Kapitel 62 - Jonathan

Jonathan unterhielt sich eine ganze Weile mit Mona, bis auch sie anfing, zu gähnen. 

„Bist du auch müde?", fragte er, denn auch wenn sie noch voller Energie war, musste die Wanderung heute Vormittag anstrengend für sie gewesen sein. Sie nickte und streckte die Arme nach ihm aus. Jonathan hielt sie fest an sich gedrückt und erhob sich, um sie nach drinnen ins Schlafzimmer zu bringen. 

Sie musste wirklich müde sein, denn sie war schon halb eingeschlafen, als er sie in ihr Bett legte. Hoffentlich würde sie heute Nacht noch schlafen können, wenn sie nun ein Nickerchen machte, aber Jonathan war froh, dass auch er sich nun ein wenig hinlegen konnte. 

Nachdem er Mona zugedeckt hatte, wanderte sein Blick zu Sheila, die seelenruhig im Bett lag und ebenfalls schlief. Er spürte, wie sich in seiner Kehle ein Kloß bildete, denn sie so friedlich zu sehen, ließ ihm das Herz schwer werden. 

Vorsichtig legte er sich zu ihr ins Bett, bemüht, sie nicht zu wecken. Sie lag auf der Seite, das Gesicht ihm zugewandt. Ohne wirklich darüber nachzudenken streckte er die Hand aus und streichelte ihr sanft über die Wange. Sie zuckte, ließ aber die Augen geschlossen. 

Wenn sie schlief erinnerte sie ihn immer an ihr früheres Ich, an ihr verletzliches, hilfloses und verzweifeltes Ich, so wie sie war, als er sie kennengelernt hatte. Auch wenn sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr darüber gesprochen hatten, war er noch immer ein wenig stolz auf sich, dass er sie aus ihrer vorherigen Beziehung befreit hatte. Oft hatte sie ihm gesagt, dass sie es ohne ihn nicht geschafft hätte, von ihrem gewalttätigen Ex loszukommen. Sie hatte ihn gebraucht und er hatte diese Beschützerrolle nur zu gern eingenommen. 

Jonathan wurde einmal mehr bewusst, dass sie nun keinen Beschützer mehr brauchte. Sie war stark und unabhängig geworden und sie würde mit ziemlicher Sicherheit auch allein klar kommen. 

Er spürte, wie sein Herz sich verkrampfte, als ihm klar wurde, dass sie ihn eigentlich nicht mehr brauchte. Sicherlich würde sie ihm in diesem Punkt widersprechen, aber würde sie auch nur einmal ehrlich zu sich sein, würde auch sie das erkennen. 

Sheila neben ihm zuckte noch einmal, dann schlug sie flatternd die Augen auf. Als sie ihn bemerkte, lächelte sie und rutschte näher an ihn heran. Sie schmiegte sich an ihn, als wäre alles in Ordnung. Ihre Berührungen fühlten sich gut und schmerzhaft zugleich an, ohne dass er es verhindern konnte. 

„Schlaf weiter", flüsterte er, legte den Arm um sie und schloss nun ebenfalls die Augen. Allerdings war an Schlaf noch nicht zu denken, auch wenn er müde war. 

Sie brauchte ihn nicht mehr. Das war der quälende Gedanke, der sich mehr und mehr in sein Hirn fraß und ihn nicht zu Ruhe kommen ließ. Vielleicht war das genau sein wunder Punkt, die Ursache für seine Eifersucht. Er war derjenige, der sie bisher immer beschützt und ihr geholfen hatte, nicht zurück in den Abgrund zu rutschen, aus dem er sie gezogen hatte. Nun schaffte sie es allein, nicht hinunterzufallen und vielleicht spürte sein tiefstes Inneres, dass sie keinen Beschützer mehr brauchte. Sie brauchte jemanden, der ihr ebenbürtig und genau so stark war, wie sie es geworden war. 

Jonathan war klar, dass er dieser jemand nicht sein konnte, denn er war in seiner Rolle als Beschützer ganz und gar aufgegangen. Nicht, dass er eine unterwürfige Frau wollte, ganz im Gegenteil, aber es hatte ihn bestärkt, dass sie sich so sehr auf ihn stützte. 

Seit einigen Monaten, oder waren es inzwischen Jahre, war sie aus ihrer Rolle ausgebrochen und ganz offensichtlich kam er damit nicht zurecht. Er hatte Angst, dass sie mit ihm nichts mehr anfangen konnte und bemerkte, wie gering sein Selbstvertrauen doch eigentlich war. 

Sicher, nach außen hin gab er sich oft so, als würde er alles schaffen, aber innerlich fühlte er sich ganz anders. Er hatte Angst, dass Sheila keinen Beschützer mehr wollte, sondern jemanden wie Leonard, der zwar auch eindeutig einen Beschützerinstinkt ihr gegenüber hatte, aber seiner war von ganz anderer Natur. 

Er wollte, dass sie ihre eigenen Entscheidungen traf und sie sich dadurch besser fühlte, während er selbst Sheila die Entscheidungen abnehmen wollte, oder ihr zumindest helfen wollte, wichtige Entscheidungen zu treffen. 

Jonathan kam sich selbst bescheuert vor, dass er so rational über ihre Beziehung dachte, aber irgendwie musste er seine wirren Gedanken sortieren. 

Unwillkürlich zog er Sheila fester an sich, was sie jedoch aufweckte. Verschlafen streckte sie sich und rieb sich die Augen. 

„Hey", hauchte sie und schmiegte sich enger an ihn. Sie seufzte genüsslich und schien sich in seinen Armen mehr als wohlzufühlen. 

„Sheila", hörte er sich leise sagen, ohne dass er darüber nachgedacht hatte. Sofort schlug sie die Augen auf und sah ihn fragend an, gleichzeitig wirkte sie besorgt. Jonathan wusste nicht, wie er ihr von seinen Gedankengängen erzählen sollte, sie fühlten sich irgendwie nicht greifbar an. 

„Was ist los?", fragte sie sanft und einfühlsam, doch seine Kehle fühlte sie an wie zugeschnürt. Kein Wort wollte über seine Lippen, auch wenn er wusste, dass Sheila verständnisvoll war. 

„Sag es schon, egal was es ist", forderte sie, während sie anfing, mit dem Finger Muster auf seiner Brust zu zeichnen. Ihre Berührung brachte ihn aus dem Konzept, denn meistens tat sie das, wenn sie mit ihm ins Bett wollte. 

Panisch griff er nach ihrer Hand und hielt sie fest. Erschrocken riss sie die Augen auf, blieb aber stumm und sah ihn weiterhin an. Sie erwartete, dass er etwas sagte, das war eindeutig. 

Verzweifelt suchte er nach einem Gedanken, den er aussprechen musste, doch er landete immer und immer wieder bei Leonard und der Tatsache, dass er Sheila schon seit Jahren anschmachtete. Er wusste allerdings, dass sie davon nur genervt sein würde, also behielt er es für sich. In seinem Kopf fühlte sich schon alles wund und wirr an, aber es auszusprechen war noch schwieriger. 

„Du denkst oft an Leonard und mich, habe ich recht?", fragte sie dann und ohne darüber nachzudenken, nickte er. Gleichzeitig spürte er das gewohnte Gefühl von Wut in sich aufsteigen, doch Sheila schaffte es durch ihre sanfte Berührung ihrer Hand in seiner ihn auf dem Boden der Tatsachen zu halten. Er sah, wie sie innerlich die Augen verdrehte und sich zu einem Lächeln zwang. 

„Das musst du nicht. Ganz ehrlich, mach dir keine Gedanken wegen ihm", sagte sie ruhig, allerdings fing ihre Stimme an zu zittern. 

Jonathan seufzte, denn sie würde seinen Standpunkt einfach nicht begreifen. Sie schien nicht zu erkennen, wie sie und Leonard sich zusammen verhielten, wie vertraut und... auf einer Augenhöhe sie sich begegneten. 

„Bitte, ich will dich nicht wegen so etwas verlieren", flehte sie, nun eindeutig den Tränen nahe. Jonathans Herz schlug ihm bis zum Hals, denn auch er wollte nicht, dass es mit ihnen auseinander ging, aber er hatte keine Ahnung, wie er sich selbst davon überzeugen konnte, dass Sheila und er noch eine Chance hatten. 

„Es ist...", setzte er an und suchte händeringend nach den passenden Worten. Geduldig und gleichzeitig angespannt sah Sheila ihn an, während sich ihre Hand an seiner festklammerte. 

„Für mich fühlt es sich so an, als würde Leonard besser zu dir passen, als ich. Früher hast du mich gebraucht, ich konnte dich beschützen und dich davor bewahren, wieder an Ville zu denken aber... das bekommst du jetzt alles allein hin und meine... Aufgabe ist in gewisser Weise erfüllt", sagte er und spürte in diesem Moment, dass es die richtigen und die falschen Worte zugleich waren. 

Sie waren insofern richtig, dass sie seien Gefühle einigermaßen widerspiegelten und Sheila ihn so vielleicht im Ansatz verstehen konnte, gleichzeitig verletzten sie sie. Kaum dass er sie ausgesprochen hatte, rann ihr eine Träne über die Wange, die er eilig mit dem Finger auffing. 

„Du siehst unsere Beziehung als eine Aufgabe? Wie Hausaufgaben, die du jetzt erledigt hast und nun die nächste Seite aufschlägst?", fragte sie und rutschte ein Stück von ihm weg. Sofort spürte er ihre Abwesenheit, auch wenn sie sich nur wenige Zentimeter entfernt hatte. 

„Nein, ich... es ist eher so, dass du weitergehen musst. Du brauchst mich nicht mehr als deinen... als denjenigen, der dich aus dieser schlimmen Beziehung rettet. Das hast du hinter dir gelassen und ich war nur ein Mittel zum Zweck", sagte er, was ihr einen erstickten Laut entfahren ließ. 

Mehr und mehr Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie anfing, immer und immer weiter den Kopf zu schütteln. 

„Du schiebst mir die Schuld zu?", fragte sie mit erstickter Stimme, doch eilig schüttelte er den Kopf. 

„Nein, so ist es doch gar nicht. Ich spüre nur, dass du... in gewisser Weise an mit vorbeigegangen bist", versuchte er es weiter zu erklären, doch Sheila schüttelte immer heftiger den Kopf. 

„Wenn du Schluss machen willst, aus welchem Grund auch immer, dann tu es jetzt. Schieb mir nicht die Schuld zu und behaupte, ich würde dich nicht mehr brauchen oder so einen Blödsinn. Du weißt, das stimmt nicht und du suchst nur Rechtfertigungen. Also los, mach schon Schluss, denn das ist es, was du willst, habe ich recht?", fragte sie überraschend laut und bevor er antworten konnte, sprang sie aus dem Bett, verschränkte die Arme vor der Brust und fing an, unruhig auf und abzugehen. 

Panisch warf Jonathan einen Blick zu Mona, die Gott sei Dank von dem ganzen Streit nichts mitbekam. Sheilas Worte trafen ihn direkt ins Herz, denn sie glaubte ganz offensichtlich, er liebte sie nicht mehr und schob das Unvermeidliche nur noch vor sich her. 

Glaubte sie etwa, dass er sie loswerden wollte, indem er sich wie ein Arsch aufführte? Sie zitterte am ganzen Körper und sie weinte noch immer, bis sie plötzlich stehen blieb und ihn anstarrte. 

„Sag schon. Es ist deine letzte Chance. Wenn du jetzt nicht Schluss machst, dann musst du dich zusammenreißen", sagte sie mit überraschend fester Stimme und Jonathan fühlte sich augenblicklich überfordert. Es war ungewohnt, dass Sheila ihm ein Ultimatum stellte, gleichzeitig versetzte ihn der Gedanke, von ihr getrennt zu sein, in Panik. 

Er zwang sich aufzustehen, allerdings fühlten sich seine Beine an wie aus Pudding. Wollte er wirklich, dass er und Sheila sich trennten? Dass einer von ihnen auszog und sie sich nur noch trafen, um Mona zu übergeben, da sie mal hier und mal dort ihre Zeit verbrachte? 

Nein, das wollte er nicht. 

Gleichzeitig wusste er, dass es so auch nicht mehr lange gut ging und Sheila ihn irgendwann verlassen würde, wenn er so weitermachte. Vollkommen überfordert, was er nun tun sollte, breitete er die Arme aus. Es war eher ein Hilfeschrei, denn natürlich liebte er sie und tief in sich drin wusste er auch, dass sie nur in dieser Situation waren, weil er irgendwelche Komplexe hatte. 

Allerdings provozierte Sheila manchmal auch einen Streit, indem sie mit Leonard herumalberte, mit ihm im Meer planschen ging und solche Dinge. Sheila blieb ungerührt stehen und musterte ihn. 

„Du musst schon etwas sagen", schluchzte sie, offensichtlich kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Jonathan trat näher an sie heran und berührte ganz sanft ihren Arm, bis er sie mehr reflexartig als bewusst in eine feste Umarmung zog. 

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sie erwiderte, doch dann schmiegte sie sich an ihn und küsste seinen Hals. 

„Ich weiß, dass es an mir liegt, aber ich kann es auch nicht abschalten", flüsterte er leise, auch wenn das keine Lösung für ihr Problem war. 

„Wenn dir etwas an dieser Ehe liegt, dann musste du es versuchen. Ich meine... es ist nicht unserer erste Krise, die wir überstanden haben", erwiderte sie und erinnerte ihn schmerzlich an seine vorherigen Ausraster. 

Damals war es genau wie jetzt gewesen, wenn auch nicht so extrem. Dennoch nickte er, löste sich ein wenig von ihr und suchte ihren Blick. In ihr arbeitete es, das konnte er sehen, aber er war sich nicht sicher, ob er wissen wollte, was in ihr vorging. 

Sie schien sich ihrer Sache sicher zu sein, wohingegen er sich fühlte, als klammerte er sich an einem Rettungsring fest und wurde immer und immer wieder von Wellen unter Wasser gedrückt. Bald würde er ertrinken, wenn sich nichts änderte. 

„Ich weiß, ich muss mich zusammenreißen. Aber dich mit ihm zusammen zu sehen, zerreißt mir das Herz", sagte er, was Sheila seufzen ließ. 

„Ich weiß, aber... ich rede doch nur ganz normal mit ihm. Ich flirte nicht und er auch nicht. Es ist nichts zwischen uns, rein gar nichts", erklärte sie eindringlich und auch wenn er nickte, glaubte er ihr nicht. 

Vielleicht sah sie es noch nicht, aber zwischen ihr und Leonard war eindeutig mehr, als ihr bewusst war. Mit sanfter Gewalt löste sie sich von ihm, hielt aber seine Hand fest. 

„Es fällt mir wirklich schwer, aber... vielleicht sollten wir ein wenig Abstand bekommen. Ich meine nicht...", setzte sie an, unterbrach sich aber. 

„Abstand?", entfuhr es ihm, denn würde sie hier im Urlaub auf Abstand gehen wollen, trieb sie das ohne Zweifel ins Leonards Arme. Sheila zuckte zusammen, nickte dann aber. 

„Ich meine, vielleicht könntest du einen Tag mit Mona und Leonard verbringen und ich gönne mir einen Tag Pause. Ich muss einfach mal abschalten", erklärte sie und Jonathan fiel ein Stein vom Herzen, dass sie nicht vorschlug, dass er und Mona wegfuhren, während sie hier mit Leonard allein blieb. 

Es fiel ihm schwer es zuzugeben, aber sie hatte recht. Sie schafften es kaum fünf Minuten lang, sich nicht zu streiten und das nagte nicht nur an ihm. Es sprach nichts dagegen, wenn sie ein oder vielleicht auch zwei Tage allein blieb, wenn es ihr half, abzuschalten. 

„Okay, ich kann nachher beim Essen mit Leonard reden. Aber... du bleibst nicht allein hier mit ihm", sagte er streng und sofort nickte sie. 

„In Ordnung", erwiderte sie ernst und klang überraschenderweise nicht so, als würde es sie stören. Jonathans Mundwinkel zuckten, denn zum ersten Mal seit Beginn ihrer Reise spürte er so etwas wie echte Hoffnung, dass er diese Sache hier endlich lösen konnte. 

Natürlich würde ein Tag Pause voneinander nicht ihr Problem lösen, aber es half ihnen beiden, rational zu denken. 

„Komm her", forderte er dann und trat ohne eine Antwort von ihr abzuwarten einen Schritt näher an sie heran. 

„Wir kriegen das hin, habe ich recht?", fragte er nah an ihrem Ohr und er spürte, wie sie nickte. Sie legte ihre Hand an seine Brust und küsste ihn auf die Wange, bis schließlich ihre Lippen seine fanden.

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