Kapitel 8 - Jonas

Obwohl Jonas Augen noch immer ein wenig gereizt waren und er zumindest bis er ankam seine Brille trug, fühlte er sich gut. Er freute sich, Antoine und seine anderen Freunde noch einmal zu sehen und sich einen schönen Tag mit ihnen zu machen. 

In wenigen Minuten würde er ankommen und das gewohnte Kribbeln der Nervosität breitete sich in ihm aus. Auch wenn er nie in Frankreich gewohnt hatte, fühlte er sich hier zu Hause. Erinnerungen an seine Jugend stiegen in ihm auf, wie er jedes Wochenende mit Antoine und den anderen um die Häuser gezogen war. Unwillkürlich legte sich ein Lächeln auf seine Lippen und er beschleunigte. 

Wenige Minuten später parkte er seinen Wagen am Straßenrand vor einem cremefarbenen Haus. Er sah, wie Antoine die Haustür öffnete und ihm winkte. Jonas beeilte sich auszusteigen, schnappte sich seinen Rucksack vom Beifahrersitz und eilte die kleine Treppe nach oben, die zur Haustür führte. 

„Salut", begrüßte er ihn, woraufhin Antoine, ein schlaksiger Kerl mit dunklen Locken und markanten Gesichtszügen die Arme ausbreitete. Jonas drückte ihn kurz und klopfte ihm auf die Schulter. 

„Alles Gute", sagte er, löste sich von ihm und folgte Antoines stummer Anweisung, nach drinnen zu kommen. Im Flur stapelten sich Kinderschuhe und ein blauer Schulranzen stand neben der Treppe. 

„Nathalie ist mit den Kindern bei ihren Eltern. Wir haben also sturmfrei, bis wir heute Abend losziehen", sagte Antoine, als er seinem Blick gefolgt war. 

„Oh, du willst also losziehen, was? Bist du dafür nicht zu alt?", fragte Jonas und stieß seinem Freund den Ellbogen in die Rippen. Er grinste und Jonas bemerkte die kleinen Fältchen um seine blauen Augen. 

„Du vielleicht", erwiderte er, dann bedeutete er ihm mit einer Kopfbewegung, ihm ins Wohnzimmer zu folgen. Jonas folgte ihm durch den Flur bis ins Wohnzimmer, das mit hässlichen, braun-beigen Fliesen ausgelegt war. Noch immer begriff er nicht, warum Antoine und Nathalie bei ihrem Einzug vor fünf Jahren den Boden nicht erneuert hatten. Aber er verkniff sich seinen Kommentar und ließ sich schwungvoll auf dem Sofa nieder. 

Obwohl er schon oft hier gewesen war, sah er sich in dem ziemlich vollgestellten Raum um. Überall stand kitschiger Plunder herum, für den Nathalie, Antoines Frau, eine Schwäche zu haben schien. Genau so wie für Kuckucksuhren. 

Antoine verschwand in der Küche und kam kurz darauf mit einem reich gefüllten, riesigen Teller zurück. Allerlei Cracker, Käse und Trauben waren darauf zu finden. 

„Hast du Hunger? Ich dachte, wir kochen heute Abend was und dann treffen wir die anderen in Creutzwald", sagte er und hielt ihm auffordernd den Teller unter die Nase. 

„Oh je, sag bloß...", setzte er an, wurde allerdings von Antoine unterbrochen. 

„Jap, ganz genau! Ich will mich noch einmal wie vor 15 Jahren fühlen", fiel Antoine ihm ins Wort, was Jonas lachen ließ. Er lehnte den Kopf nach hinten und legte die gefalteten Hände darauf ab. 

Er erinnerte sich nur zu gut an die Disko in Creutzwald, die einzige in dem Ort. L'Affaire hieß sie und Jonas war in seiner Jugend ziemlich häufig dort gewesen. Allerdings schoss ihm auch ein anderer Gedanke durch den Kopf. Markus lebte in Creutzwald, zumindest war das sein letzter Stand. 

Eilig nahm Jonas sich noch eine Handvoll Cracker, um sich abzulenken. Nein, das war doch albern. Er würde Markus nicht begegnen, ganz sicher nicht. 

„Wie geht es Matthias?", riss Antoine ihn aus seinen Gedanken und als Jonas ihn ansah, bemerkte er, wie sehr er seinen Kumpel vermisst hatte. Seine fröhliche, beinahe etwas aufgekratzte Art war einnehmend. 

„Gut. Da fällt mir ein, ich habe die Cupcakes vergessen", sagte er, deutete mit dem Zeigefinger auf Antoine und schnippte anschließend mit dem Finger. Antoine riss überrascht die Augen auf. 

„Du solltest doch nichts mitbringen", sagte er tadelnd, was Jonas grinsen ließ. 

„Hab ich ja auch nicht", lachte er und dachte an die niedliche verzierten Küchlein, die Aaliyah und Matthias gestern gebacken hatten. 

„Halb so wild, ich denke, wir verhungern nicht. Nathalie hat jede Menge eingekauft. Das wird ein Festmahl!", rief er aus und rieb sich die Hände, so als würde er sich schon jetzt auf das Essen freuen. 

Genau in diesem Moment hörte Jonas das leise Ping aus seiner Hosentasche. Eilig zog er das Handy heraus und bemerkte, dass Matthias ihm geschrieben hatte. Sofort biss er sich auf die Lippe, denn er hatte ganz vergessen Bescheid zu sagen, dass er gut angekommen war. Er klickte die Nachricht an und las die wenigen Worte. 

„Bist du gut angekommen? Sheila schleift mich durch ein Geschäft nach dem anderen...", schrieb er. Mit schnellen Fingern tippte er eine kurze Nachricht ein, dass er gut angekommen war und schob sein Handy wieder zurück in die Hosentasche. 

„Oh, wusstest du, dass Luc Vater wird?", fragte Antoine und fing an, aufgeregt wie ein kleiner Junge herumzuwibbeln. Überrascht riss Jonas die Augen auf. 

„Ach was? Ich wusste gar nicht, dass er eine Freundin hat", sagte er und dachte an ihren gemeinsamen Freund. Er war schon immer allein gewesen und schien damit nie ein Problem gehabt zu haben. 

„Hat er auch nicht. Eine seiner Bekanntschaften ist schwanger geworden", erklärte Antoine, was Jonas verächtlich schnauben ließ. 

„Das musste ja irgendwann passieren", murmelte er, allerdings machte ihn die Tatsache, dass Luc nicht aufgepasst hatte, ziemlich wütend. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie viel Verantwortung ein Kind bedeutete, immerhin hatte er Aaliyah seit ihrer Geburt mit großgezogen. 

„Er meinte, dass er sie fragen will, ob sie es mit einer Beziehung versuchen wollen", fuhr Antoine fort, schüttelte aber ebenfalls den Kopf. Tatsächlich war Antoine derjenige aus ihrer Clique, der sich am wenigsten von ihnen allen herumgetrieben hatte. Schon seit der Schulzeit waren er und Nathalie ein Paar, mit Ausnahme einer kleinen Unterbrechung kurz nach Beginn des Studiums, als Antoine nach Paris und Nathalie nach Rouen in der Bretagne gezogen war. Allerdings hatten sie sich schon nach ein paar Monaten mit der Fernbeziehung arrangiert, bis sie nach dem Studium wieder zurück nach Villing gekehrt waren. 

„Drücken wir ihm die Daumen, dass es klappt", sagte Jonas und nahm sich noch etwas von den Leckereien, die zwischen ihm und Antoine auf dem Sofa standen.

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Einige Zeit später standen Jonas und Antoine in der Küche und bereiteten das Abendessen zu. Tatsächlich kochte Jonas ganz gern und er freute sich, dass Antoine ein Drei-Gänge-Menü geplant hatte. Ein frischer Salat als Vorspeise, Steak mit Gemüse als Hauptgang und süße Crêpe zum Nachtisch. 

Antoine hatte bereits eine nicht ganz zu verachtende Menge an Rotwein getrunken, was Jonas bisher ausgeschlagen hatte. Seit Matthias Trinkerei ungesunde Ausmaße angenommen hatte, waren sie sich beide einig, dem Alkohol den Rücken zu kehren. Auch wenn er selbst meist nur in Maßen getrunken hatte, fehlte ihm der Alkohol nicht. Antoine schien das zu akzeptieren und ihn nicht zu drängen, wofür er wirklich dankbar war. Vermutlich vertrug er gar nichts mehr und wäre schon nach einem Glas Wein betrunken. 

„Oh, da fällt mir ein: Ich habe letztens Markus gesehen. Hat sich ganz schön verändert", bemerkte Antoine, während er gerade das Gemüse in der Pfanne wendete. Sofort wurde Jonas hellhörig. 

„Verändert?", hakte er nach, denn auch wenn er Markus schon einige Zeit nicht gesehen hatte, wollte er wissen, was mit ihm los war. 

„Ja, er hat ziemlich zugenommen und scheint sich gehen zu lassen. Du weißt schon, er ist nicht mehr so adrett zurechtgemacht wie früher. Ich glaube, er hat seine Arbeit verloren", berichtete er, was Jonas überrascht die Augen aufreißen ließ. Außer der wenigen Nachrichten, in denen Markus immer wieder beteuerte, dass er ihn liebte, wusste er eigentlich nichts mehr über ihn. 

„Na ja, zumindest ist er ziemlich oft tagsüber unterwegs. Nathalie hat ihn ein paar Mal beim Einkaufen getroffen und meinte, dass er gar nicht gut aussah. Irgendwie niedergeschlagen", fuhr er fort und augenblicklich spürte Jonas ein schlechtes Gewissen in sich aufkommen. Sicherlich war er nach so langer Zeit nicht mehr für Markus Glück verantwortlich, aber er war sich ziemlich sicher, dass seine unerwiderte Liebe zu ihm ihn mehr mitnahm, als er zugeben wollte. 

„Wohnt er nicht mehr in Creutzwald?", fragte Jonas, denn auch wenn er natürlich auch hier einkaufen gehen konnte, wäre das doch merkwürdig. Immerhin war Creutzwald viel größer als Villing. Antoine sah ihn entschuldigend an. 

„Ich weiß nicht. Vielleicht hat er auch nur seine Eltern besucht und auf dem Weg noch etwas eingekauft. Sie wohnen doch noch hinten an der Schule", erklärte Antoine und deutete mit dem Daumen über die Schulter. 

Jonas senkte den Blick. Tatsächlich hatte er Markus damals hier in Villing kennengelernt. Er war damals achtzehn und noch in der Schule gewesen, während Markus, der noch bei seinen Eltern direkt gegenüber die Schule gewohnt hatte, schon arbeitete. 

„Seit das damals mit dir und ihm auseinander gegangen ist, hat er wirklich abgebaut", bemerkte Antoine, was Jonas schnauben ließ. 

„Tja, dann hätte er sich nicht wie ein Arsch benehmen und die nächstbeste Schlampe flachlegen sollen", sagte er wütend und spürte, wie ihm die Kehle eng wurde. Markus hatte nämlich damals entschieden, ihre siebenjährige Beziehung zu beenden, in dem er mit einer Frau geschlafen hatte. Noch immer war Jonas verletzt und wütend deswegen, aber andererseits hätte er sonst Matthias nicht kennengelernt. 

Antoine zog den Kopf ein und konzentrierte sich wieder auf das Gemüse in der Pfanne. Trotzdem verspürte Jonas auf einmal den Drang, mit ihm über Markus zu reden. 

„Weißt du, er schreibt noch ein oder zwei Mal im Monat, dass er mich liebt", sagte er, was Antoine erschrocken zusammenzucken ließ. 

„Bitte?", stieß er aus und sah ihn ungläubig an. 

„Ja. Ich antworte nicht darauf, aber seit einem Jahr oder so schreibt er mir regelmäßig", berichtete er und auf einmal wurde ihm klar, dass das alles nicht richtig war. Antoine fuhr sich mit der Hand durch die dichten Locken. 

„Ich will dir keine Vorwürfe machen, aber du solltest ihm sagen, dass er das lassen soll. Vielleicht macht er sich noch immer Hoffnungen, dass ihr wieder zusammenkommt", riet Antoine. Jonas schluckte schwer und senkte den Blick auf den Boden. 

„Wir sind schon seit elf Jahren kein Paar mehr. Und doch fühlt es sich irgendwie schön an, begehrt zu werden", gab er zu und hörte selbst, wie dämlich das klang. Immerhin war er mit Matthias zusammen und das mehr als glücklich. 

„Moment, Moment, Moment! Willst du mich verarschen? Markus ist ein narzisstisches Arschloch! Lass dich bloß nicht von ihm um den Finger wickeln! Du und Matthias gehört zusammen!", sagte Antoine auf einmal hitzig, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. Jonas wand sich aus seinem Griff. 

„Hör auf damit! Er kann mich nicht um den Finger wickeln!", beschwerte er sich und fing an, mit einem Küchenhandtuch über die Arbeitsfläche zu wischen. 

„Jonas! Ich kenne dich! Hör auf, über ihn nachzudenken", sagte Antoine streng und stupste ihn an der Schulter an. 

„Du hast von ihm angefangen", verteidigte er sich und sah, wie Antoines Miene schuldbewusst wurde. 

„Okay, hast recht. Reden wir nicht mehr über ihn", sagte er, griff nach den bereitgestellten Tellern und füllte das Gemüse darauf. 

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