Kapitel 59 - Matthias
Auch wenn Matthias das niemals zugeben würde, hatte ihm der Abend mit seiner Familie gutgetan. Obwohl sein Vater ihn zwischendurch so angesehen hatte, als würde er ihn am liebsten erwürgen wollen, war es ein schöner Abend gewesen.
Tatsächlich hatte er so etwas wie Freude empfunden, als Sheila noch einmal in aller Ausführlichkeit von Jonathans Treppensturz und seinem anschließenden Herumgejammere erzählt hatte. Sicher, ein Treppensturz war nicht zum Lachen, aber so wie Sheila es erzählte, konnte er nicht anders, als sich kaputt zu lachen.
Inzwischen war es schon recht spät und für die Kinder wurde es Zeit fürs Bett.
„Na los, für euch ist Schlafenszeit", sagte Lisa bestimmt zu ihren Kindern Maxim und Tamara, woraufhin Mona sofort einen ängstlichen Blick zu Sheila warf. Sie lächelte.
„Oh ja, da hat sie recht. Auch für dich wird es Zeit fürs Bett", sagte sie, während sie Mona über die Wange strich.
„Für mich auch", sagte Matthias und gähnte herzzerreißend. Der Stress der letzten Tage laugte ihn aus und auch wenn er noch nicht so recht begriffen hatte, dass er wirklich seine Arbeit verloren hatte, freute er sich auf die freie Zeit. Einfach ein paar Tage ausschlafen und faulenzen, das würde ihm mit Sicherheit guttun und Klarheit in sein Gefühlschaos bringen.
Ächzend stand er von seinem Platz am Esstisch auf und streckte die Arme über den Kopf, bis es knackte. Allmählich begaben sich alle in Richtung Flur und auch er schlenderte durch das Wohnzimmer, bis er auf einmal eine Hand auf seiner Schulter spürte. Erschrocken wandte er sich um und sah in das Gesicht seiner Schwester, die ihn ungewohnt besorgt ansah.
„Alles okay? Wieso ist Jonas nicht mitgekommen?", fragte sie und schien ihn mit ihrem Blick zu durchdringen. Sofort breiteten sich Kummer und auch so etwas wie Wut in ihm aus und er senkte den Blick auf den Boden. Noch immer umklammerte Sheila seine Schulter und fing an, sie sanft zu drücken.
„Habt ihr euch gestritten? Ich meine... Er war gestern, als ich Mona gebracht habe, auch schon nicht da, oder?", fragte sie leise. Matthias riss den Blick wieder hoch und sofort sah er in ihre sorgenvollen Augen. Er hatte gar nicht damit gerechnet, dass Sheila es bemerken würde, vor allem da sie sich sicherlich Sorgen um Jonathan gemacht hatte.
Kaum merklich schüttelte er den Kopf, sah sich aber panisch um, ob niemand ihr Gespräch belauschte. Zwar wussten es Duygu und Lisa schon und eigentlich hatte er Sheila noch nicht von der Trennung erzählen wollen, aber ihr besorgter Blick ließ seine Entschlossenheit bröckeln. Zumindest würde er nun, wo alle nach Hause gingen, nicht mehr das Tischgesprächsthema sein, also würde er sie auch einweihen können. Früher oder später musste sie es erfahren, daran führte kein Weg vorbei.
„Jonas hat mich verlassen. Er hat letztes Wochenende mit seinem Ex geschlafen und will nun anscheinend wieder mit ihm zusammen sein", fasste er zusammen, allerdings spürte er, dass seine Beschreibung der Komplexität der Sache nicht im geringsten gerecht wurde. Es klang, als wäre Jonas die Entscheidung leicht gefallen, aber das war sie mit Sicherheit nicht. Sheila schnappte nach Luft.
„Bitte was?", fragte sie, als könnte sie nicht glauben, was er gerade gesagt hatte. Matthias zog die Schultern hoch und nickte.
„Er blockt seitdem alles ab. Ich weiß eigentlich gar nicht so richtig, was passiert ist, aber er redet auch nicht mehr mit mir", erklärte er und spürte wieder einmal Hilflosigkeit und Verzweiflung in sich. Er musste einfach noch einmal versuchen, mit ihm zu reden. Selbst wenn Jonas sich dann noch immer gegen ihn entscheiden würde, aber er brauchte einen Abschluss. Moment! Abschluss? Nein er wollte keinen Abschluss, sondern eine Versöhnung!
„Und wo ist er jetzt?", fragte Sheila, die Hand noch immer auf seiner Schulter, als hätte sie Angst, er würde sonst umfallen. Matthias schluckte schwer.
„Soweit ich weiß, ist er in einem Hotel. Zusammen mit ihm."
Tränen sammelten sich in seinen Augen, die er mühsam zurückdrängte.
„Mama, kommst du?", hörte er da auf einmal Mona rufen, die offensichtlich schon ungeduldig im Flur wartete. Sheila ignorierte sie.
„Willst du mit zu mir kommen? Ich meine... wenn du nicht allein sein willst", fragte sie zögerlich, als wüsste sie nicht so recht, wie sie nun mit ihm umgehen sollte. Eilig schüttelte er den Kopf.
„Nein, ich... ich will da sein, falls er es sich anders überlegt und doch noch nach Hause kommt. Lass uns in ein paar Tagen noch mal reden, dann habe ich mich ein wenig sortiert und...", sagte er und beendete den Satz mit einem Schulterzucken. Sheila nickte, drückte aber noch einmal seine Schulter, bevor sie ihre Hand herunternahm.
„Okay. Vielleicht klärt sich noch alles. Ruf mich ruhig an, wenn etwas ist", sagte sie noch, bevor sie ihn stehen ließ und ihrer Tochter hinterherging, die schon ungeduldig wartete. Matthias schluckte schwer und nickte.
Er musste sich überlegen, was er tun sollte. Jonas nochmals kontaktieren? Oder ihm Zeit geben? Er hatte keine Ahnung und egal wen er fragte, es schien, als würde keiner ihn so richtig verstehen.
Seufzend ging er in den Flur, wo er sich seine Schuhe anzog, noch einmal allen winkte und dann seiner Schwester nach draußen folgte. Es war inzwischen schon dunkel und gerade als er in sein Auto stieg, bemerkte er, wie müde er eigentlich war. Zu viel war in den letzten Tagen passiert, als dass er schon alles hätte ordentlich verarbeiten können.
Er schob den Schlüssel ins Schloss, startete den Motor und setzte rückwärts aus der Einfahrt. Er winkte noch einmal Duygu und Michael zu, die sich in dem Auto von Michaels Eltern saßen, wie er erkannte. Erleichtert atmete er aus, denn auch wenn Duygu inzwischen volljährig war, beruhigte es ihn ungemein, wenn sie nicht im Dunkeln mit der Bahn nach Hause fahren musste.
Matthias beeilte sich, nach Hause zu kommen, damit er vor seinem letzten Arbeitstag noch genug Schlaf bekam. Kaum dass er den Ortsausgang passierte und auf die Landstraße abbog, fingen seine Gedanken an, zu kreisen.
Was Jonas wohl gerade tat? Unweigerlich schlich sich das Bild von ihm und Markus in sein Hirn, was irgendwie nicht so recht passen wollte. Kopfschüttelnd versuchte er, Markus aus dem Bild zu streichen und durch sich selbst zu ersetzen. Sofort schlich sich eine Welle der Erregung durch seinen Körper, denn natürlich fehlte ihm auch die körperliche Nähe zu Jonas. Vielleicht würde Jonas ja zu ihm zurückkommen, wenn er Markus wiederum mit ihm betrog.
Matthias lachte bitter und freudlos, aber eines wurde ihm immer klarer: Er wollte die Trennung nicht akzeptieren. Er konnte es nicht und er würde alles ihm mögliche versuchen, um Jonas zurückzubekommen. Sollte Oskar sagen, was er wollte, er verzieh Jonas und er sehnte sich nach ihm. Sein Herz gehörte nun einmal ihm und auch wenn es vielleicht gemein klang, aber er hatte noch nie jemanden so sehr geliebt wie Jonas.
Es gab ja neben ihm auch nicht wirklich viele Leute, denen er sein Herz geliehen hatte. Seine erste Liebe war Esra gewesen, als er vierzehn Jahre alt gewesen war. Danach seine Freundin Felicia, die ihm kurz nach dem Abi verlassen hatte, weil er zu langweilig war. Sein Herz hatte ganz schön geschmerzt damals, aber er war jung gewesen und es fühlte sich jetzt komplett anders an. Sein Leben war damals nicht komplett auf den Kopf gestellt worden, sondern er hatte ein paar Wochen Herzschmerz, bevor er seine wilde Phase des Ausprobierens mit Mädchen, an deren Namen er sich noch nicht einmal erinnerte, begonnen hatte. Gefolgt von einem zweiten, gescheiterten Versuch mit Esra, einem immer-wieder-Herummachen mit Felicia und schließlich diese sehr kurz Sache mit Oskar.
Klar, er hätte vieles anders machen können und ganz vielleicht hatte es auch mal eine Chance gegeben, dass er und Esra eines dieser Paare hätten werden können, die ihr ganzes Leben lang zusammenblieben, aber irgendwie war der Funke nie ganz übergesprungen. Obwohl sie zwei gemeinsame Kinder bekommen und er sie geliebt hatte, war seine Liebe zu Jonas viel tiefer.
Auf einmal fand Matthias sich in der Straße wieder, in der er wohnte. Die Fahrt war wie im Flug vergangen, auch wenn es tatsächlich nicht wirklich weit war. Er suchte eine ganze Weile vergeblich nach einer Parklücke, bis schließlich jemand recht nah an seiner Haustür davonfuhr.
Er parkte, stieg aus dem Wagen und eilte durch die inzwischen abgekühlte Nacht zum Haus. Es war totenstill, sodass er seinen eigenen Atem hörte. Möglichst leise schloss er auf, schaltete das Licht im Flur ein und eilte die Treppen nach oben.
Plötzlich wurde er ganz nervös. Was, wenn Jonas da wäre? Aber nein, er hatte sein Auto doch gar nicht draußen stehen sehen. Allerdings wurde ihm auch bewusst, dass er schon seit einigen Stunden nicht mehr auf sein Handy gesehen hatte. Noch im Hausflur zog er es aus der Hosentasche, aber niemand hatte sich bei ihm gemeldet. Ein Schnauben entfuhr ihm, denn dass Jonas schwieg, machte ihn schon wieder wütend.
Mit zittrigen Fingern öffnete er die Wohnungstür und trat in die Wohnung. Er lauschte für einen Moment, aber es blieb beinahe gespenstisch still. Nur das leise Summen des Kühlschranks war zu hören, sonst nichts. Er schloss leise die Tür hinter sich, legte seinen Schlüssel und sein Portemonnaie auf die kleine Ablage an der Garderobe und stieg aus seinen Schuhen.
Erst da bemerkte er, dass sich die Hitze wieder hier drin gestaut hatte und er beschloss, noch einmal ordentlich durchzulüften. Er ging durch den dunklen Flur ins Wohnzimmer und öffnete die Balkontür. Das Licht ließ er besser aus, sonst kamen noch die ganzen Mücken herein.
Kaum dass die Balkontür geöffnet war, wehte eine erfrischende Brise herein und er eilte ins Schlafzimmer, um auch dort das Fenster zu öffnen. Sein Blick fiel ins Bett, dass ungemacht und unberührt dastand. Allerdings waren auch Jonas restliche Sachen noch immer hier. Sein Wecker, seine Bücher, die sich immer halb unter dem Bett stapelten und auch noch einige Klamotten, die über dem Stuhl in der Ecke zum Lüften hingen.
Es wirkte alles so, als sei er mitten aus dem Leben gerissen worden. Denn dass er die Trennung geplant hatte, stand außer Frage. Er hatte nicht gewusst und vermutlich auch nicht gewollt, dass er Markus in diesem verdammten Club begegnete und ihn nach Hause begleitete. Dass er anschließend so lange eingeredet bekam, dass Markus ihm ein besseres Leben bieten konnte.
Seufzend ließ Matthias sich aufs Bett fallen. Jonas fehlte ihm unheimlich. Und er wollte Antworten. Er wollte wissen, was genau passiert war. Warum Jonas nicht einfach nach Hause gekommen war und mit ihm über alles geredet hatte. Warum er nicht jetzt nach der Arbeit einfach nach Hause kam, anstatt zurück ins Hotel zu fahren.
Er spürte, wie diese Fragen ihn fertig machten und gleichzeitig konnte er sie nicht aus seinen Gedanken vertreiben, ohne eine Antwort bekommen zu haben. Er zog sein Handy wieder aus der Hosentasche und beschloss, Jonas noch einmal eine Nachricht zu schreiben. Er musste es versuchen, denn auch wenn er nun wusste, in welchem Hotel er war, schien ihn sein plötzliches Auftauchen Ärger eingebracht zu haben, zumindest Markus Blicken nach zu urteilen.
Er musste es subtiler versuchen, so, dass Markus es nicht mitbekam. Denn wenn Markus direkt auf jeden seiner Versöhnungsversuche mit Manipulation reagierte, wusste er, dass es vergeblich war.
Ein unangenehmes Engegefühl breitete sich in seiner Brust aus, als er Facebook öffnete und auf den Messenger klickte. Panisch überlegte er, was er schreiben sollte und er entschied sich schließlich für den einfühlsamen, nicht vorwurfsvollen Weg. Sicher, er war wütend und verletzt, aber das würde Jonas in seinem schlechten Gewissen und seinen Selbstzweifeln nur noch bestärken. Noch einmal atmete er tief durch dann tippte er eine Nachricht ein.
„Jonas, ich vermisse dich. Ich muss die ganze Zeit an dich denken. Bitte gib mir noch eine Chance, ich verspreche dir, dass auch ich dich glücklich machen kann. Ich liebe dich! M."
Komischerweise fühlte er sich nach dem Absenden der Nachricht ein wenig erleichtert und er beschloss, dass es dringend Zeit wurde, zu schlafen.
Er erhob sich noch einmal, zog sich bis auf die Unterhose aus und ging ins Wohnzimmer, um die Balkontür auf Kipp zu stellen, das gleiche tat er mit dem Schlafzimmerfenster, bevor er die Rollläden halb herunterließ.
Er kroch wieder ins Bett, legte sein Handy dicht neben sein Kopfkissen und schloss die Augen. Er erwartete nicht, dass Jonas ihm antwortete, aber vielleicht würde er es irgendwann tun, wenn er ihm nun morgens und abends eine Nachricht schrieb. Und in ein paar Tagen würde er vielleicht noch einmal versuchen, ihn auf der Arbeit abzufangen. Ein wenig beruhigt, dass er nun zumindest glaubte, einen konkreten Plan zu haben, schlief er schließlich ein.
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