Kapitel 101 - Sheila

Nach einem gemeinsamen, ziemlich schweigsamen Mittagessen mit Leonard hatte Sheila sich in ihr eigenes Zimmer zurückgezogen. 

Leonard hatte sie nachdenklich angesehen, so als hätte er Angst um sie, wenn Jonathan nach Hause kam, aber sie wollte unbedingt noch einmal mit Jonathan reden. 

Der Tag mit Leonard war zwar schön und sie musste zugeben, dass sie durchaus darüber nachgedacht hatte, einfach seinem Drängen nachzugeben, aber wenn sie alles mit etwas Abstand betrachtete, war es Jonathan, den sie wollte. 

Vielleicht brauchten sie nur ein wenig Abstand voneinander und wenn sie bald wieder zu Hause waren, würde alles wieder in Ordnung sein. Aber sie musste mit ihm darüber sprechen und ihm noch einmal klarmachen, dass zwischen ihr und Leonard nicht mehr als ein Flirt war. Dass sie sich umarmt und berührt hatten, aber es war noch nicht einmal zu einem Kuss gekommen. 

Vielleicht würde Jonathan seine Trennung noch einmal überdenken, wenn sie zugab, dass sie verwirrt war. Sie musste es versuchen, etwas anderes blieb ihr gar nicht übrig. 

Also wartete sie hier in ihrem Zimmer auf Jonathan und Mona, dass sie von ihrem Ausflug zurückkamen. Sie lag auf dem Bauch in ihrem Bett, den Koffer hatte sie auf den Boden gestellt, vor ihr ein Buch. 

Allerdings hatte sie noch keine einzige Seite gelesen, sondern sie starrte seit einer gefühlten Ewigkeit einfach nur die schwarzen Wörter an, ohne ihren Sinn zu begreifen. 

Erst da wurde ihr bewusst, dass ihr Bruder, der sonst ihr engster Vertrauter neben Jonathan war, noch gar nichts von dem ganzen Schlamassel hier wusste. Sie beschloss, ihn einfach anzurufen und ihm ihr Herz auszuschütten, vielleicht half das ja dabei, sich über ihre Gefühle klar zu werden. 

Denn im Moment fühlte sie sich, als steckte sie in einem riesigen Haufen Wackelpudding und alles waberte um sie herum und es gelang ihr nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. 

Sie griff nach ihrem Handy, das unter ihrem Kopfkissen lag und wählte kurzentschlossen seine Nummer über das Internettelefon. Erst da wurde ihr klar, dass er vermutlich an einem Sonntag Nachmittag bessere Dinge zu tun hatte, als sich mit ihr herumzuschlagen. 

Es dauerte eine ganze Weile, bis Matthias sich meldete, doch als er schließlich ein gehetzt wirkendes „Ja", in den Hörer rief, musste sie für einen Moment die Augen schließen. Es fühlte sich so unendlich gut an, seine Stimme zu hören. 

Gleichzeitig bemerkte sie, dass es bei ihm alles andere als ruhig war, sie hörte die Stimme seiner jüngeren Tochter Aaliyah, die anscheinend mit irgendetwas gar nicht einverstanden war. 

„Hast du kurz Zeit?", fragte sie und bemerkte erst da, wie kratzig ihre Stimme klang. Sie hörte, wie Matthias in ein anderen Zimmer ging und mit einem genervten Seufzen die Tür zuschlug. 

„Aaliyah will nicht zurück nach Hause und sie diskutiert mit Jonas", erklärte er das Chaos bei sich zu Hause und tatsächlich ließ es Sheila grinsen. Ihr Bruder war schon seit er mit 15 Jahren Vater geworden war, heillos überfordert mit allem. Er wurde mit seiner jüngeren Tochter Aaliyah, die inzwischen 11 war, einfach nicht fertig und auch wenn er sich größte Mühe gab, die Wochenenden zu genießen, an denen sie bei ihm war, wusste sie, dass es anstrengend für ihn war. 

Sheila schluckte schwer, denn auf einmal fiel es ihr gar nicht mehr leicht, über Jonathans Entscheidung, sie im Urlaub zu verlassen, zu sprechen. 

„Was ist los? Du bist so still", fragte Matthias, doch bevor Sheila antwortete, lauschte sie noch einem Moment den lauten Stimmen im Hintergrund. Wieder schloss sie die Augen und atmete tief durch. 

„Jonathan hat gestern Schluss gemacht. Er scheint es ernst zu meinen", sagte sie dann und auf einmal wirkte es, als wären alle Geräusche um sie herum ausgeschaltet worden. 

„Was?", brachte Matthias nur hervor, seine Stimme tonlos und ungläubig zugleich. 

„Er hat mich verlassen", wiederholte sie und sie glaubte, ihr Herz würde brechen. Gleichzeitig stiegen ihr Tränen in die Augen und liefen über, ohne dass sie es verhindern konnte. 

„Er hat sich von dir getrennt? Warum?", fragte Matthias und sie hörte, wie er einen erstickten Laut von sich gab. Sheila schluchzte leise, doch dann riss sie sich zusammen. 

„Er denkt, zwischen mir und Leonard würde was laufen", sagte sie, woraufhin vor ihrem inneren Auge all die Dinge aufblitzten, die sie und Leonard tatsächlich getan hatten. Das Händchenhalten in der Stadt, das eindeutige Flirten im Wasser unten am Steg und auch vorhin, als sie tatsächlich eine Sekunde lang darüber nachgedacht hatte, sich auf Leonard einzulassen. 

„Und?", fragte Matthias unheilvoll, doch Sheila begriff nicht, was er meinte. 

„Was und?", fragte sie, was Matthias seufzen ließ. 

„Läuft da was, zwischen dir und Leonard?", fragte er, vollkommen neutral, so als würde es ihn nicht überraschen, wenn es tatsächlich so wäre. Sheila schwieg, denn würde sie es vollkommen abstreiten, wäre das nicht wirklich die Wahrheit. 

„Sheila!", rief Matthias aus, der ihr Schweigen offensichtlich falsch deutete. 

„Nein, ich meine... wir haben geflirtet. Er hat meine Hand gehalten und er wollte mich küssen", erklärte sie, hörte aber selbst, wie schwach es klang. Anschließend hörte sie, wie Matthias sich mit der Hand so fest gegen die Stirn schlug, dass es klatschte. 

„Warum hast du das zugelassen? Du weißt doch, wie eifersüchtig Jonathan ist", fragte Matthias fassungslos und Sheila kam sich vor wie ein kleines Kind, das bei einer riesigen Dummheit erwischt worden war. 

„Wir haben uns die ganze Zeit nur gestritten und... Leonard war nett zu mir und für mich da", redete sie sich raus, wusste aber, dass das keine Entschuldigung für ihr Verhalten war. Matthias stöhnte. 

„Du wusstest, dass Leonard in dich verliebt ist. Du hast es doch provoziert", entrüstete Matthias sich, auch wenn die ganze Situation ihr deutlich komplizierter vorkam. 

„Nein, ich... ach ich weiß doch auch nicht. Es ist einfach so passiert und... ich weiß nicht, was ich tun soll", rief sie aus, vollkommen verzweifelt. 

„Rede doch mit Jonathan", sagte Matthias, als ob das ganz einfach wäre. 

„Er redet aber nicht mehr mit mir und glaubt mir kein Wort mehr", sagte sie leise und spürte gleichzeitig einen Stich in ihrem Herzen. 

„Sheila... Du weißt, ich bin immer auf deiner Seite, aber... du wusstest, dass er eifersüchtig ist und du hast es ignoriert. Er hätte nicht direkt Schluss machen müssen, aber... ich kann ihn verstehen", fuhr Matthias fort, leise und bedächtig. 

In Sheilas Brust bildete sich ein unangenehmer Knoten und sie glaubte, unter ihr würde sich ein riesiges Loch auftun, in das sie fiel. Sie konnte nicht fassen, dass Matthias für Jonathan Partei ergriff und es ließ sie nur noch mehr an sich selbst zweifeln. 

„Ich habe doch gar nichts gemacht. Ich habe ihn nicht geküsst oder mit ihm geschlafen", versuchte sie sich zu rechtfertigen und hoffte, dass Matthias sie verstehen würde, der es in der Vergangenheit nicht wirklich so genau genommen hatte mit der Treue. 

„Es geht doch nicht nur um körperliche Dinge. Ihr steht euch so nahe, ihr vertraut euch und das ist manchmal viel... ich weiß nicht, wie man es beschreiben soll, aber das bedeutet doch viel mehr als ein Ausrutscher, bei dem man besoffen mit einem Anderen rumgemacht hat, an dessen Namen man sich noch nicht einmal erinnern kann. Zwischen dir und Leonard ist eine Verbundenheit, die Jonathan stört und du nutzt sie aus", versuchte Matthias seinen Standpunkt zu erklären und Sheila musste zugeben, dass es irgendwie Sinn machte. 

Sie versuchte sich vorzustellen, was sie mehr störte, wenn Jonathan nach und nach sich in eine andere Frau verliebte oder wenn er einmal im Suff etwas Dummes tat. Beides war schmerzhaft und sie wollte nicht allzu lange darüber nachdenken, aber sie musste zugeben, dass die erste Variante eindeutig schlimmer war. 

Ein Ausrutscher, der nichts an den Gefühlen füreinander änderte, konnte leichter verziehen werden, als eine emotionale Beziehung, die die eigenen Gefühle für den Partner ins Wanken geraten ließ. 

Sheila schniefte, denn ihr wurde bewusst, wie Jonathan sich fühlen musste. Es war ihr gar nicht so bewusst gewesen, dass es ihm vielleicht gar nicht so sehr um die Umarmungen ging, sondern eher darum, dass Sheila sich über die Zeit vielleicht in Leonard verliebte. 

„Wie kann ich das alles nur wieder hinkriegen? Ich... liebe Jonathan, ich kann nicht ohne ihn sein", platzte es aus ihr heraus, aber ihr Bruder schwieg eine ganze Weile. 

„Gib ihm etwas Zeit. Auch wenn es schwer ist. Und geh Leonard aus dem Weg", riet er, auch wenn Sheila damit nicht wirklich einverstanden war. 

„Aber Leonard muntert mich ein wenig auf", rechtfertigte sie sich und dachte an ihren gemeinsamen Vormittag. 

„Und du bist dir sicher, dass du nicht dabei bist, dich in ihn zu verlieben?", fragte Matthias leise, als hätte er Angst, jemand könnte ihn hören. Sheila durchfuhr es wie ein Blitz, doch sie schüttelte vehement den Kopf. 

„Nein, ich liebe Jonathan und nur ihn", widersprach sie, musste aber zugeben, dass es nicht sehr überzeugend klang. 

„Wie du meinst. Aber... ihr solltet euch alle ein wenig Zeit lassen. Konfrontier ihn nicht sofort damit, er ist wahrscheinlich genau so aufgebracht wie du selbst", sagte Matthias, dann beendete er das Gespräch mit der Ausrede, dass er Jonas mit Aaliyah helfen musste. 

Sheila presste sich das Handy weiterhin ans Ohr, auch wenn ihr Bruder schon längst aufgelegt hatte. Erst nach ein paar Sekunden ließ sie es auf die Matratze sinken, dann vergrub sie das Gesicht in den Händen und fing an zu Schluchzen. 

Sie war Schuld an dieser Situation. Hätte sie Jonathans Bitten einfach befolgt und nicht so egoistisch wie sie war, Leonards Aufmerksamkeiten genossen, wären sie nun alle nicht in dieser vertrackten Situation. 

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