Kapitel 109 - Sheila
Kaum dass Jonathan nicht mehr zu sehen war, sackten Sheilas Schultern nach unten. Ihn so zu sehen, so reuevoll, machte es ihr nur umso schwerer. Sie versuchte, kalt und abweisend zu sein, denn sie war sich sicher, dass Jonathan einige Tage, wenn nicht sogar Wochen brauchen würde, um wieder normal zu werden.
Sheila hatte den kleinen Hoffnungsschimmer, dass er auf dem rechten Weg war, immerhin war er eben nicht ausgerastet, als sie ihm von dem Kuss erzählt hatte. Aber vielleicht war er auch noch in einer Art Schockzustand, nachdem er gedacht hatte, sie wäre ertrunken.
Schuldbewusst zog sie den Kopf ein, denn es war wirklich dumm gewesen, im Dunkeln und vor allem allein an einer gefährlichen Stelle am Strand zu sitzen.
Seufzend marschierte sie weiter und bemerkte erst da, dass sie bereits vor dem Restaurant stand. Verwirrt, wie sie so schnell hier her gelangen konnte, stieg sie die wenigen Stufen hinauf und betrat den Saal.
Es war voll und suchend blickte sie sich nach Mona und Leonard um. Sie fand die beiden schließlich an einem Tisch ganz hinten in der Ecke und sie drängte sich durch das Gewusel bis zu ihnen durch. Mona winkte ihr zu und erst da drehte Leonard sich zu ihr um, der mit dem Rücken zu ihr saß. Er lächelte, wirkte aber gleichzeitig besorgt.
„Alles okay?", fragte er leise und kaum merklich nickte sie, dann setzte sie sich neben Mona an den Tisch.
„Mama?", fragte Mona und eilig wandte sie sich ihrer Tochter zu und lächelte sie an.
„Woher hast du diese blauen Flecken?", fragte sie und deutete auf ihre geschundene Schulter und ihre Arme. Panisch sah sie zu Leonard, der ihren Blick jedoch genauso fragend erwiderte.
„Ich hatte gestern einen kleinen Unfall, aber es ist nicht so schlimm", sagte sie, aber Mona sah erschrocken aus.
„Bist du hingefallen?", fragte sie, woraufhin Sheila den Kopf schüttelte. Sie zögerte, es Mona zu erzählen, doch ihr ängstlicher Blick ließ ihr keine Wahl.
„Eine Welle hat mich gestern gegen die Felsen da unten gedrückt", sagte sie, woraufhin Mona zusammenzuckte.
„Und war dein Kopf unter Wasser?", fragte sie, woraufhin Sheila nickte.
„Ja, aber nur ganz kurz. Ich habe mich nur an den Felsen gestoßen", erklärte sie, was Mona erleichtert seufzen ließ. Anschließend schlang sie die Arme um ihre Mitte und schmiegte ihr kleines Gesichtchen an sie. Sheila erwiderte die Umarmung und strich Mona sanft durchs Haar.
„Du musst dir keine Sorgen machen, es ist alles in Ordnung", versicherte sie und Mona nickte.
„Aber du musst dich heute noch etwas ausruhen. Papa kann sich um mich kümmern und du wirst wieder gesund", sagte sie belehrend, löste sich von ihr und wandte sich wieder ihrem Teller zu.
Sheila lachte leise, denn es war wirklich rührend, dass Mona sich Sorgen um sie machte.
„Zu Befehl", sagte sie, was Mona kichern ließ. Erst da bemerkte Sheila, dass Leonard sie ansah. Zögerlich erwiderte sie den Blick und sie wusste, dass Leonard mit ihr allein reden wollte. Sheila sah zu seinem Teller und bemerkte, dass er schon aufgegessen hatte.
„Ich hole mir was zu Essen, kommst du mit?", fragte sie ihn und sofort nickte er.
„Mona, du wartest hier, okay? Wir sind nur da vorne und gleich wieder da", sagte sie und deutete mit dem Finger auf das Buffet. Mona nickte und aß weiter. Sheila drückte noch einmal ihre Schulter, dann stand sie auf und ging in Richtung Buffet, Leonard dicht hinter ihr.
Als sie sich in die Schlange am Buffet stellte, spürte sie Leonards Hand an ihrer Taille. Er beugte sich nah an sie heran, sodass sie seinen Atem in ihrem Nacken spürte.
„Du... hast mich geküsst", raunte er ihr leise zu, was Sheila erröten ließ.
„Ja, ich erinnere mich", erwiderte sie und grinste. Erinnerungen an den vergangenen Abend strömten auf sie ein und sie fühlte wieder, wie aufgeregt sie gewesen war. Sicherlich war sie ganz aufgekratzt von ihrem Unfall gewesen, aber sie bereute es nicht, ihn geküsst zu haben.
Leonard stieß einen unbehaglichen Laut aus, während sie einen Schritt näher an die köstlich duftenden Speisen traten.
„Und bereust du es, weil Jonathan jetzt wieder wütend und eifersüchtig ist?", fragte er weiter, seine Hand noch immer an ihrer Taille. Abrupt drehte sie sich zu ihm um, was ihn zusammenzucken ließ.
„Er ist nicht eifersüchtig, komischerweise. Er bettelt, dass ich zu ihm zurückkomme, aber...", setzte sie an, senkte dann aber den Blick.
„Aber?", fragte Leonard nach, aber Sheila winkte ab.
„Ich weiß nicht. Er... sollte etwas Zeit für sich allein haben. Und das habe ich ihm auch so gesagt", erklärte sie, was Leonard überrascht die Augenbrauen hochziehen ließ.
„Oh", stieß er aus, dann zuckten seine Mundwinkel. Sheila wusste, dass er sich Hoffnungen machte, wenn auch nur winzig kleine.
„Was nichts an der Tatsache ändert, dass das, was im Urlaub passiert, im Urlaub bleibt. Hast du selbst gesagt", erinnerte sie ihn und wusste nur allzu genau, dass ihn das verletzte. Sein Blick wurde traurig, doch dann nickte er.
„Ja, das weiß ich. Aber du sagst, du bist nicht wieder mit ihm zusammen?", fragte er nach und grinste diabolisch. Sheila kicherte verlegen, denn sie konnte sich nur zu gut vorstellen, was in seinem Kopf vor sich ging.
„Nein, bin ich nicht, aber... auch wenn wir im Moment nicht zusammen sind, glaube ich, dass... wir uns noch eine Chance geben sollten. Wegen Mona", sagte sie und sofort spürte sie seine Hand auf ihrer Schulter.
„Ja, verstehe ich absolut. Ich wollte dich auch nur fragen, ob du... gleich in mein Zimmer kommst?", fragte er, was Sheila augenblicklich Schamesröte ins Gesicht trieb.
„Ich will dich nur noch einmal küssen. Zum Abschied. Mehr nicht", hauchte er, packte auch ihre andere Schulter und drehte sie weiter herum, sodass sie wieder richtig herum in der Schlange stand.
Sie bemerkte, dass sie nun weiter bis zu den herrlich angerichteten Speisen gehen konnte und ihr lief auf einmal das Wasser im Mund zusammen. Sie fühlte sich vollkommen ausgehungert und füllte sich ihren Teller bis zum Rand.
„Du hast wohl Hunger?", lachte Leonard hinter ihr, was sie demonstrativ nicken ließ.
„Ziemlich", erwiderte sie, dann gingen sie gemeinsam zurück zu Mona, die noch immer brav an ihrem Platz saß.
********************************
Einige Zeit später schlenderte Sheila gemeinsam mit Mona und Leonard in Richtung ihrer Hotelzimmer.
Unwillkürlich hielt sie nach Jonathan Ausschau, doch er war nirgends zu sehen. Vielleicht war er eine Runde spazieren gegangen oder hatte in der Nähe des Restaurants gewartet, bis sie herausgekommen waren.
„Da ist Papa", rief Mona auf einmal und deutete in Richtung Strand. Erst da bemerkte Sheila ihn. Er saß allein und zusammengekauert auf einer der Liegen und hatte das Gesicht in den Händen verborgen.
„Ich gehe zu ihm", verkündete Mona und rannte los, ohne eine Antwort von Sheila abzuwarten. Sie sah ihr nach, bis sie bei Jonathan ankam, der sie sofort in die Arme nahm. Komischerweise sah Jonathan sich nicht nach ihr um, vielleicht, weil er erwartete Leonard zu sehen. Sheila schluckte schwer, denn ihn so traurig zu sehen machte auch ihr zu schaffen.
„Komm, gehen wir", hörte sie Leonard neben sich sagen, dann griff er nach ihrer Hand und zog sie bis zu seinem Zimmer.
Er öffnete die Tür und Sheila bemerkte, dass er zitterte. Auch sie war nervös, immerhin schien er sich noch einmal mit einem Kuss von ihr verabschieden zu wollen.
Sheila folgte ihm ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich, dann blieb sie verunsichert stehen. Leonard knipste das Licht an, denn die Vorhänge waren noch immer zugezogen, dann fing er an, sein Zeug zusammenzusuchen und in seinen Koffer zu werfen.
„Wann musst du los?", fragte Sheila, denn sie hatte ein wenig Angst davor, mit Jonathan hier allein zu sein. Sicherlich würde er noch ein paar Mal versuchen, sie davon zu überzeugen, dass die Trennung ein Fehler war, aber sie war fest entschlossen, dem nicht nachzugeben.
Sie wusste irgendwie, dass dann alles wieder von vorn losgehen würde. Die ganzen Streits und die Eifersucht, die jetzt vielleicht sogar begründet war.
„Sheila", riss Leonard sie aus ihren Gedanken und erschrocken sah sie zu ihm. Er zog gerade den Reißverschluss seines Koffers zu, dann erhob er sich langsam und ging auf sie zu.
„Du siehst nachdenklich aus", bemerkte er, kam aber immer näher zu ihr, bis er seine Hände an ihre Taille legte und sie eng an sich zog. Ihre Gedanken kreisten durcheinander, doch immer wieder tauchte Jonathan auf, wie er wie ein Häufchen Elend am Strand gesessen hatte.
„Ich will dich einmal richtig küssen. Das will ich schon so lange und noch nie hast du mit die Chance gegeben", sagte er leise und sie spürte, wie er sanft über ihren Rücken strich.
Sheila schluckte schwer, denn es fühlte sich gut an und sie spürte den Drang, einfach ihrem Verlangen nach ihm nachzugeben, aber Jonathan schlich sich immer wieder in ihren Kopf.
„Es wird unser letzter Kuss sein, das ist mir klar, aber bitte...", sagte er gequält, beugte sich langsam zu ihr herunter und auf einmal lagen seine Lippen auf ihren. Wie automatisiert erwiderte sie den Kuss, schlang die Arme um ihn und presste sich an ihn.
Es war falsch, was sie hier machte, das war ihr klar, aber es fühlte sich so gut an. Leonard war immer für sie da, wenn Jonathan mal wieder Wutanfälle bekommen hatte und er war es gewesen, der sie gestern aus dem Wasser gezogen hatte.
Leonard keuchte, löste sich dann aber von ihr und schob sie von sich weg. Sheila spürte, wie ihre Wangen heiß wurden und sie mehr wollte, aber ihr Gewissen meldete sich wieder. Würde sie mit Leonard ins Bett gehen, würde Jonathan ihr das nicht verzeihen.
„Wow. Du weißt nicht, wie lange ich das schon tun wollte", sagte Leonard, griff dann aber nach seinem Koffer und klopfte seine Taschen ab, ob er auch alles eingepackt hatte. Sheila wusste nicht, was sie sagen sollte, denn sie war hin- und hergerissen.
„Ich muss los. Und... mir ist klar, dass das hier im Urlaub bleibt. Aber wenn du reden willst, ruf mich an", sagte Leonard, ging an ihr vorbei und griff nach der Türklinke.
„Warte", sagte Sheila eilig und griff nach seinem Arm. Leonard hielt inne und drehte sich zu ihr um, lächelnd. Sie drängte sich zwischen ihn und die Tür und erzitterte, so nah bei ihm zu sein war doch irgendwie ungewohnt.
Sie sah ihn an und hatte das Gefühl, dass sie irgendetwas sagen musste, aber ihr wollten die richtigen Wort nicht einfallen. Leonard strich ihr sanft mit dem Finger über die Wange, doch dann schob er sie beiseite, damit er die Tür öffnen konnte.
„Es ist schon okay, du musst kein schlechtes Gewissen haben. Ich weiß, dass es nur ein Urlaubsflirt war und das ist in Ordnung", sagte er trat nach draußen und sah noch einmal über die Schulter zu ihr, dann verschwand er überraschend schnell.
Sheila eilte ihm nach, blieb aber stehen, als sie bemerkte, dass er schon einige Meter den Weg entlanggegangen war. Als würde er ihre Anwesenheit bemerken, sah er noch einmal zu ihr zurück.
Als ihre Blicke sich trafen, erschauerte sie, denn seine Worte und sein Blick wollten einfach nicht zusammenpassen. Er wirkte, als wüsste er, dass zwischen ihnen beiden nie mehr sein würde und als habe er die sich ihm bietende Möglichkeit genutzt.
Allerdings schien das seine Gefühle für sie nur verstärkt zu haben und er floh. Sheila hob zum Abschied die Hand und er erwiderte ihr Winken, dann verschwand er endgültig.
Sheila senkte den Blick und ging zurück zu seinem Zimmer, wo sie sich auf einmal ziemlich verloren vorkam. War es richtig gewesen, ihn zu küssen? Ihn zu verletzen, nur damit sie ihre Klein-Mädchen-Verliebtheit ausleben konnte, die nur entstanden war, weil Jonathan eine Krise bekam?
Seufzend ließ sie sich aufs Bett fallen und rollte sich zu einem Ball zusammen. Sie fühlte sich hilflos und wollte am liebsten nur noch weg, aber egal wo sie auch ankam, überall lauerten Probleme.
Sie beschloss, erst einmal hier liegen zu bleiben. Vielleicht fühlte sie sich heute Mittag ja besser und sie konnte noch etwas an den Strand gehen oder in die Stadt. Hauptsache, sie stritt sich nicht schon wieder mit Jonathan.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top