Kapitel 64 - Jonas

Wie Jonas die Arbeit hinter sich gebracht hatte, wusste er im Nachhinein nicht mehr. Aber es gab weder etwas Neues von Paulchen, noch konnte Marc etwas von seinem Date berichten, da er versetzt worden war. Dementsprechend schlecht war die Stimmung gewesen und Jonas hatte den ganzen Tag damit verbracht, irgendwelche Leute im Darkweb ausfindig zu machen, die Verbrechen begehen wollten. 

Endlich war es Zeit für den Feierabend und auch wenn er einer mehrstündigen Autofahrt zusammen mit Markus nicht gerade freudig entgegensah, war er froh, dass er hier raus kam. 

„Bis Montag, ich bin weg", verabschiedete er sich von Marc, der nur schwach die Hand hob und sich wieder dem Bildschirm zuwandte. Jonas eilte die Treppen nach oben und lief den Flur entlang. Unwillkürlich warf er einen Blick auf Mr. Perfect, der noch ganz vertieft in seine Arbeit zu sein schien, aber wie üblich die Bürotür offen gelassen hatte. 

„Schönes Wochenende!", rief er und ging bis nach draußen. Sofort legte sich eine Gänsehaut auf seine Arme, denn es war überraschend kalt. Sein Blick wanderte zum Himmel und er erkannte dicke Wolken, die nach Unwetter aussahen. 

Er beeilte sich, zu seinem Auto zu kommen und kaum dass er darin saß, klatschte der erste Regentropfen auf die Frontscheibe. Erleichtert atmete er auf, kramte sein Handy aus der Hosentasche und warf einen Blick darauf. 

Markus hatte ihm schon vor knapp einer Stunde geschrieben, wann er endlich Feierabend machte und er entschied sich, ihm nur eine kurze Nachricht zu schreiben, dass er nun losfuhr und ihn in zwanzig Minuten am Einkaufszentrum einsammelte. 

Anschließend warf er sein Handy in die Mittelkonsole, schnallte sich an und startete den Motor. Obwohl es erst halb vier Uhr nachmittags war, sah es draußen dunkel aus und er befürchtete, dass er noch in einen Gewittersturm kommen würde, wenn er nicht zügig in Richtung Frankreich losfuhr. 

Jonas zündete sich noch eine Zigarette an, öffnete das Fenster einen winzigen Spalt und verließ den Parkplatz vor dem Präsidium. 

Der Verkehr war zäh, aber er schaffte es in neunzehn Minuten zum Einkaufszentrum, wo Markus unter dem kleinen Vordach stand und sich suchend umsah. Inzwischen regnete es nicht mehr ganz so heftig und als Markus ihn erkannte, eilte er zu ihm und sprang ins Auto. 

„Was für ein Wetter", kommentierte er und beugte sich zu ihm herüber für einen Kuss. Jonas erfüllte ihm diesen Wunsch, bevor er das Gaspedal durchtrat.

„Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es in drei Stunden", sagte er, warf einen Blick über die Schulter, ob nicht irgendwelche Leute kopflos auf die Straße rannten, wie es häufig bei Einkaufszentren der Fall war und fädelte sich wieder in den Verkehr ein. Erst danach warf er Markus einen Blick zu und bemerkte, dass er eine Tüte auf dem Schoß hatte. 

„Wie war dein Tag?", fragte er und machte eine Kopfbewegung auf die Tüte. Markus lächelte ihn an, schief und ziemlich einnehmend. 

„Ich war glaube ich in jedem Geschäft, das es da drin gibt. Aber ich habe auch etwas gekauft", sagte er und klopfte mit der Hand auf die prall gefüllte Tüte. 

„Was denn?", hakte Jonas nach, doch anstatt zu antworten zog Markus etwas aus der Tüte. Immer wieder wanderte Jonas Blick zwischen ihm und der Straße hin und her, aber bei dem Regen musste er sich tatsächlich ein wenig konzentrieren. 

Als er es beim dritten Mal hinsehen erkannte, schnappte er überrascht nach Luft. Es war ein Kissen, flauschig und weich und es war genau das Gleiche, das Jonas schon seit seiner Kindheit besaß. Es lag noch bei ihm zu Hause – auf dem Sofa, wenn er sich recht erinnerte – und es war ganz und gar nicht mehr so flauschig wie dieses. Früher hatte er es überall hin mitgenommen und auch jetzt konnte er sich nicht davon trennen. 

„Ich dachte, das gefällt dir und du fühlst dich bei mir ein bisschen wohler", erklärte Markus einfühlsam, so als wäre es ihm wirklich wichtig, dass Jonas sich bei ihm wie zu Hause fühlte. Jonas Herz wurde schwer, denn er erkannte, dass Markus sich wirklich Mühe gab, diese Sache zwischen ihnen auf die Reihe zu bekommen. Und was tat er? Er holte sich heute Morgen einen runter, während er an Matthias dachte und er schrieb ihm hinter seinem Rücken Nachrichten. Jonas merkte, wie das schlechte Gewissen an ihm nagte und eilig richtete er den Blick stoisch auf die Straße. 

„Auch wenn es vielleicht im Sommer etwas zu flauschig ist", bemerkte Markus, schob es unter lautem Knistern zurück in die Tüte und ließ sie in den Fußraum gleiten. Jonas nickte, sah aber nicht zu Markus, obwohl sein Blick auf ihm ruhte. Stattdessen räusperte Markus sich, rutschte ein wenig auf seinem Sitz herum und setzte erneut an. 

„Schatz, ich will wirklich, dass wir beide glücklich werden. Du und ich, wir gehören zusammen, das wusste ich schon von dem Moment an, als ich dich das erste Mal gesehen habe", sagte er. Jonas Hände krampften sich um das Lenkrad, denn auch wenn er wusste, dass Markus so empfand und er es ihm schon mehr als einmal gesagt hatte, rührten diese Worte noch immer etwas in ihm an. Er genoss dieses Gefühl des Begehrtseins viel zu sehr, was ihm gleichzeitig ein schlechtes Gewissen machte. 

Matthias begehrte ihn auch, aber anders, als Markus es tat. Matthias und er waren auf Augenhöhe, sie waren füreinander da, funktionierten wie eine Einheit. Markus und er waren alles andere als auf Augenhöhe. Markus wollte ihn ganz für sich allein haben, ohne wirklich seine Bedürfnisse zu berücksichtigen. So war es schon immer gewesen. Klar, vor vielen Jahren, als er noch jung und erfahren gewesen war, hatte ihm dieses Gehabe Sicherheit gegeben, aber heute sah das anders aus. 

„Du sagst ja gar nichts dazu", riss Markus Stimme ihn aus seinen Gedanken. Erst da wurde Jonas klar, dass er noch keinen Ton auf Markus romantisch gemeinte Worte gesagt hatte. Eilig warf er einen Blick zu ihm und zwang sich zu einem Lächeln. 

„Ich... ich bin echt geschafft von der Arbeit", log er, ohne darüber nachzudenken. Markus Blick durchbohrte ihn und er war sich ziemlich sicher, dass er seine abweisende Haltung durchschaute. Für einige Sekunden lang herrschte Stille, bis Markus ein Lächeln aufsetzte und seine Hand auf Jonas Oberschenkel legte. 

„Dann machen wir heute einen entspannten Abend. Du ruhst dich aus und ich massiere dich. Wie klingt das?"

Jonas Herz wurde schwer. Sollte Markus sich wirklich so sehr Mühe geben, dass es zwischen ihnen wieder so werden konnte wie früher? Würde er sich vielleicht wieder so sehr in ihn verlieben, dass er bereit war, sein bisheriges Leben für ihn aufzugeben? Jonas wusste es nicht. Was er allerdings wusste, war, dass er sich nach Matthias sehnte. Seine Nachrichten, sein Kuss an dem Abend, als er endgültig gegangen war. Ein Keuchen entfuhr ihm, das er eilig mit einem Husten kaschierte. 

„Ja, das klingt schön", sagte er, drängte Matthias aus seinen Gedanken und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Markus gab ein zufriedenes Stöhnen von sich und ließ seine Hand ein Stück weiter nach oben auf seinem Oberschenkel wandern, ganz eindeutig zu nah an Stellen, die ihm vom Autofahren ablenkte. Jonas schluckte schwer, griff nach seiner Hand und schob sie zurück in Richtung Knie. 

„Ich muss mich konzentrieren", sagte er monoton, allerdings grinste Markus süffisant. 

„Ich freue mich schon, dich heute Abend in meinen Armen halten zu können. Es ist... ich meine, es ist wirklich wie eine Erfüllung für mich, dich endlich wieder bei mir zu haben. Dich berühren und dich küssen zu können. Du weißt gar nicht, wie oft ich in all den Jahren an dich gedacht habe", plapperte Markus und verfiel wie üblich in einen seiner Redeschwälle. 

„Eigentlich jeden Abend, seit du mich verlassen hast. Stell dir vor, ich hätte damals diesen einen Fehler nicht gemacht. Dann wären wir sicherlich schon einige Jahre verheiratet, hätten ein schönes Haus und..."

„Aber du hast diesen Fehler gemacht", hörte Jonas sich sagen, denn auch wenn er die Vorstellung schön fand, so lange mit jemandem zusammen zu sein, war Markus derjenige gewesen, der ihre Beziehung zerstört hatte. 

„Ich weiß. Und ich bereue es zutiefst", sagte er, auf einmal erhitzt. Er wandte sich seitlich zu ihm und starrte ihn an, so als hätte Jonas nun etwas falsch gemacht. Unsicher erwiderte er seinen Blick, jedoch nur für ein paar Sekunden, bevor er wieder auf die nasse Straße sah. 

„Du musst mir das nicht immer und immer wieder vorhalten. Ich habe kapiert, dass ich Mist gebaut habe und wenn ich könnte, dann würde ich es rückgängig machen. Aber meinst du nicht, ich habe genug gebüßt? All die Jahre, die du mich ignoriert hast waren genug Strafe", sagte er, fuhr sich fahrig mit der Hand durchs Haar und schüttelte den Kopf. 

Jonas Brust wurde auf einmal eng. Ja, wenn man es so betrachtete, hatte Markus mit Sicherheit seine Strafe abgesessen, aber so einfach war es eben nicht mit dem Vertrauen. 

„Du hast recht. Ich will nicht streiten", sagte er dennoch, denn bei dem Wetter konnte er es sich nicht erlauben, unkonzentriert zu werden und womöglich noch einen Unfall zu bauen. 

„Okay, lass uns nicht mehr über die Vergangenheit reden. Wie wäre es mit etwas Musik?", fragte Markus, schaltete die Radio ein und drehte die Lautstärke auf. Jonas nickte, denn so würde Markus zumindest keine Gelegenheit mehr haben, ihn zu bequatschen, was ihn vollkommen durcheinander brachte. Jonas hörte, wie auf einmal bekannte Klänge aus dem Lautsprecher schallten. 

„Everytime we touch" von Cascada setzte ein und weckte alte Erinnerungen. Plötzlich fing Markus an, unerwartet textsicher mitzusingen. Überrascht sah Jonas ihn an und unwillkürlich schlich sich ein Grinsen auf seine Lippen. Markus konnte nicht singen, genau so wenig wie er, aber das wurde durch seine Leidenschaft wieder wettgemacht. 

„Can't you feel my heart beat fast – I want this to last", sang er und warf ihm dabei einen so emotionsgeladenen Blick zu, dass Jonas Herz tatsächlich schneller schlug. Er lachte, als er sah, wie Markus die Hände miteinander verschränkte, mit den Handflächen an seine Brust führte und sie auf und ab bewegte, als würde er ein pochendes Herz in seiner Brust symbolisieren. 

Tatsächlich bekam nun auch Jonas Lust zu tanzen und er erinnerte sich an ihre langen Nächte im L'Affaire zurück. Eng aneinander geschmiegt hatten sie getanzt, geflirtet und oft nicht mehr die Finger voneinander lassen können, sodass sie ungesehen auf die Toilette verschwunden waren. Damals, als er achtzehn oder neunzehn gewesen war und solche Dinge aufregend gefunden hatte. 

„Da werden Erinnerungen wach", rutschte es ihm heraus und wieder einmal spürte er Markus Blick auf sich. 

„Oh ja! Und ich bin sicher, dass wir ab heute ganz viele neue schöne Erinnerungen entstehen lassen werden. Du und ich, ein Neustart. Ganz ohne Streit, wie klingt das?", fragte Markus ungewohnt sanft und einfühlsam und vielleicht auch eine winzige Spur unsicher. Jonas spürte, wie seine Lippe anfing zu zittern. Es war wirklich verrückt, dass Markus in dem einen Moment noch so herrisch sein konnte und im anderen so lieb und sanft. 

Jonas Blick huschte zu ihm und als ihre Blicke sich trafen, bekam er eine Gänsehaut. Er wusste, dass Markus sich wirklich Mühe gab, sein Temperament unter Kontrolle zu halten. Er liebte ihn und wollte ihn glücklich machen. Aber wollte Jonas das auch? War es wirklich Markus, den er an seiner Seite sah? 

Nein, schrie eine Stimme ganz laut in ihm, gleichzeitig meldete sich noch eine andere, eine teuflische und verwegene. Hatte er wirklich eine Wahl? Selbst wenn er sich entschied, Matthias alles zu erzählen und ihn anzuflehen, ihm noch eine Chance zu geben, wäre es dann wieder so wie vorher? Könnte Matthias ihm noch vertrauen und noch viel wichtiger: Hatte er sich Matthias Vertrauen noch verdient? Würde diese Woche, die er mit Markus verbracht hatte, immer zwischen ihnen stehen? Jonas wurde unruhig. Was sollte er Markus nur sagen? 

Auf einmal ertönte ein Seufzen, gefolgt von einem Tätscheln auf seinem Knie. 

„Schon okay, mir ist klar, dass du noch an ihm hängst. Aber ich will, dass du mir die Chance gibst, dir zu zeigen, dass ich dich glücklich machen kann. Und zwar dieses Wochenende. Ich verspreche dir, wir machen uns eine schöne Zeit", sagte Markus und erst da wurde ihm bewusst, dass er viel zu lange gezögert hatte. Entschuldigend sah er Markus an. 

„Ich brauche ein wenig Zeit", flüsterte er so leise, dass er Panik bekam, dass Markus ihn gar nicht gehört hatte. Als er aber nickte und dabei auch noch einigermaßen verständnisvoll aussah, wurde Jonas mulmig zumute. 

„Und das ist okay, auch wenn es mir schwer fällt. Weißt du, ich habe schon so lange gehofft, dich wiederzubekommen, dass ich viel zu sehr geklammert habe. Das ist mir klar geworden und ich will, dass du gerne bei mir bist und nicht aus Schuldgefühlen", sagte er und auf einmal dämmerte ihm, dass Markus deutlich mehr merkte, als er glaubte. Ihm musste klar sein, dass er noch immer Gefühle für Matthias hatte und diese auch nicht von heute auf morgen abstellen konnte. Er wusste, dass Jonas noch immer Probleme hatte, ihm zu vertrauen und er wusste, dass seine Liebe zu ihm noch nicht so stark war, wie er es sich wünschte. 

„Danke, ich... ich versuche wirklich mir darüber klar zu werden, was ich will und meine Gefühle zu sortieren", sagte er und sah, wie Markus nickte. 

„Und das ist okay. Solange du in dieser Zeit bei mir bleibst und dich nicht zurückziehst, denn dann habe ich zu große Angst, dass du nicht mehr zurückkommst", sagte er und auch wenn er diesen Gedanken nachvollziehen konnte, kam er Jonas unangemessen vor. Immerhin waren sie erwachsen, konnten vernünftig über alles reden. Oder? 

„Ich verschwinde nicht einfach", beteuerte er, allerdings kam das viel zu schnell. Jonas hatte gehen wollen, zurück zu Matthias. Er hatte sich einfach aus dem Staub machen und den Kontakt abbrechen wollen, um wieder mit Matthias zusammen zu sein. 

„Außer wenn wir streiten, dann würdest du am liebsten abhauen", warf Markus ein und dachte mit ziemlicher Sicherheit auch daran zurück, wie er ihn mit gepackten Sachen so gerade noch an der Zimmertür hatte abfangen können. 

„Wer würde das nicht?", konterte er, woraufhin Markus ein merkwürdiges Geräusch ausstieß, das er als Zustimmung interpretierte. Allerdings schwieg er, drehte das Radio noch lauter und richtete den Blick aus dem Fenster. 

Erkannte Markus womöglich allmählich, wie schrecklich er sich in den letzten Tagen ihm gegenüber verhalten hatte? Und erkannte er selbst womöglich, dass Markus gar nicht so schrecklich war, wie er immer geglaubt hatte? Eilig verwarf Jonas den Gedanken, denn auch wenn er gerade hier mit Markus im Auto saß, um mit ihm gemeinsam das Wochenende zu verbringen, fühlte er sich noch lange nicht bereit, um eine ernsthafte Beziehung mit ihm zu führen. 

Hoffentlich würden sich seine verwirrten Gedanken und Gefühle in den nächsten Tagen ordnen und für etwas entscheiden, denn diese angespannte Situation konnte er nicht mehr lange ertragen. Dieses immer wiederkehrende Gefühlschaos machte ihn vollkommen fertig. Unwillkürlich beschleunigte er, denn er wollte auf einmal ganz dringend ins Bett und einfach nur schlafen. 

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