Kapitel 60 - Jonathan
Jonathan wurde mit jeder Minute, die verstrich, nervöser. Aus fünf Minuten waren nun schon dreißig geworden und er war sich unsicher, ob das Gefühl, das er empfand, blinde Wut war oder Besorgnis.
Auf jeden Fall machte es ihn verrückt und am liebsten wäre er aufgesprungen, hätte die Tür von Leonards Zimmer eingetreten und sich Sheila geschnappt und sie dahin gebracht, wo sie hingehörte. Nämlich zu ihm und ihrer Tochter.
Kopfschüttelnd über seine nicht wirklich hilfreichen Gedanken richtete er den Blick wieder auf Mona, die gerade schaukelte. Als Sheila nach zehn Minuten nicht zurückgekommen war, hatte er entschieden, mit Mona auf den Spielplatz der Hotelanlage zu gehen.
Er saß auf einer Bank im Schatten einer Palme, während sie mit den anderen Kindern spielte. Stundenlang hätte er ihr einfach nur zusehen können, würde er nicht wissen, dass Sheila mit Leonard in seinem Zimmer verschwunden war und das auch schon einer einer verdammten halben Stunde.
Jonathans Hirn dachte sich die verrücktesten Dinge aus, die die beiden taten, aber gleichzeitig flehte er, dass sie nur redeten. Wobei, auch das störte ihn eigentlich. Noch vorhin hatte Sheila mit ihm über ihre Gefühle reden wollen, so wie sie es wieder tun wollten, doch stattdessen schüttete sie lieber Leonard ihr Herz aus. Ausgerechnet Leonard, von dem sie wusste, dass er in sie verliebt war.
Wahrscheinlich nutzte Leonard die Gelegenheit, dass zwischen ihm und ihr im Moment eine gewisse Spannung herrschte und bot ihr ein offenes Ohr an, um sich an sie heranzumachen. Natürlich fühlte sie sich dann besser, wenn sie mit ihm redete, immerhin machte er einen auf verständnisvoll, wobei er doch der Grund für die Streits waren. Er und die Tatsache, dass er schon von Anfang an in seine Frau verliebt war.
Jonathan biss sie auf die Zunge, um sich wieder in die Realität zurückzuholen, doch es gelang ihm nicht wirklich. Immer und immer wieder musste er daran denken, was Sheila und Leonard womöglich in seinem Zimmer, in seinem Bett genauer gesagt, miteinander taten.
Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass es so einfach nicht mehr weiterging. Es würde bald platzen, wenn er Sheila und Leonard weiterhin zusammen sah, vor allem wenn sie glücklich bei Leonard war und todtraurig bei ihm selbst.
Er hatte gleich gewusst, dass dieser Urlaub eine blöde Idee war, auch wenn ihm klar war, dass er sich höchstwahrscheinlich mehr als nötig in die Sache hineinsteigerte.
„Hi", riss ihn eine Stimme aus seinen Grübeleien und im ersten Moment hatte er gehofft, es wäre Sheila, doch schnell wurde er enttäuscht. Neben ihm saß eine Frau, die er um die dreißig schätzte. Sie sah einem Mädchen hinterher, das zu Mona und den anderen spielenden Kindern lief.
„Sprichst du deutsch?", fragte die Frau weiter und notgedrungen sah er sie genauer an. Sie hatte blondes Haar, gebräunte Haut und jede Menge Sommersprossen im Gesicht. Ihr T-Shirt war ein wenig zu eng für ihre rundliche Figur, doch sie wirkte nett.
„Ja, ich... ja", antwortete er und kam sich vollkommen bescheuert vor. Er hatte nicht damit gerechnet, dass jemand ihn ansprechen würde.
„Welches Kind ist deins?", fragte sie dann weiter und er deutete auf Mona.
„Die mit dem blauen T-Shirt", sagte er und als hätte Mona gehört, dass er über sie redete, sah sie für einen Moment zu ihm und winkte. Sofort legte sich ein Lächeln auf seine Lippen und er winkte zurück.
Mona war in diesen Moment der Verzweiflung sein einziger Bezugspunkt zur Realität, das wusste er und ihm war durchaus bewusst, dass das nicht gut war. Wäre Mona nicht hier, würden die Streits zwischen ihm und Sheila ganz anders aussehen.
„Wie heißt du?", fragte die Frau neben ihm weiter und ohne darüber nachzudenken sagte er es ihr.
„Und du?", setzte er eilig nach, denn es wäre unhöflich, sie nicht danach zu fragen. Dennoch wollte er, dass sie verschwand oder zumindest den Mund hielt, er war einfach nicht in Stimmung für Spielplatz-Small-Talk.
„Nicole", stellte sie sich vor und hielt ihm die Hand hin. Ein wenig zögerlich nahm er sie und drückte sie für eine Sekunde. Ihr Hand war ganz weich und fühlte sich so anders an als die von Sheila.
„Freut mich", erwiderte Nicole, doch er antwortete nur noch mit einem gezwungenen Lächeln.
Sollte Sheila nicht bald auftauchen, würde er wohl oder übel nach ihr sehen. Unwillkürlich wanderte sein Blick in die Richtung, in der ihr Hotelzimmer lag und tatsächlich erkannte er sie ein gutes Stück entfernt. Sie war allein, die Hände in die Hosentaschen geschoben und den Blick auf den Boden gerichtet.
Jonathan setzte sich ein wenig aufrechter hin und beobachtete sie, bis sie schließlich den Blick hob. Wie zwei Magnete trafen sich ihre Blicke sofort und er hob die Hand. Sheila erwiderte den Gruß, beschleunigte dann ihre Schritte und kam zu ihnen auf den Spielplatz. Jonathan bemerkte, dass an ihrem Knie noch immer ein wenig Staub von ihrem Sturz vorhin klebte.
„Hier seid ihr", sagte sie, als sie in Hörweite war. Ihre Stimme klang ausdruckslos und Jonathan spürte das drängende Verlangen, sie zu packen und sie zu zwingen, ihm alles bis ins kleinste Detail zu erzählen, was sie in den letzten vierzig Minuten getan hatte.
„Wo ist Leonard?", fragte er, woraufhin Sheila die Schultern zuckte.
„Er ist in seinem Zimmer, wollte sich noch etwas ausruhen hat er gesagt", berichtete sie nüchtern, dann wanderte ihr Blick neben ihn. Erst da fiel ihm wieder ein, dass ja diese Frau neben ihm saß. Kaum dass er zu ihr hinübersah, erkannte sie ihren musternden Blick.
„Oh, das ist Sheila, meine Frau", stellte er Sheila vor, woraufhin Nicole auch ihr die Hand hinhielt und sich vorstellte. Sheila nahm sie und wirkte dabei genau so verunsichert, wie er sich vorhin gefühlt hatte.
„Gibst du mir die Schlüsselkarte? Ich muss mich umziehen, ich bin noch voller Staub", fragte Sheila und sofort nickte er. Anstatt ihr die Karte zu geben, erhob er sich und rief nach Mona, die sofort zu ihm kam.
„Mama und ich gehen ins Zimmer. Möchtest du noch hier bleiben, bis wir dich abholen?", fragte er sie und Mona nickte.
„Ich spiele noch...", setzte sie an und legte dann den Finger ans Kinn, als würde sie überlegen.
„Noch 23 Minuten und dann komme ich", erklärte sie dann und verschwand wieder zu den anderen Kindern in den Sandkasten. Sheila kicherte.
„Okay, 23 Minuten", sagte sie leise, griff dann nach seiner Hand und zog ihn mit sich. Jonathan warf einen Blick über die Schulter und nickte Nicole zu, eigentlich nur aus Höflichkeit. Diese erwiderte das Nicken, doch er spürte, dass sie ihm nachsah. Jonathan ignorierte es und ging gemeinsam mit Sheila zurück zu ihrem Zimmer.
Brennende Fragen bohrten sich in sein Hirn, doch er beschloss, sie erst im Zimmer darauf anzusprechen. Er wollte nicht in aller Öffentlichkeit mit ihr streiten, denn dass es einen Streit geben würde, stand außer Frage. Immerhin war sie für vierzig Minuten mit einem Typen in seinem Zimmer verschwunden, der Gefühle für sie hatte und nun wollte sie sich umziehen?
Unweigerlich musste er daran denken, wie Sheila und Leonard hinter seinem Rücken eine Affäre anfingen, auch wenn er tief in sich drin wusste, dass das Quatsch war.
Er beschleunigte seine Schritte, bis er schließlich mit zitternden Fingern die Schlüsselkarte in des Lesegerät schob und die Tür aufstieß. Sein Atem beschleunigte sich und er sah Sheila eindringlich an, während sie in aller Seelenruhe die Tür hinter sich schloss und an ihm vorbei zu ihrem Kleiderschrank ging. Er folgte ihr mit dem Blick, die Arme vor der Brust verschränkt und suchte nach Anzeichen eines schlechten Gewissens.
„Waren aber lange fünf Minuten", bemerkte er, was sie in ihrer Bewegung innehalten ließ. Gerade hielt sie ein frisches T-Shirt in den Händen und verwirrt sah sie ihn an.
„Ja, ich habe nicht auf die Uhr geachtet. Er... hat mir zugehört und es tat gut, mit einem Außenstehenden über alles zu reden", antwortete sie, was Jonathan verächtlich schnauben ließ. Leonard war kein Außenstehender, sondern er hing mitten drin in dieser ganze Misere.
Kopfschüttelnd stürmte Sheila an ihm vorbei und verschwand ins Bad. Sie knallte die Tür hinter sich zu, doch Jonathan riss sie sofort wieder auf. Er musste wissen, was zwischen den beiden passiert war. In seinem Kopf formten sich die Worte, die er ihr am liebsten entgegengeschleudert hätte, doch als er sie sah, blieb ihm alles im Halse stecken.
„Na los, frag schon, was du fragen willst", sagte sie bedrohlich ruhig und auch irgendwie herausfordernd. Jonathan schluckte schwer, doch dann fasste er einen Entschluss. Es half ihm auch nicht weiter, wenn sie sich anschwiegen oder nur kryptisch miteinander redeten.
„Hast du mit ihm geschlafen? Gerade eben, meine ich?", fragte er, doch kaum dass seine Lippen sich bewegten, setzte in seinen Ohren ein Piepen ein. Sheilas Reaktion kam prompt und unerwartet.
Sie lachte. Nein, sie lachte ihn aus, was ihn unglaublich wütend machte. Sie nahm ihn und seine Sorgen nicht ernst und zog es ins Lächerliche.
„Du spinnst", sagte sie schließlich, wandte sich von ihm ab und fing an, ihre staubigen Klamotten auszuziehen. Jonathan beobachtete sie, aber er wollte eine richtige Antwort.
„Hast du?", fragte er erneut und er sah, dass sie ihn im Spiegel über dem Waschbecken ansah. Sie blieb stumm, bis sie sich umgezogen hatte, dann drehte sie sich wie in Zeitlupe wieder zu ihm um und lehnte sich mit der Hüfte ans Waschbecken.
Sie musterte ihn aufmerksam, dann schüttelte sie den Kopf.
„Nein, ich habe nicht mit ihm geschlafen. Weder gerade eben noch sonst irgendwann und ich habe es auch nicht vor", sagte sie überraschend ruhig und beherrscht, dann ging sie an ihm vorbei ins Schlafzimmer.
Sie ließ sich mit einem Seufzen aufs Bett fallen und griff nach ihrem Handy, das auf dem Nachttisch lag. Jonathan spürte, wie sein Herz heftig anfing zu pochen, denn er glaubte Sheila. Sie war nicht der Typ, der jemanden anlog und er war sich ziemlich sicher, dass sie ihm die Wahrheit sagen würde.
Langsam ging er zu ihr und legte sich neben sie ins Bett. Sie lag auf der Seite, die Beine angezogen und den Rücken zu ihm gewandt. Vorsichtig schob er sich näher an sie heran, bis er ihre Wärme an seiner Brust spürte. Sie ließ es zu, erwiderte aber seine Annäherungsversuche nicht. Sanft schob er ihr das Haar über die Schulter und küsste sie darauf.
Erst da legte sie ihr Handy weg, drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Sie starrte an die Decke, doch ihre Augen wanderten von links nach rechts.
„Du hast wirklich gedacht, ich würde mit ihm ins Bett gehen?", fragte sie nach einer Weile und auch wenn ihre Stimme neutral klang, schwang ein riesiger Vorwurf darin mit. Jonathan wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
„Warum begreifst du nicht, dass ich nicht an ihm interessiert bin? Nicht in dieser Weise. Durch dein Verhalten machst du alles kaputt zwischen uns", sagte sie und Jonathan wurde sofort klar, dass sie diese Dinge nicht gesagt hätte, wenn Leonard sie nicht bequatscht hätte. Er trieb einen Keil zwischen sie und Sheila bemerkte es noch nicht einmal.
„Es ist nicht allein meine Schuld", verteidigte er sich, doch Sheilas strenger Blick ließ ihn verstummen.
„Nein, vielleicht könnte ich auch einfach den Kontakt zu ihm abbrechen und nur noch mit dir reden und sonst mit niemand anderem mehr. Das ist es anscheinend, was du von mir erwartest. Aber das kann ich nicht erfüllen", fuhr sie fort. Jonathan schluckte schwer.
„Das hast du ja toll mit ihm einstudiert", erwiderte er kalt, denn es stand außer Frage, dass Sheila genau das mit Leonard getan hatte. Er hatte ihr Tipps gegeben, was sie zu ihm sagen sollte.
Sheila stieß einen erstickten Laut aus, schüttelte den Kopf und wandte den Blick in die entgegengesetzte Richtung zu ihm.
„Was hat sich nur zwischen uns verändert, dass es so geworden ist?", fragte er und erinnerte sich, dass er genau das Gleiche auf dem Vulkan gedacht hatte. Sheila drehte ganz langsam den Kopf wieder zu ihm und sah ihn anklagend an.
Es dauerte einen Moment, bis er begriff, was sie mit diesem Blick sagen wollte. Sie war der Meinung, dass er sich verändert hatte. Dass er Schuld an den ganzen Streits war und dass er Verantwortliche für das Scheitern ihrer Ehe war.
Denn würde sich nicht bald eine Lösung finden, war sie das eindeutig. Er fühlte sich, als würde Eis durch seine Adern fließen, denn er hatte absolut keine Idee, wie er das alles noch retten konnte, wenn Sheila nicht bereit war, den Kontakt mit Leonard auf das Notwendige zu reduzieren.
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