Kapitel 29 - Sheila

Sheila lehnte sich mit dem Rücken an den Türrahmen der Küchentür, sodass sie wenn sie nach links sah den Backofen im Blick hatte und wenn sie nach rechts sah direkt bemerken würde, wenn Jonathan und Mona in die Einfahrt fuhren. 

In der Hand hielt sie ihr Handy und las immer und immer wieder die Nachricht, die sie an Karim geschrieben hatte. Sie erkannte, dass er sie gelesen hatte, aber er antwortete ihr nicht. Vielleicht war er beleidigt, dass sie so unangemessen reagiert hatte, aber sie war noch immer der Meinung, dass er es ihr hätte früher sagen sollen. Auch nach einer weiteren Minute des Starrens auf das blöde Display antwortete er nicht und Sheila legte ihr Handy neben sich auf der kleinen Kommode ab. 

Dennoch kreisten ihre Gedanken unentwegt um Karim. Wie sollte es nun mit dem Studio weitergehen? Sie würde mit Jonathan reden müssen, ob sie sich auch allein die Miete würden leisten können. Gleichzeitig kamen ihr berechtigte Zweifel, ob es ohne Karim überhaupt noch einen Sinn hatte, weiterzumachen. Sicher, sie könnte auch als Solotänzerin zu Vortanzen gehen, aber das war nicht wirklich das, wofür sie in den letzten Monaten trainiert hatten. Sie würde alles ändern müssen und eigentlich mochte sie die Zusammenarbeit mit einem Partner. 

Missmutig seufzte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie wusste wirklich nicht, wie sie sich nun verhalten sollte, aber sie versuchte, die Entscheidung wie es weitergehen sollte, von sich wegzuschieben. 

Heute sahen ihre Pläne anders aus und vielleicht könnte sie Leonard um Rat fragen. Oder vielleicht erst einmal eine Nacht drüber schlafen, denn Jonathan sagte immer, dass die Welt morgen schon ganz anders aussehen würde und sie musste zugeben, dass er meistens recht hatte. 

Dennoch fiel es ihr schwer, abzuschalten, vor allem wenn sie allein war. Sie warf noch einmal einen Blick zum kleinen Wecker auf der Arbeitsfläche, der in dreizehn Sekunden klingeln würde. 

Sie stieß sich vom Türrahmen ab und öffnete den Backofen, um den Kuchen anzupieksen. Ein wenig ungelenk griff sie nach dem Piekser und stach ein Loch in den Kuchen. Sie beschloss, dass er fertig war und schaltete den Backofen aus, ebenso wie den Wecker. Vorsichtig nahm sie mit den dicken Ofenhandschuhen den Kuchen heraus und musste zugeben, dass er ziemlich verlockend roch. 

Seit Leonard öfter zu Besuch kam, hatte sie eine neue Leidenschaft entdeckt. Früher hatte sie nie gebacken, aber in den letzten Monaten machte es ihr wirklich Spaß, neue Rezepte auszuprobieren. 

Auch Jonathan schien das zu gefallen, denn er hatte in letzter Zeit ein wenig zugenommen. Aber Sheila störte es nicht und es freute sie, wenn er ihr Komplimente über ihren gelungen Kuchen machte. Sie löste den Kuchen aus der Form und stellte ihn zum Abkühlen nach draußen auf die Veranda. 

Heute war ein wirklich schöner Tag, zumindest was das Wetter betraf. Für einen Moment blieb sie in der angenehm warmen Sonne stehen und spürte den leichten Wind, der ihr einzelne Haarsträhnen ins Gesicht blies. 

Im Hintergrund hörte sie, wie ein Auto in ihre Einfahrt fuhr und eilig riss sie sich aus ihrer entspannten Haltung und betrat wieder das Haus. Sie ging in den Flur, um Mona und Jonathan die Haustür zu öffnen, doch als sie den Umriss durch das milchige Glas sah, wusste sie sofort, dass es nicht Mona und auch nicht Jonathan war. 

Es war eindeutig Leonard, der wie immer drei Mal klingelte. Ein wenig überrascht, dass er schon so früh da war, öffnete sie ihm die Tür. 

„Hey", begrüßte sie ihn und trat einen Schritt beiseite, damit er hereinkommen konnte. Erst als er an ihr vorbeiging, betrachtete sie ihn genauer. Er grinste und wirkte ziemlich fröhlich, was Sheila ebenfalls lächeln ließ. 

„Du siehst zufrieden aus", bemerkte sie, während sie hinter ihm die Tür wieder schloss. 

„Oh, ja. Es ist doch okay, dass ich jetzt schon da bin, oder?", fragte er und auf einmal schlich sich so etwas wie Verunsicherung in seinen Blick. 

„Ja klar, wieso denn nicht? Ich habe dich zwar noch nicht erwartet, aber...", sagte sie, beendete den Satz mit einem Schulterzucken und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, dass er ihr folgen sollte. 

„Ich habe schon etwas früher frei, mein letzter Termin hat abgesagt", berichtete er. Sheila wusste gar nicht, was genau er beruflich machte, sie wusste nur, dass es irgendetwas mit Immobilien zu tun hatte. 

Erst da fiel ihr auf, dass er noch immer ein langärmeliges, weißes Hemd trug, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. 

„Bist du direkt von der Arbeit gekommen?", fragte sie und deutete mit dem Kopf auf sein Hemd. Leonard sah an sich herunter, als hätte er vergessen, dass er noch seine Arbeitsklamotten trug, doch dann nickte er. 

„Ja, ich...", setzte er an und sah dann auf einmal hilfesuchend zu ihr. Sofort war sie alarmiert, denn eigentlich war Leonard immer gut gelaunt. 

„Komm", forderte sie ihn auf, packte ihn am Ellbogen und zog ihn auf die Veranda und drückte ihn auf die Bank, die dort unter dem Fenster stand. Mit einem Seufzen ließ er sich nieder, doch Sheila bemerkte, dass sein Blick am Kuchen hängen blieb, der nun vor ihm auf dem Tisch stand. Sheila setzte sich neben ihn und betrachtete ihn einen Moment. Er wirkte nervös, aber auch irgendwie zufrieden. 

„Was ist los?", fragte sie, denn er war ganz offensichtlich hier, um etwas loszuwerden. 

„Ich wollte dich etwas fragen", setzte er dann an, wich aber absichtlich ihrem Blick aus. 

„Was denn?", fragte sie, allerdings fingen ihre Gedanken sofort an zu kreisen. Was wollte er schon von ihr wissen wollen, das so wichtig war, dass er noch nicht einmal nach Hause gefahren war, um sich umzuziehen? 

Leonard antwortete nicht und zog stattdessen sein Handy aus seiner Hosentasche. Er klickte darauf herum und hielt es dann Sheila unter die Nase. Neugierig nahm sie es und bemerkte, dass er ihr offensichtlich eine ellenlange Nachricht von Kathi zeigen wollte. Bevor sie sie las, suchte sie noch einmal seinen Blick und zu ihrer Überraschung fand sie ihn sofort. 

„Lies und sag mir dann, was ich tun soll", sagte er tonlos, als wüsste er wirklich nicht, was er machen sollte. Sheila schluckte, denn sie wollte ihm nur ungern irgendwelche Beziehungstipps geben, gerade nachdem sie ihm schon einmal gesagt hatte, dass sie Kathi nicht mochte. 

„Okay", sagte sie langsam und fing dann an, die Nachricht durchzulesen. 

„Leonard, wie du weißt, wollte ich nicht mehr mit dir zusammen sein. Ich war eifersüchtig auf sie, aber jetzt, wo ich darüber nachgedacht habe, denke ich anders darüber. Anscheinend magst du sie wirklich, aber mich magst du auch. Ich habe mich gefragt, ob ich damit leben kann, dass sie immer neben mir steht. Wäre sie nicht verheiratet, dann würde ich ganz klar Nein sagen, aber... wenn du es auch willst, dann will ich wieder mit dir zusammen sein. Bitte komm doch heute Abend zu mir, dann reden wir über alles", las sie und es dauerte einen Moment, bis Sheila begriff, dass Kathi mit „sie" sie selbst meinte. 

„Oh", brachte sie nur hervor und reichte Leonard das Handy zurück. Sie spürte, wie ihr Herz gegen ihre Rippen schlug, denn dass Kathi offensichtlich immer noch der Ansicht war, dass sie und Leonard zu eng befreundet waren, schmerzte sie. 

Ja, sie hatte vor einigen Jahren diesen einen schwachen Moment gehabt mit ihm, aber eigentlich hatte sie nie mehr als Freundschaft für ihn empfunden und sie war sich sicher, dass sich daran auch nie etwas ändern würde. 

„Genau, oh habe ich mir auch gedacht", kommentierte er, warf sein Handy neben den Kuchen auf den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Sheila fühlte sich hilflos, denn sie hatte ihn noch nie wirklich verzweifelt gesehen. 

„Was willst du denn? Ich meine... willst du wieder mit ihr zusammen sein?", fragte sie, doch er zuckte nur die Schultern. 

„Ich habe keine Ahnung, deswegen frage ich dich ja", erwiderte er, doch Sheila verzog nur das Gesicht. 

„Ich kann dir dabei doch nicht helfen, was du willst. Sie... naja, ich meine, sie war schon ziemlich gemein zu dir und wirklich nett fand ich sie auch nicht. Aber ich habe sie ja auch nicht wirklich richtig kennengelernt", sagte sie und hoffte, dass er es irgendwie verstehen konnte. Noch immer mit den Händen vor dem Gesicht nickte er, dann schüttelte er den Kopf. 

„Weißt du, ich dachte wirklich für ein paar Monate, dass ich jemanden gefunden habe, aber als sie einfach so gegangen ist, ist mir wieder eingefallen, dass ich mich eigentlich schon mit dem Alleinsein abgefunden hatte", sagte er und Sheila nickte. 

Allerdings wurde ihr bei der Vorstellung, dass sie ganz allein wäre, mulmig zumute. Würde Jonathan sie irgendwann verlassen, vielleicht wenn Mona alt genug war, um auf eigenen Beinen zu stehen, würde sie mit ziemlicher Sicherheit eingehen wie eine Blume. Sie brauchte jemanden um sich herum, wohingegen Leonard immer allein zurecht gekommen war. 

„Vielleicht hörst du dir erst einmal an, was sie zu sagen hat und entscheidest dich dann", schlug sie vor, doch er schüttelte entschieden den Kopf. 

„Nein, ich sollte diese Entscheidung ohne sie treffen. Denn wenn ich bei ihr bin und sie mich volllabert, knicke ich bestimmt ein und bereue es nachher", sagte er, dann hob er auf einmal den Kopf, als wäre ihm etwas Wichtiges eingefallen. 

„Warum glaubst du, es zu bereuen?", wollte Sheila wissen, doch anstatt zu antworten, drehte Leonard ganz langsam den Kopf zu ihr und sah ihr direkt in die Augen. Sein Blick war so intensiv, dass sie unwillkürlich ein Stück zurückrutschte, denn sie kannte diesen Blick. 

Panisch unterbrach sie den Blickkontakt, was Leonard ein ersticktes Geräusch von sich geben ließ. Wollte er ihr irgendetwas sagen? Irgendetwas, das Jonathan vielleicht nicht mitbekommen sollte? Wenn ja, müsste er sich beeilen, denn Jonathan und Mona würden jeden Moment nach Hause kommen. 

„Sheila", sagte er so leise, dass sie es beinahe nicht gehört hätte. Sie widerstand dem Drang, ihn wieder anzusehen, denn auf einmal fühlte sie sich ein wenig unbehaglich. Leonard mochte sie, das war ihr klar, aber sollte er wirklich wieder auf die Idee kommen, sich in sie zu verlieben, müsste sie ihn auf der Stelle rausschmeißen. 

Denn dann würde genau das passieren, wovor sie sich fürchtete. Jonathan würde eifersüchtig werden und irgendwelche Paranoia bekommen, die ihre Ehe gefährdeten. Und das wollte sie um jeden Preis verhindern. Fieberhaft überlegte sie, was sie nun sagen sollte, aber ihr wollte einfach nichts einfallen. 

„Jetzt guck mich doch mal an", sagte Leonard und stupste sie am Arm an. Sheila zuckte zusammen, doch dann warf sie einen ängstlichen Blick zu ihm. Sie wollte nicht, dass er sich in sie verliebte, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Jonathan vielleicht doch keine Paranoia hatte. Dass Leonard sie heimlich anders ansah, als er sollte. 

„Bevor du irgendetwas sagst: Ich weiß, dass ich dich niemals haben kann und ich werde nichts versuchen, was dich und Jonathan auseinanderbringt. Aber wenn ich mich entscheiden müsste zwischen einer Beziehung mit Kathi und der Freundschaft mit dir, dann zieht sie den Kürzeren", sagte er und Sheila spürte, dass seine Worte in ihrem Kopf wie ein Echo widerhallten. Er sagte ihr doch eigentlich, dass er sie liebte und eigentlich mehr von ihr wollte. 

Sheilas Atem beschleunigte sich und sie wurde panisch. Sie wollte nicht, dass Leonard sie mehr mochte. 

„Du hast doch gesagt, dass du so nicht fühlst", erinnerte sie ihn, aber sein entschuldigender Blick verriet ihr, dass das gelogen war, um Jonathan nicht zu beunruhigen. Sheila glaubte, dass alle Luft aus ihr entwich, doch sie musste ihm noch einmal sagen, was sie dachte. 

„Wenn ich mich entscheiden müsste zwischen der Freundschaft mit dir und meiner Ehe, dann...", setzte sie an, doch er unterbrach sie jäh. 

„Ich weiß", sagte er kalt, dann stand er auf und trat einige Schritte von ihr weg hinaus aus dem Schatten. Genau wie sie eben ließ er sich die Sonne ins Gesicht scheinen und seufzte genüsslich. 

„Ich weiß", wiederholte er, dieses Mal nachdenklich. 

Sheila hörte, wie ein Auto auf der anderen Seite des Hauses vorfuhr und sie erhob sich. Es musste Jonathan sein, der mit Mona zurückkam. Sie ging in Richtung Haus, doch Leonard hielt sie am Arm fest. Sie sah ihn fragend an und für ein paar Sekunden sah er ihr einfach nur in die Augen. 

„Das bleibt unter uns, okay?", fragte er leise und ohne darüber nachzudenken nickte sie. Es gefiel ihr zwar ganz und gar nicht, Jonathan anzulügen, aber sie wollte nicht, dass er falsche Schlüsse zog. Leonard nickte ebenfalls, dann ließ er sie los. 

„Der Kuchen ist nicht zufällig für nachher gedacht?", fragte er, setzte ein Grinsen auf und schielte zu dem Kuchen. Sheila lachte leise, doch dann ließ sie ihn allein, um ihre Tochter zu begrüßen. 

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