wenigen Schritten zu ihr aufgeschlossen. 

„Und was machen wir jetzt? Willst du direkt los in den Ort?" fragte er, klang dabei aber so, als wollte er viel lieber etwas anderes machen. Sheila hob den Kopf, um ihn anzusehen, aber sein Blick war vollkommen neutral und als er ihren Blick bemerkte, lächelte er. Keine Doppeldeutigkeit war zu erkennen, auch wenn sie vorhin beim Frühstück für eine Sekunde Schmerz in seinem Gesicht gesehen hatte. Vermutlich litt er einfach mit ihr, denn dieser ganze Stress mit Jonathan nahm sie ziemlich mit. 

„Ich muss noch meine Handtasche holen, dann können wir los. Wenn du auch willst", antwortete sie und lächelte. 

„Klar", gab er zurück, machte dann eine Handbewegung, die ihr bedeuten sollte, ihm zu folgen und setzte sich in Bewegung. Sheila gehorchte seiner Anweisung und stiefelte hinter ihm her. Leonard hielt den ganzen Weg über den Kopf gesenkt und sie wurde das Gefühl nicht los, dass er über etwas nachdachte. 

Für einen Moment überlegte sie, ihn einfach darauf anzusprechen, aber sie war sich nicht sicher, ob sie das Recht dazu hatte. Vielleicht dachte er ja an Kathi und vermisste sie oder so etwas. 

„Deine Tasche ist doch bei dir im Zimmer", lachte Leonard auf einmal und riss sie so aus ihren Grübeleien. Erst da bemerkte sie, dass sie vor Leonards Zimmertür stand, während er die Karte in das Lesegerät schob und die Tür aufstieß. Er sah sie unsicher über die Schulter hinweg an und trat dann in sein Zimmer. 

„Ja, stimmt. Ich...", stammelte sie und kam sich auf einmal ziemlich dämlich vor. 

„Treffen wir uns in einer Viertelstunde?", fragte Leonard dann, allerdings spürte sie seinen eindringlichen Blick auf sich ruhen. Bevor Sheila lange darüber nachdachte, nickte sie. 

„Ja, in Ordnung", sagte sie, dann drehte sie sich um und lief zu ihrem Zimmer auf der anderen Seite des Ganges. Noch bevor sie die Tür ihres Zimmers geöffnet hatte, hörte sie die von Leonards Zimmer ins Schloss fallen. 

Kopfschüttelnd trat sie schließlich ins Zimmer und schloss ebenfalls die Tür hinter sich. Sie fühlte sich merkwürdig aufgekratzt und gleichzeitig so, als müsste sie drei Tage lang schlafen. Es war ein zermürbendes Gefühl und sie hoffte, dass Jonathan und sie wieder zusammenfanden, wenn sie ein, zwei Tage Abstand voneinander hatten. 

Ihr Blick wanderte zu Jonathans Seite des Bettes und auf einmal vermisste sie ihn schrecklich. Gleichzeitig wünschte sie ihn ans andere Ende der Welt, wenn er wieder mies gelaunt war und ständig glaubte, sie würde etwas für andere Männer empfinden, obwohl sie nicht nur den kleinsten Zweifel an ihren Gefühlen für Jonathan hatte. 

Sie wollte den alten Jonathan zurück, der zwar ein wenig eifersüchtig war, aber nicht so krankhaft und verrückt wie er es in der letzten Zeit war. 

Seufzend ging sie zum Kleiderschrank und kramte ihre Handtasche heraus, stopfte dies und das hinein, von dem sie glaubte, es vielleicht gebrauchen zu können, dann verließ sie wieder das Zimmer. 

Sie beschloss, sich noch ein paar Minuten an den Strand zu setzen, bevor sie sich mit Leonard auf den Weg in die Stadt machte. Als sie den Weg entlang ging, der zum Strand führte, spürte sie schon jetzt die Wärme der Sonne auf ihrer Haut. Heute würde sicherlich ein ziemlich heißer Tag werden und vielleicht würde sie sich ein wenig im Meer abkühlen, wenn sie und Leonard wieder zurück waren. 

Kaum dass sie sich auf die kleine Mauer gesetzt hatte, die den Strand von der Rasenfläche abgrenzte, bemerkte sie einen Schatten, der auf sie fiel. Beinahe erschrocken wandte sie sich um und erkannte Leonard, der gerade die letzten Schritte auf sie zuging, um sich schließlich mit einem Seufzen neben ihr nieder zu lassen. 

„Da bist du ja schon", bemerkte sie und grinste. 

„Da bin ich", erwiderte er und salutierte, was Sheila kichern ließ. 

„Wenn du willst, können wir los", fuhr sie dann fort und wollte sich gerade erheben, als Leonard ihr eine Hand auf die Schulter legte. Sheila hielt in ihrer Bewegung inne und ließ sich wieder von ihm zurück auf die Mauer drücken. 

„Ich wollte noch kurz mit dir reden", sagte er in einem unheilvollen Ton, der ihr Herz schneller schlagen ließ. 

„Okay", sagte sie langsam, richtete dann aber den Blick auf ihn und sah ihn neugierig an. Sein Gesicht wirkte nachdenklich und er hatte eine tiefe Falte auf der Stirn, gleichzeitig schien er ein wenig aufgeregt zu sein.

„Es geht um letzte Nacht", setzte er an und bevor Sheila es verhindern konnte, stieß sie einen erstickten Laut aus. Sie wollte heute eigentlich nicht darüber nachdenken, dass sie sich wie ein Teenager betrunken und dadurch einen wirklich unnötigen Streit verursacht hatte. Dennoch nickte sie, denn wenn Leonard diesen ernsten Ton anschlug, musste es ihm wirklich wichtig sein. 

„Okay", wiederholte sie, als er nicht weitersprach. Leonard senkte für einen Moment den Kopf und fuhr sich anschließend mit den Händen durchs Gesicht, als müsste er sich darauf vorbereiten, was er ihr sagen wollte. 

Nach wenigen Sekunden sah er wieder zu ihr und sofort fand er ihren Blick. Sheila wurde nervös, als er ihr so eindringlich in die Augen sah, gleichzeitig wollte sie ihm genau so sehr zuhören und zur Seite stehen, wie er es immer für sie tat. 

„Es fällt mir ziemlich schwer darüber zu reden und... ich... bin total verunsichert", gab er auf einmal zu und kratzte sich verlegen am Kopf. Überrascht lachte Sheila, denn normalerweise war Leonard nicht um Worte verlegen. 

„Sag es einfach geradeheraus, das ist am leichtesten", versuchte sie es, woraufhin er noch einmal tief durchatmete, dann die Augen schloss und die Schultern straffte. 

„Bitte sag mir, dass es nichts zu bedeuten hatte, dass du die ganze Nacht meine Hand gehalten hast", sagte er so schnell, dass Sheila den Sinn seiner Worte im ersten Moment nicht begriff. 

Verwirrt zog sie die Augenbrauen zusammen und ließ sich seine Worte immer und immer wieder durch den Kopf gehen, bis sie die Augen aufriss. Leonard saß da, als erwartete er einen Schlag oder so etwas, das eine Auge geschlossen und das andere ganz vorsichtig geöffnet, damit er ihre Reaktion sah. 

Sheila spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss und ihre Wangen rot wurden. Tausend Worte flogen ihr durch den Kopf und sie versuchte, die richtigen zu fassen zu bekommen. 

„Ehm... es... ich meine, nein, es hat nichts bedeutet. Es war schön und ich war froh, dass du da warst. Als Kumpel", erklärte sie und hoffte, dass Leonard es gut aufnehmen würde. Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass Leonard mehr Gefühle hatte als sie für ihn und diese ganze Situation am vergangenen Abend für ihn ganz anders gewesen war als für sie. 

Schuldbewusst senkte sie den Blick auf ihre Knie. Wenn sie sich vorstellte, dass der Kerl, in den sie aussichtslos seit Jahren verknallt war, neben ihr im Bett schlief und ihre Hand hielt, würde sie vielleicht auch Hoffnung schöpfen. 

„Gut. Wirklich gut, denn wenn du auf einmal auch Gefühle für mich entwickeln würdest, dann...", setzte Leonard an, lachte dann bitter und erhob sich. Sheila schluckte schwer, hob dann aber wieder den Kopf und suchte seinen Blick. 

„Dann?", fragte sie, auch wenn sie sich nur schwer in Leonard hineinversetzen konnte. Bevor er antwortete, wanderte er noch einen Moment vor ihr im Sand hin und her, bis er vor ihr stehen blieb und in die Hocke ging, sodass er auf einer Augenhöhe mit ihr war. 

Er stützte die Hände neben ihren Knien am Rand der Mauer ab, wobei er ganz leicht ihre Haut berührte. 

„Es klingt ein wenig verrückt, aber...", setzte er mit so leiser Stimme an, dass sie Mühe hatte ihn zu verstehen. Unwillkürlich legte sie ihm eine Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. Sein Blick wanderte für eine Sekunde zu ihrer Hand, dann sah er ihr wieder in die Augen. 

„Du weißt, dass ich schon seit ich dich das erste Mal gesehen habe, irgendwie... mehr für dich empfinde. Es ist, als hätte mich ein Blitz getroffen und mir ist bewusst, dass das ziemlich peinlich ist, in die Frau seines Cousins verliebt zu sein", setzte er an, dann stockte er. 

Sheilas Herz rutschte ihr in die Hose, denn sie erinnerte sich an den Tag zurück, als sie Leonard kennengelernt hatte. 

Es war an Weihnachten gewesen, an dem Tag, als Jonathan sie gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wollte. 

Ihre Finger klammerten sich in sein T-Shirt, denn auf einmal fühlte sie sich schlecht. Sie wollte Leonard nicht verlieren und ihn nicht gehen lassen, auch wenn es für ihn Folter sein musste, sie und Jonathan zusammen zu sehen. 

„Aber ich weiß, dass du anders empfindest und du musst mir wirklich glauben, dass ich die Hoffnung aufgegeben habe, dass zwischen uns jemals mehr sein wird. Ich weiß, dass das nicht passieren wird, wirklich. Aber als du gestern meine Hand gehalten hast...", berichtete er weiter und Sheila spürte, dass er aus seinem tiefsten Inneren sprach. 

In diesem Moment offenbarte er ihr all seine Gefühle und auch wenn sie das ehrte, machte es ihr ein schlechtes Gewissen. 

„Du musst wissen, dass ich mir seit... diesem einen Tag, als du schwach geworden bist, geschworen habe, nie wieder etwas zu versuchen, was... Ich meine, dass ich mir geschworen habe, mich nie wieder an dich ran zu machen. Du warst glücklich mit Jonathan und das habe ich akzeptiert", plapperte er weiter und jedes Wort ließ Sheilas schlechtes Gewissen wachsen, dass sie ihn in eine solche missliche Lage gebracht hatte. 

Denn sie wusste nun endlich, was er ihr sagen wollte. Sie hatte seine Hoffnung, dass zwischen ihnen beiden jemals mehr sein konnte als Freundschaft, die er eigentlich tief begraben hatte, wieder aufflammen lassen. 

Sie klammerte sich weiter an seiner Schulter fest, denn auf einmal kam sie sich wie der eigennützigste und egoistischste Mensch auf der Welt vor und sie befürchtete, ohnmächtig zu werden. Offensichtlich bemerkte Leonard das und er legte seine Hand auf ihre auf seiner Schulter. 

„Ich habe mir immer gesagt, dass ich nichts versuchen werde, bis es von dir ausgeht und... für eine Sekunde habe ich gestern Abend in meinem betrunkenen Hirn gedacht, dass du... irgendwie mehr wolltest. Aber zum Glück habe ich mir das nur eingebildet, denn... es macht mir Angst, dich Jonathan wegzunehmen, auch wenn es das ist, was ich eigentlich will", bestätigte er ihre Vermutung, dann seufzte er erleichtert und erhob sich. Ihre Hand hielt er weiterhin fest und zog daran. 

Sheila war vollkommen perplex, denn niemals hätte sie eine solche Ansprache von ihm erwartet. Leonard zog an ihrer Hand, eindeutig ein Zeichen, dass sie aufstehen sollte. Sie ließ sich von ihm auf die Beine ziehen, doch beinahe wären ihre weichen Knie eingeknickt. 

„Sheila, ich bin sogar erleichtert, dass deine Gefühle sich für mich nicht geändert haben. So bleibt alles, wie es in den letzten zehn Jahren auch schon war. Wahrscheinlich wäre ich ziemlich überfordert, wenn du auf einmal mehr von mir willst", lachte Leonard, allerdings klang seine Stimme schmerzerfüllt. Sheila umfasste seine Hand fester, bis er sie ihr entzog. 

„Es tut mir so leid, dass du wegen mir leidest. Das hast du wirklich nicht verdient", murmelte sie und spürte, wie sich Tränen in ihren Augen bildeten. 

Ja, sie hatte gewusst, dass Leonard so empfand, aber sie war sich bisher nie wirklich im Klaren darüber gewesen, dass er vielleicht unter seinen Gefühlen litt. Unerfüllte Liebe konnte schmerzhaft sein und er spürte diesen Schmerz schon wirklich lange. 

„Nein, dir muss es nicht leidtun. Es ist schon okay, ich habe es akzeptiert und... ich wollte einfach nur sicher gehen, dass sich bei dir nichts geändert hat. Wegen diesem ganzen Stress mit Jonathan und weil er dich wie den letzten Dreck behandelt, weißt du?", fragte Leonard dann schulterzuckend und setzte ein Lächeln auf. 

Sheila fühlte sich merkwürdig taub, nur ihre Tränen rannen heiß über ihre Wangen. 

„Hey, nicht weinen", hörte sie Leonard auf einmal sagen, dann spürte sie, wie er mit dem Daumen über ihre Wangen fuhr, um die Tränen wegzuwischen. Sie lachte gezwungen, wand sich dann aber aus seinem Griff. 

„Na komm, gehen wir dir neue Schuhe kaufen. Du kannst doch nicht nur in Flip Flops rumlaufen. Du Schlönz", sagte Leonard, kicherte dann aber in sich hinein und auch Sheila musste lachen. 

„Wie hast du mich genannt?", fragte sie, wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht und sah zu ihm, wie er gerade mit einem großen Schritt über die Mauer kletterte und ihr die Hand hinhielt, um ihr zu helfen. Anstatt ihr zu antworten grinste er frech und wackelte mit seiner Hand herum, damit sie sie endlich nahm. 

Sie gehorchte und ließ sich von ihm auf die andere Seite der Mauer helfen. Sofort ließ er ihre Hand wieder los und marschierte den Weg entlang in Richtung des Ausgangs aus der Hotelanlage. 

Leonards Geständnis hatte sie ziemlich aus dem Konzept gebracht, gleichzeitig bewunderte sie ihn, dass er so gefasst mit der ganzen Sache umgehen konnte. 

„Warte", rief sie ihm nach, eilte ihm hinterher und lief dann um ihn herum, sodass sie ihm im Weg stand und er stehen bleiben musste. Ohne wirklich darüber nachzudenken, streckte sie sich und schlang die Arme um ihn. 

Sie spürte, wie er sich zu ihr herunterbeugte und ihre Umarmung erwiderte, dann richtete er sich wieder zu seiner normalen Größe auf und hob sie einige Zentimeter hoch. Sheila kicherte, denn immer wieder war sie aufs Neue überrascht, wie groß er war im Vergleich zu Jonathan. 

„Ich hab dich lieb", flüsterte er leise in ihr Ohr und ließ sie anschließend, ohne eine Antwort abzuwarten, wieder herunter. Sheila hakte sich bei ihm unter, denn irgendwie fühlte es sich gut an zu wissen, dass Leonard immer für die da sein würde und dass er ganz offensichtlich seine Gefühle hinten anstellte, nur um sie glücklich zu sehen. 

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