Kapitel 60 - Jonas

Jonas erstarrte, denn Markus Blick war eine Mischung aus Entsetzen, Panik und Wut. Er suchte nach Worten, aber es wollte ihm einfach nichts Sinnvolles einfallen. Jetzt wäre die Möglichkeit, Markus zu sagen, dass er Matthias noch immer liebte und zu ihm zurück wollte. Dass er nicht mit Markus zusammen sein wollte, auch wenn er ihm das Blaue von Himmel versprach. 

„Was wird das denn?", fragte Markus, bevor auch nur eine Silbe über Jonas Lippen gekommen war. Jonas schwieg und senkte verlegen den Blick auf den Boden. Markus schnaubte verächtlich und lachte trocken und freudlos, bevor er näher auf ihn zutrat und ihn so zurück ins Zimmer drängte. Jonas Finger umklammerten den Riemen seines Rucksacks so sehr, dass sich der feste Stoff in seine Haut drückte. 

Wieso war er nur allein durch Markus Anwesenheit so eingeschüchtert? Was hinderte ihn daran, ihm einfach das zu sagen, was er sich in der letzten Stunde überlegt hatte? Markus schloss die Tür hinter sich und komischerweise kam es Jonas so vor, als verschließe er damit auch seinen Ausweg. 

„Du wolltest abhauen?", fragte Markus, überraschenderweise nicht wütend, sondern matt und... ängstlich? Jonas hob den Blick und als er sah, dass Markus Lippe zitterte und Tränen in seinen Augen schwammen, fühlte er sich sofort schlecht, dass er wirklich hatte gehen wollen. 

„Ich... ich wusste nicht, ob du... ich meine... du hast gesagt, ich soll verschwinden", sagte er so leise, dass er sich am liebsten selbst eine reingehauen hätte. Er war ein erwachsener Mann, verdammt noch mal! Er konnte seine Entscheidungen treffen, selbst wenn diese Markus nicht gefielen. Auf einmal schlang Markus so fest die Arme um ihn, dass ihm für einen Moment die Luft wegblieb. 

„Ich war doch nur sauer, Schatz. Aber jetzt ist alles wieder gut zwischen uns. Ich habe nachgedacht und mir ist klar, dass du nicht morgen alles hier hinter dir lassen kannst", sagte er und im ersten Moment glaubte Jonas, er hätte sich verhört. Er stemmte die Arme gegen Markus Brust, um ihn von sich zu schieben, wobei ihm seine Umhängetasche von der Schulter rutschte und auf dem Boden landete. Allerdings lockerte Markus seine Umklammerung kein bisschen, sondern küsste ihn auf die Wange. 

„Es tut mir leid, dass ich gemeine Sachen zu dir gesagt habe, Schatz. Aber bitte fahr mit mir morgen nach Creutzwald. Das Sozialhilfezentrum hat auch samstags vormittags geöffnet und ich kann ihnen alles erklären. Wir könnten das Wochenende dort verbringen und am Sonntagabend fahren wir wieder zurück, damit du zur Arbeit kannst. Was hältst du davon?", plapperte Markus und Jonas brauchte einen Moment, bis er begriff, was da gerade passierte. 

Markus entschuldigte sich? Machte ihm einen vernünftigen Vorschlag? Verwirrt suchte er seinen Blick und als er in Markus blasse Augen sah, konnte er keinen Funken der Unehrlichkeit erkennen. Sollte Markus sich wirklich langsam ändern? Nein! Ganz sicher nicht! Was dachte er denn da schon wieder? Markus umfasste sein Gesicht mit den Händen und strich sanft mit den Daumen über seine Wangen.

 „Was hältst du davon?", wiederholte er seine Frage und Jonas wurde klar, dass er sich hier und jetzt entscheiden musste. Noch vor einer Viertelstunde war er fest entschlossen, Markus zu verlassen und zurück zu Matthias zu gehen. Warum war seine Entscheidung schon wieder ins Wanken geraten? Eigentlich gab es dafür keine logische Erklärung. Wahrscheinlich hatte sein Hirn einfach irgendwelche komischen Aussetzer, die ihn vollkommen verrückte Dinge tun ließen. 

„Schatz?"

Markus Stimme hallte in seinem Kopf wider, der sich plötzlich wie leergefegt anfühlte. Da spürte er auch schon Markus Lippen auf den seinen, sanft, zärtlich zu Beginn und immer drängender werdend. Wie automatisiert erwiderte er den Kuss und er musste zugeben, dass es sich gut anfühlte. 

Erinnerungen an früher, an ihre glücklichen Jahre, blitzten vor seinem inneren Auge auf. Nach ein paar Sekunden löste Markus sich von ihm und griff stattdessen nach seinen Händen. Noch immer sah er ihn erwartungsvoll an, irgendwie so freudig und glücklich, dass Jonas nicht anders konnte, als zu nicken. Markus stieß einen erleichterten Laut aus. 

„Lass uns was beschließen, okay?", fragte er dann und erst da wurde Jonas bewusst, dass seine Stimmung sich um hundertachtzig Grad gedreht hatte. Markus war wutentbrannt gewesen, als er aus dem Hotelzimmer gestürmt war und nun schien er fröhlich, beinahe zuversichtlich zu sein. Jonas nickte auf seine Frage hin, irgendwie gelähmt. Er schaffte es einfach nicht, sich von Markus zu lösen, wenn er bei ihm war. Und ihm war klar, dass Markus ihn am kommenden Wochenende keine Sekunde allein lassen würde, wenn er mit ihm nach Frankreich fuhr. 

„Lass uns immer ehrlich zueinander sein. Ich will mein Leben mit dir verbringen und da ist Ehrlichkeit wichtig", sagte er und auch wenn Jonas ihm zustimmte, was den Stellenwert der Ehrlichkeit anging, glaubte er nicht wirklich, dass Markus jemals vollkommen ehrlich sein würde.

„Okay", sagte Jonas dennoch, allerdings breitete sich sofort ein schlechtes Gewissen in ihm aus. 

„Gut, dann... wohin wolltest du gerade? Wenn ich nicht genau in diesem Moment aufgetaucht wäre, wohin wärst du gegangen?", fragte er, noch immer keinen Funken Wut in der Stimme. Jonas schluckte schwer, denn er konnte nicht so recht einschätzen, ob Markus es tatsächlich nicht wusste oder ob es eine Art Test sein sollte. 

Beklommen taumelte er einen Schritt zurück, bis seine Kniekehlen gegen die Bettkante stießen und er sich kraftlos darauf niederließ. Sein Rucksack rutschte ihm von den Schultern, als er auf der Matratze aufkam, aber er machte sich nicht die Mühe, die Arme aus den Schlaufen zu nehmen. Markus setzte sich neben ihn, eine Hand auf seinem Knie. 

„Ich...", setzte Jonas an, allerdings musste er sich räuspern, bevor er weitersprechen konnte. Aufmerksam sah Markus ihn an. 

„Ich wollte zurück", sagte er und schaffte es noch so gerade das nach Hause hinunterzuschlucken. Markus nickte, wandte aber für einen Moment lang den Blick von ihm ab. 

„Und willst du das jetzt immer noch? Wenn ich dir verspreche, dass ich mehr auf dich eingehe, dir besser zuhöre und mir mehr Mühe gebe, dass es dir gut geht?", fragte Markus sanft und auch wenn es Jonas ärgerte, rührten diese Worte tief in ihm drin etwas an. 

Allerdings kamen ihm wieder die sehr eindeutigen Worte von Antoine in den Sinn, der ganz und gar nichts von dieser ganzen Geschichte hier hielt. Jonas spürte, wie ihm Tränen in die Augen schossen. Warum nur schaffte er es nicht, sich von Markus zu lösen? Noch vor wenigen Minuten war ihm mehr als klar gewesen, dass sein Herz Matthias gehörte, aber jetzt? Es war unlogisch, unvernünftig und noch eine ganze Menge anderer Dinge mit un..., dennoch saß er hier vor ihm wie ein Kaninchen vor der Schlange. 

„Ich habe noch zu große Angst, dass du mich nicht mehr so sehr lieben kannst wie früher, weil... naja, es ist offensichtlich, dass ich nicht mehr der Mann bin, in den du dich verliebt hast. Ich habe meinen Job verloren, ich bin alt geworden und habe meinen Kummer mit Essen verdrängt. Du hingegen, du bist noch genau so atemberaubend wie früher", fuhr Markus fort und Jonas war sofort klar, dass er wollte, dass er ihm widersprach. Jonas wandte den Blick auf seinen Schoß, tastete aber nach Markus Hand. Ihm war klar, dass er jetzt nicht mehr gehen konnte. Nicht heute. 

„Okay, machen wir es so. Fahren wir morgen nach meiner Arbeit nach Frankreich und am Sonntag Abend wieder zurück. Versuchen wir, ein schönes Wochenende zu haben", sagte er, ohne Markus anzusehen. 

Vielleicht würde ihm das Wochenende gut tun, ein wenig Abstand von allem zu bekommen. Denn auch wenn er sich eigentlich sicher war, dass Markus nicht wirklich den Platz in seinem Herzen so gut füllen konnte wie Matthias, wollte ein kleiner Teil in ihm drin, dass er in dieses Matthias-förmige Loch in seinem Herzen passte. 

„Ich verspreche dir, dass wir das haben werden, Schatz. Ich beweise dir, dass ich derjenige bin, der dich glücklich macht", tönte Markus, legte einen Arm um ihn und zog ihn enger an sich. 

„Ich liebe dich, Schatz", hauchte er leise an seinem Ohr, bevor er seinen Hals mit Küssen übersäte. Jonas gab sich dem hin, obwohl er nicht hier sein sollte. Wäre er nur fünf Minuten früher gegangen, wäre er jetzt bei Matthias, der vermutlich jede Menge Antworten von ihm haben wollte, ihn aber nicht leere Versprechungen machte und in sein schlechtes Gewissen redete, damit er bei ihm blieb. 

Ein Seufzen entfuhr ihm und er wandte sich aus Markus Griff. Noch immer hing sein Rucksack halb auf seinen Schultern und er wand ein wenig ungeschickt seine Arme aus den Schlaufen, bevor er ihn auf den Boden beförderte. 

„Ich bin müde und ich muss morgen früh aufstehen", sagte er und erhob sich. Markus sah ihm nach, als er ins Bad ging. Jonas fühlte sich wieder einmal merkwürdig leer. Er betrat das Bad, schaltete die kleine Lampe über dem Spiegel an und betrachtete sich darin. Er sah schlecht aus und er schaffte es nur ein paar Sekunden, sich anzusehen. Zu groß war der Ekel vor sich selbst. 

Er benahm sich wie ein kleines Kind, das war ihm klar und er musste sich dringend darüber klar werden, was er wirklich wollte. Immer wenn er dachte, er hätte eine Entscheidung getroffen, passierte irgendetwas, das alles ins Wanken brachte. 

Seufzend drehte er das Wasser auf und spritzte sich eine Ladung eiskalten Wassers ins Gesicht. Auch wenn es nicht den erhofften Effekt hatte und seine Gedanken klärte, wusch es wenigstens den Schweiß von ihm ab. Das Wasser perlte von seiner Haut und tropfte aus seinen Wimpern, als er sich mit den Händen am Rand des Waschbeckens abstützte. Er beobachtete eine Weile, wie die Tropfen im Abfluss verschwanden, bis er sich mühsam wieder aufrichtete und sich das Gesicht und die Hände an dem Handtuch links neben dem Waschbecken abtrocknete. Seine Haut brannte ein wenig, aber vermutlich waren seine Wangen wund von den ganzen Tränen, die in den letzten Tagen darüber gelaufen waren. 

Er wankte zurück zum Bett, wo Markus bereits mit ausgebreiteten Armen auf ihn wartete. Er trug nur eine Unterhose und auch wenn Jonas ihn nicht sonderlich attraktiv fand, wollte er sich in schützende Arme schmiegen. 

Langsam zog auch er sich aus, wobei er sich Markus Blicken nur allzu bewusst war und kroch schließlich zu ihm ins Bett. Sofort schmiegte Markus sich an ihn und obwohl es eigentlich viel zu heiß war zum Kuscheln, ließ Jonas es zu. Er fühlte sich beschützt in seinen Armen und... irgendwie eingeengt? 

Er wand sich aus seiner Umarmung und drehte sich auf die andere Seite, sodass er ihn ansehen konnte. Markus Augen waren geschlossen, so als wäre er wirklich müde. Seine Hand tastete über die Matratze, bis er die von Jonas fand und drückte sie. Jonas entfuhr ein Seufzen, das gefüllt war mit Schmerz, Verwirrung und auch so etwas wie Resignation. 

„Schlaf schön, Schatz", sagte Markus leise, während er seine Hand fester umklammerte und ein wenig seine Position veränderte. Jonas antwortete nicht darauf, sondern konzentrierte sich aufs Einschlafen. 

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