Kapitel 61 - Matthias
Die Nacht war viel zu kurz gewesen, aber Matthias war so vollgepumpt mit Adrenalin, dass er gar nicht müde war. Immerhin war heute sein letzter Arbeitstag bei der Caritas, für die er die letzten Jahre gearbeitet hatte. So richtig begreifen konnte er es nicht, wahrscheinlich wurde ihm erst so richtig bewusst, was das alles bedeutete, wenn er am Montag einfach zu Hause blieb, anstatt zur Arbeit zu fahren.
Gerade stieg er aus seinem Auto, das er auf seinem üblichen Parkplatz abgestellt hatte. Schon von Weitem erkannte er seine Chefin Franziska, die wie immer ein Kostüm trug. Allerdings hatte sie ihre Jacke ausgezogen und er erkannte eine pinkfarbene Bluse, die sie darunter trug. Auch wenn Franziska oft streng gewesen war, würde er sie vermissen.
Sie befestigte gerade einen Zettel an der Innenseite der Eingangstür, auf dem mit ziemlicher Sicherheit zu lesen war, dass diese Zweigstelle ab Montag geschlossen sein würde.
Matthias hob die Hand, als sie gerade zu ihm herübersah und zu seiner Überraschung erwiderte sie lächelnd den Gruß. Vermutlich war es auch für sie eine große Umstellung, immerhin war sie hier schon sehr viel länger beschäftigt als er selbst. Er ging die letzten Schritte bis zur Eingangstür, welche ihm von Franziska geöffnet wurde.
„Guten Morgen", begrüßte sie ihn. Er erwiderte den Gruß, bedankte sich mit einem Nicken für das Aufhalten der Tür und betrat das Gebäude. Abrupt blieb er stehen, denn anstatt dem üblichen, recht ausladenden und kargen Eingangsbereich fand er jede Menge Dekorationen und einen langen Tisch mit einem Frühstücksbuffet darauf. Er wandte sich zu Franziska um, die mit in die Hüften gestemmten Armen näher auf ihn zukam.
„Ich dachte mir, es gibt heute als Abschluss eine kleine Überraschung. Nicht nur für uns, sondern auch für die Betreuten", erklärte sie und machte eine ausladende Geste über den reichlich gedeckten Tisch. Allerlei Brötchen, Croissants, gekochte Eier, Aufschnitt und frisches Obst waren darauf angerichtet und obwohl Matthias erst vor einer halben Stunde gefrühstückt hatte, lief ihm das Wasser im Mund zusammen.
„Wow, das hast du ganz allein gemacht?", fragte er, doch genau in diesem Moment erschienen in seinem Augenwinkel zwei Gestalten, die hinter dem Tresen hervorkamen. Diana und Louisa grinsten sich an und ihm wurde klar, dass er der Einzige war, der nicht mitgeholfen hatte. Verlegen fasste er sich mit der Hand an den Hinterkopf und spürte das kleine Haargummi mit dem Einhorn daran, das sein Haar zusammenhielt, damit es ihm nicht ins Gesicht fiel.
„Wie üblich bist du zu spät, aber das macht nichts. Du kannst aufräumen", grinste Louisa, ein kleines, zierliches Mädchen mit blonden Locken. Sie und Diana waren inzwischen bei ihm und Franziska angelangt und betrachteten ziemlich zufrieden ihr Buffet.
„Abgemacht", sagte Matthias ohne zu zögern, denn komischerweise überkam ihn die Vorahnung, dass er heute Nachmittag gar nicht gehen wollen würde. Immerhin hatte er ziemlich viele Stunden seines Lebens verbracht und auch wenn es sicherlich nicht auf viele Menschen zutraf, ging er gern zur Arbeit.
„Wir sollten noch ein wenig die Akten sortieren, damit sie in die anderen Liegenschaften transportiert werden können und nicht in einem heillosen Durcheinander dort ankommen", sagte Franziska und auch wenn das eine mühsame Arbeit war, erschien ihm das sinnvoll.
Er salutierte, riss den Blick von den verlockend duftenden Croissants und ging in Richtung des Tresens. Die anderen folgten ihm und begaben sich an ihre angestammten Plätze. Matthias ließ seine Tasche unter dem Tisch verschwinden und ließ sich mit einem Seufzen auf dem Drehstuhl nieder. Er zog die Füße an und drehte sich von dem Schwung einmal um sich selbst, was Diana leise kichern ließ.
„Man mag es kaum glauben, aber ich werde unser kleines Grüppchen vermissen", sagte sie und Matthias hörte, wie Louisa ihr sofort beipflichtete.
„Was haltet ihr davon, wenn wir uns mal zum Essen treffen?", schlug Diana vor und als Matthias sie ansah, lächelte sie unsicher. In ihren Augen schwammen kleine Tränen, die ihn leise glucksen ließen.
„Wir sind ja nicht aus der Welt. Und Louisa und ich haben immer Zeit, wir sind ja ab heute Nachmittag arbeitslos", antwortete er, was Diana lachen ließ.
Matthias wandte sich seinem Computer zu, der inzwischen hochgefahren war und widmete sich seinen Mails. Tatsächlich hatte er nur eine einzige. Als er sie öffnete und erkannte, dass sie aus der Zentrale von seinem obersten Vorgesetzten kam, schnaubte er verächtlich. Er überflog den Text, in dem noch einmal das Bedauern ausgedrückt wurde, wertgeschätzte Kollegen zu verlieren. Matthias löschte die Mail, denn wenn sie so sehr wertgeschätzt wurden, warum hatte man sie dann nicht alle in einer anderen Zweigstelle unterbringen können? Kopfschüttelnd versuchte er, seinen Frust zu vertreiben, aber es wollte ihm nicht so recht gelingen.
„Hast du die Mail gesehen?", fragte Diana vorsichtig, woraufhin er ihr einen bitterbösen Blick zuwarf.
„Das ist doch ein schlechter Scherz von denen da oben", meinte er, woraufhin sie zustimmend nickte. Bevor er jedoch noch etwas dazu sagen konnte, tauchte Franziska zwischen ihnen auf und knallte jede Menge Papierakten auf den Tisch.
„Könntet ihr sie alphabetisch sortieren? Ich werde nach vorn gehen und die Betreuten begrüßen und ihnen Frühstück anbieten", sagte sie und stöckelte keine Sekunde später davon. Matthias betrachtete den Berg an Akten, der zwischen ihm und Diana lag, sodass er sie nicht mehr sehen konnte.
„Also gut", murmelte er, stand auf und nahm die erste Akte von oben herunter. Der Nachname des Betreuten begann mit einem F. Diana nahm sich ebenfalls eine Akte, gefolgt von Louisa.
„Ich suche alle A's raus, du alles B's und du alle C's", schlug Louisa vor und wieder nickte Matthias und machte sich an dem ihn zugewiesenen Buchstaben C.
Eine ganze Weile sortierten sie und auch wenn es langweilig war, verging die Zeit so relativ schnell. Nur wenige Betreute verirrten sich hier her und wenn, dann wollten sie nur ein gratis Frühstück abgreifen. Matthias war gar nicht böse darum, dass sie nichts mehr von ihnen wollten, immerhin sprach sich unter den Betreuten alles immer ziemlich schnell herum.
„Was meint ihr, wie lange dauert es, bis sie hier Schlange stehen?", fragte Diana, als hätte sie genau den gleichen Gedanken gehabt wie er und machte eine Kopfbewegung zum Frühstücksbuffet, wo sich gerade zwei junge Männer bedienten. Matthias grinste.
„Ich bin sicher, es dauert keine Stunde, dann rennen sie uns die Bude ein", sagte er und sah noch einmal sehnsüchtig zu dem Buffet.
„Ich glaub, ich hole mir direkt mal was, bevor alles weg ist", sagte er, wandte sich von den Akten ab und ging in Richtung des Buffets. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die beiden Frauen ihm folgten. Am Buffet angekommen schnappte er sich einen der bereitgestellten Pappteller und lud sich gleich zwei Brötchen auf. Er sah, wie noch weitere Leute hereinkamen und gierig auf die bereitgestellten Speisen schielten.
„Hi, bedient euch", rief Matthias, noch bevor Franziska auch nur den Mund hatte öffnen können und sofort eilten die Neuankömmlinge heran.
„Ihr seid heute den letzten Tag hier?", fragte eine junge Frau, die Matthias vom Sehen her kannte. Sie war nur ein, zwei Mal hier gewesen und er hatte den Eindruck gehabt, dass sie sicherlich schnell wieder auf die Beine kam.
„Ja, leider. Aber ihr könnt zu den anderen Zweigstellen gehen. Diana wird in Neuenrath sein", erklärte er und deutete mit dem Daumen über die Schulter zu Diana, die hinter ihm stand. Die Frau lächelte verlegen und senkte den Blick auf den Boden.
„Also... naja, wir haben da auch etwas Kleines für euch", sagte sie und erst da erkannte Matthias, dass hinter ihr, jedoch draußen auf dem Parkplatz, jede Menge ihrer Betreuten standen. Sie alle wirkten verlegen, hatten die Hände in die Hosentaschen geschoben und die Blicke auf den Boden gesenkt.
Matthias schluckte schwer. Ganz gleich, was sie ihnen als Geschenk machten, es rührte ihn schon jetzt zu Tränen. Eilig blinzelte er sie weg, stellte seinen Teller auf die Seite und warf einen hilfesuchenden Blick zu Diana und Louisa, die ganz ähnlich gerührt aussahen wie er selbst.
„Kommt mal mit", sagte die Frau, wandte sich um und ging zu den anderen nach draußen. Fast fünfzehn Leute hatten sich vor der Tür versammelt und als sie drei, gefolgt von Franziska, die sich jedoch im Hintergrund hielt, nach draußen traten, teilte sich die Menge. In der Mitte stand Andreas, der Typ, der vor wenigen Tagen vollkommen ausgerastet war. Er hielt etwas in den Händen und hielt es in ihre Richtung. Er sah verlegen aus und Matthias bemerkte, wie seine Lippe zitterte.
„Tut mir leid wegen letztens", murmelte er und hielt das Geschenk, das sie offensichtlich alle zusammen für sie gemacht hatten, näher an ihn heran. Matthias erkannte, dass es ein Schnellhefter war, der ordentlich gefüllt war. Auf den durchsichtigen Deckel war ein Zettel geklebt worden, auf dem in kunstvoller Schrift und verziert mit kleinen Blumen das Wort „Danke" zu lesen war.
Zögernd sah Matthias über die Schulter zu den anderen, die ihm aufmunternd zulächelten. Matthias räusperte sich, trat näher an Andreas heran und nahm den roten Schnellhefter entgegen.
„Danke an euch. Das ist wirklich wunderschön", sagte er stellvertretend für alle und betrachtete die Mappe. Vorsichtig klappte er den Deckel auf und erkannte, dass darin jede Menge Briefe mit persönlichen Abschieds- und Dankesworten eingeheftet waren. Matthias schlug die Hand vor den Mund, als er beim Überfliegen einige bekannte Namen las. Es war ein überwältigendes Gefühl, dass er und seine Kolleginnen anscheinend zumindest ein wenig richtig gemacht hatten.
„Das ist der Wahnsinn! Danke euch!", sagte er und ließ den Blick durch die Menge wandern. Er reichte die Mappe an Louisa weiter, die schon jetzt den Tränen nahe war, genau wie Diana.
„Kommt alle rein, es gibt Frühstück für alle!", rief er und sofort breitete sich freudiges Gemurmel aus.
„Und danach lesen wir gemeinsam eure Briefe! Das ist echt der Hammer", rief Diana, die staunend in der Mappe blätterte. Matthias wurde von der Menge wieder nach drinnen gedrängt und er nutzte das Gewusel, um einmal tief durchzuatmen. Er war wahnsinnig gerührt, dass seine Betreuten ihn so sehr wertschätzten. Das fühlte sich unglaublich gut an und er wusste, dass seine Augen nicht trocken bleiben würden, wenn er sich all die netten Briefe durchlesen würde.
Er schnappte sich drinnen wieder seinen Teller, trug ihn den anderen folgend in den Aufenthaltsraum und ließ sich neben Diana nieder.
„Das ist absolut unglaublich! Sie schreiben so liebe Sachen", flüsterte sie ihm zu, noch immer durch die Mappe blätternd. Louisa gesellte sich ebenfalls zu ihnen und nach und nach trudelten auch die Betreuten ein, die sich an den Tischen niederließen und anfingen zu essen.
„Hier, der erste Brief ist direkt für dich", sagte Diana und reichte ihm die Mappe. Matthias stellte seinen Teller auf seinem Schoß ab und nahm die Mappe wieder entgegen. Er räusperte sich und auch wenn es nicht beabsichtigt war, herrschte augenblicklich eine Totenstille. Anscheinend waren alle auf seine Reaktion auf die Briefe gespannt. Noch einmal ließ er den Blick durch die grinsende Menge schweifen, dann fing er an vorzulesen.
„Liebes Team, vor allem Matthias, mein Betreuer,
ich danke euch stellvertretend für alle für die Jahre der Unterstützung. Ihr hattet es mit uns oft nicht leicht, seid verzweifelt und habt euch an manchen von uns die Zähne ausgebissen. Aber ihr seid dran geblieben. Ihr habt keinen von uns hängen lassen und jeden Tag alles gegeben. Dafür sind wir unendlich dankbar! Als wir gehört haben, dass ihr schließt, waren viele ganz schön sauer, aber wir wissen, dass ihr nichts dafür könnt. Wir danken euch für euer Engagement, eure Leidenschaft und euren Einsatz, uns allen zu helfen.
Besonders danke ich dir, Matthias. Du hast mich aufgebaut, hast mir gezeigt, dass das Leben weiter geht, auch wenn es noch so aussichtslos erscheint. Die Welt bleibt nicht stehen, sie dreht sich immer weiter, das hast du mal zu mir gesagt und zuerst war ich wütend, weil ich dachte, du nimmst meine Probleme nicht ernst. Aber jetzt weiß ich, du hast recht. So schwarz die Welt auch aussehen mag, sie dreht sich immer weiter. Es gibt immer eine Lösung, immer einen Weg und immer Hoffnung, dass alles besser wird.
Tausend Dank an euch alle, ihr seid klasse!
Svenja"
Matthias Atem stockte. Er wusste, dass Svenja inzwischen in ein einigermaßen geregeltes Leben zurückgefunden hatte und als er den Blick schweifen ließ, erkannte er sie ganz hinten rechts in der Ecke sitzen. Sie starrte verlegen auf ihren Teller und ihr Gesicht war knallrot geworden. Matthias spürte, wie seine Lippe zitterte, als er mit ausgestrecktem Finger auf Svenja zeigte und leicht den Kopf neigte.
„Danke, Svenja. Deine Worte bedeuten mir echt viel", sagte er mit zittriger Stimme und blätterte um. Noch bevor er sich diesen Brief, der eindeutig kürzer war als der erste, ansehen konnte, sprang Louisa auf.
„Auch ich möchte Matthias danken!", rief sie, stellte sich in die Mitte des Raumes und grinste ihn an. Matthias rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, denn auch Louisa war einmal ein Straßenmädchen gewesen und als seine Betreute hier aufgeschlagen. Nun färbten sich seine Wangen rot, zumindest fühlte es sich so an.
„Was viele von euch nicht wissen: Auch ich war mal ganz unten. Ich bin von zu Hause abgehauen, als ich gerade einmal achtzehn war. Ich habe auf der Straße gelebt, bin schwanger geworden und habe Drogen genommen. Mein Kind wurde mir noch im Krankenhaus entrissen, aber nach und nach habe ich begriffen, dass ich meinen Sohn nicht hätte versorgen können. Ich habe die Kurve bekommen und das ist nur Matthias zu verdanken. Er hat mich aufgefangen, hat sich um mich gekümmert und mich immer wieder ermutigt", sagte Louisa, während sie ihn geradewegs anstarrte. „Du hast was in der Birne deswegen glaube ich, kannst du es schaffen, das hast du mal zu mir gesagt. Und du hattest recht, ich habe es geschafft."
Sie drehte sich um und sah nun die Betreuten an.
„Und wenn ich das schaffe, dann schafft ihr das auch. Es braucht Zeit, es wird Rückschläge geben, aber ihr könnt es schaffen!", schloss sie, setzte sich mit einem zufriedenen Seufzen wieder neben ihn und grinste selbstzufrieden. Matthias starrte sie mit offenem Mund an, reichte ihr die Mappe und fuhr sich mit den Händen durch die Haare.
„Du machst mich fertig", raunte er ihr zu, lehnte sich beinahe erschöpft in seinem Stuhl zurück und biss eilig in sein Brötchen, eigentlich nur, um irgendetwas zu tun. Diese Worte rührten ihn zutiefst und auch wenn er immer wieder abwiegelte, dass das ja nun einmal sein Job war, löste das ein unbeschreibliches Gefühl in ihm aus. Natürlich gab es auch Leute, die es nicht schafften, die ihren Kampf gegen die Drogen verloren, aber doch waren es diese Momente, die ihm zeigten, dass es richtig war, was er tat. Dass es wichtige Arbeit war, denjenigen zu helfen, die allein nicht mehr zurecht kamen, aus den unterschiedlichsten Gründen.
Matthias hörte, wie Louisa den nächsten Brief vorlas, der ganz ähnlich wie der erste war, nur nicht ganz so ausführlich. Anschließend reichte sie die Mappe an Diana weiter, die umblätterte und sich räusperte.
„Danke! Ihr seid die Besten", las sie und reichte die Mappe wieder an ihn zurück. Ein Lachen ging durch die Menge und er freute sich, dass alle zumindest in diesem Moment ihre Sorgen vergessen konnten.
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