Kapitel 58 - Jonas

Schmerz, das war Jonas einzige Empfindung in diesem Moment. Innerlich und äußerlich fühlte er sich zerrissen. Noch immer lag er auf dem Boden, wie lange, wusste er nicht. Allerdings schmerzten seine Glieder, als er sich mühsam aufsetzte. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, zog die Beine an und umschlang die Knie mit den Armen. Die Tränen waren endlich versiegt, allerdings fühlten seine Augen und Wangen sich wund und geschwollen an. Ganz genau so wie sein Inneres. 

Markus war gegangen, zwar zweifelsfrei nur vorübergehend, aber er hatte ihn hier allein gelassen. Wieso sie sich gestritten hatten, konnte er gar nicht mehr sagen. Zumindest, warum es sich so sehr hochgeschaukelt hatte. 

Markus hatte recht, er liebte Matthias noch immer, aber war das nicht verständlich nach einer so langen Beziehung? Das hier zwischen Markus und ihm war doch noch ganz frisch und entstanden aus einem unverzeihlichen Fehler, den er begangen hatte, weil er schwach und dämlich und bescheuert war. Wieso begriff Markus nicht, dass er das alles erst einmal verarbeiten musste, bevor er sich in ein neues Abenteuer stürzte? 

Jonas seufzte, verzweifelt und ergeben zugleich. Er musste eine Lösung finden, denn so konnte es nicht weiter gehen. Sie konnten nicht für immer zwischen Frankreich und Deutschland hin und her pendeln, das würde ihn auf Dauer zermürben. Er brauchte einen ruhigen Ort, ein zu Hause, wo er sich zurückziehen und entspannen konnte. Und er brauchte Liebe, brauchte jemanden, der sich um ihn kümmerte, ihm zeigte, dass er ein liebenswerter Mensch war. 

Aber wenn er das einfach nicht war?, bohrte sich eine gemeine, kleine Stimme in sein Hirn, die ihm sofort ein schlechtes Gewissen machte. Denn sie hatte recht. Er log und betrog und stand noch nicht einmal zu seinen Fehlern. 

Unweigerlich wanderten seine Gedanken elf Jahre in die Vergangenheit, zu dem Tag, an dem Markus ihm gebeichtet hatte, dass er ihn betrogen hatte. Auch wenn das nun schon so viele Jahre zurücklag, erinnerte er sich noch ganz genau daran. 

Markus, damals noch schlanker, mit dunkelblondem Haar und einem lebensbejahenden Schimmer in den Augen, umklammerte ihn wie ein Schraubstock. Beim Essen hatte er ihm wie beiläufig gesagt, dass er mit einer Frau geschlafen hatte. Es wäre ein einmaliger Ausrutscher gewesen, nichts von Bedeutung. Augenblicklich hatte Jonas Herz wie wild angefangen zu pochen, sein Leben war zerbrochen unter diesem Verrat. Sein Selbstbewusstsein war damals noch sehr viel fragiler gewesen als heute. Nicht, dass es heute besonders ausgeprägt gewesen wäre, aber damals hatte es ihn wortwörtlich zerbrochen. Er war aufgesprungen und wollte weg, aber Markus hielt ihn fest und redete auf ihn ein, dass das alles doch gar nicht so schlimm wäre. Immerhin hatte er keine Gefühle für diese Frau. Jonas hatte sofort reagiert. Er hatte ein paar Sachen eingepackt, Markus gesagt, es wäre vorbei und war gegangen. Eine Erklärung hatte er nicht hören wollen, denn dafür gab es keine Erklärung und erst recht keine Entschuldigung. 

Ein bitteres Lachen entfuhr Jonas, als er wieder zurück ins Hier und Jetzt kehrte, denn ihm wurde bewusst, dass sich die Geschichte wiederholt hatte. Nur war er nun derjenige, der fremdgegangen war. 

Seine Gefühle und seine Gedanken wirbelten umher und er fühlte sich, als würde er in einem überdimensionierten Würfel stecken, der hin und her geschleudert wurde, während er von einer Wand gegen die andere prallte. Er kam nicht zur Ruhe, hatte keine Zeit, sich aufzurappeln und herauszufinden, wie er auf das Rollen des Würfels irgendwie reagieren konnte, sodass er einigermaßen Schritt hielt. 

Hektisch wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht, krabbelte irgendwie zum Bett und legte sich hinein. Vielleicht war genau jetzt der Zeitpunkt, in dem er sich darüber klarwerden sollte, was er wollte. Er war allein, Markus war nicht hier und bequatschte ihn, drängte ihn, sich in die Entscheidung einzufügen, die er für die beide getroffen hatte. 

Jonas Hand wanderte zu seinem Handy und erschrocken stellte er fest, dass es bereits halb neun Uhr abends war. Er wusste nicht, wie lange Markus schon weg war, aber es kam ihm ziemlich lange vor. Das künstliche Licht des Displays blendete ihn, als er sein Handy entsperrte. Niemand hatte sich bei ihm gemeldet, weder Markus, noch Matthias oder Antoine.

 Antoine. In seiner Brust bildete sich ein dicker Kloß, denn er erinnerte sich nur zu gut an die abweisende, ungläubige Reaktion seines Kumpels, als er mit Markus bei ihm zu Hause aufgetaucht war. Ohne wirklich darüber nachzudenken öffnete Jonas das Nachrichtenprogramm und gab eine Nachricht an Antoine ein. Ihm war zwar klar, dass sein Kumpel ihm seine Entscheidung nicht abnehmen konnte und er wusste auch, dass Antoine kein Fan von Markus war, aber sicherlich würde es guttun, seine Meinung noch einmal zu hören. 

„Ich bin total verwirrt. Ich weiß nicht, was ich tue und ich weiß nicht, was ich will", schrieb er und klickte auf Senden. Er starrte sein Handy weiterhin an und zu seiner Erleichterung erkannte er, dass Antoine die Nachricht sofort bemerkt hatte. Augenblicklich schlug Jonas das Herz bis zum Hals, denn egal was Antoine ihm antwortete, es wäre alles andere als freundlich. Auf einmal sah er, dass Antoine ihn anrief. Jonas schluckte schwer, bevor er das Gespräch annahm. 

„Hey", krächzte er mit erstickter Stimme, was Antoine mit einem beinahe ungeduldigen Seufzen kommentierte. 

„Jonas", setzte Antoine an und klang, als würde er mit einem seiner kleinen Kinder sprechen anstatt mit einem erwachsenen Mann. Jonas schwieg und wartete, bis er weitersprach. 

„Was machst du nur? Ich meine... was ist los?", fragte er, eindeutig bemüht, einfühlsam zu sein, aber Jonas wusste, dass sein Gefühlschaos ihn ein wenig nervte. Kein Wunder, immerhin schien Antoine selbst kein Problem damit zu haben, seine Frau zu betrügen und so zu tun, als sei nichts gewesen. Aber so war er nun einmal nicht, er konnte das nicht. 

„Ich... ich bin noch immer mit Markus im Hotel und... er ist abgehauen. Wir haben uns gestritten", purzelten da die Worte aus ihm heraus und er spürte, dass noch mehr folgen wollten. Antoine brummte nur. 

„Er... er will, dass wir nach Frankreich gehen. Er will, dass ich am besten sofort meine Arbeit kündige und noch heute mit ihm zurück fahre und für immer bei ihm bleibe", berichtete er. Wieder schwieg Antoine eine Weile, sodass Jonas erneut ansetzte. 

„Er begreift einfach nicht, dass das so einfach nicht geht. Ich kann hier nicht alles stehen und liegen lassen und... wir streiten uns jeden Tag, er engt mich ein und macht mich durch sein Gequatsche ganz mürbe. Ich habe keine Zeit, mich irgendwie zu sortieren."

Kaum dass all das einmal ausgesprochen war, fühlte Jonas sich unendlich erleichtert. Zwar war er einer Lösung noch nicht wirklich näher gekommen, aber es fühlte sich an, als hätten die Worte und Gedanken nun einen Weg aus seinem Kopf herausgefunden und machten dort nun ein wenig Platz für andere Dinge. Antoine seufzte herzzerreißend. 

„Ich bin jetzt mal ganz ehrlich zu dir. Pack deine Sachen, so lange er noch weg ist und geh zurück zu Matthias. Rede mit ihm. Erklär ihm, was passiert ist und gib ihm ein wenig Zeit, darüber nachzudenken. Aber am wichtigsten ist: Verschwinde von Markus. Er ist nicht gut für dich, er macht dich vollkommen kaputt und ich glaube dir nicht, wenn du mir sagst, dass er die Liebe deines Lebens ist. Ihr passt einfach nicht mehr zusammen", sagte Antoine streng. Mit jedem Wort sank Jonas mehr in sich zusammen. 

„Ich kann nicht mit Matthias reden. Er wird nicht mehr mit mir zusammen sein wollen. Wie könnte er? Ich habe ihn auf die schlimmste Weise hintergangen", erwiderte er, denn es lag einfach absolut außerhalb Jonas Vorstellungskraft, dass Matthias ihm einfach verziehen würde. 

„Wenn du nicht mit ihm sprichst, wirst du es nicht herausfinden. Aber ganz ehrlich: Ihr wart so lange zusammen, meinst du nicht, eure Beziehung ist stärker als ein besoffener Ausrutscher?"

Jonas schluckte schwer und dachte unweigerlich an die Dinge, die Markus und er in den letzten Tagen miteinander getan und zueinander gesagt hatten. Das war kein besoffener Ausrutscher. 

„Ich... ich habe die letzten Tage mit ihm verbracht und...", fing Jonas an, aber er konnte den Satz nicht aussprechen. 

„Schon klar. Aber du kannst mir nicht erzählen, dass das das ist, was du willst. Du hast einen Fehler gemacht, ja, aber wer macht nicht mal Fehler? Niemand ist perfekt. Aber rede mit Matthias darüber. Erkläre es ihm, gebt euch ein paar Tage Zeit – die du natürlich nicht mit Markus verbringst – und findet wieder zueinander", sagte Antoine eindringlich, als würde er gar nicht verstehen können, dass das alles gar nicht so einfach war, wie er es sich vorstellte. 

„Es liegt nicht nur an Matthias. Selbst wenn er mit mir zusammen sein wollte, ich könnte es nicht. Mein schlechtes Gewissen zerfrisst mich", erklärte er, denn genau das war der Punkt, den Antoine nicht zu sehen schien. Dass nicht nur Matthias wütend auf ihn war, sondern auch er selbst. Antoine lachte freudlos. 

„Ja, das war schon immer so. Steh zu deinem Fehler und verkriech dich nicht hinter deinem schlechten Gewissen. Du kannst nicht für immer in Selbstmitleid zerfließen. Tu etwas, wenn du unzufrieden bist und warte nicht, bis irgendwer kommt und dich rettet. Du liebst Matthias, ich weiß das und du weißt das auch. Krieg endlich den Arsch hoch und geh zu ihm. Je länger du wartest, um so schlimmer wird es", plapperte Antoine, eindeutig wütend und aufgebracht. 

Jonas fühlte sich miserabel. Er wusste, dass sein Kumpel mit jedem seine Worte recht hatte, aber er ließ außer Acht, dass er auch für Markus Gefühle hatte. Zumindest irgendwie. 

„Ich empfinde auch etwas für Markus", sagte er kleinlaut, was Antoine mit einem verächtlichen Schnauben kommentierte. 

„Das denkst du, weil er dir wer weiß was versprochen hat. Er ist ein Loser, der nichts anderes kann, als dir ein schlechtes Gewissen zu machen. Begreif das doch endlich! Er ist nicht mehr der Kerl, in den du dich als Teenager verliebt hast!", schrie Antoine beinahe und Jonas hörte im Hintergrund ein Poltern, als hätte er mit der Hand auf den Tisch geschlagen. Jonas zuckte zusammen. 

Komischerweise wollte er nicht, dass Antoine weitersprach. Die Wahrheit schmerzte zu sehr. Dass er mit jedem Wort objektiv gesehen recht hatte, änderte allerdings nicht an seinen eigenen Gefühlen. Die konnte er eben nicht so einfach abschalten und so tun, als wäre all das nicht passiert. Er konnte nicht verleugnen, dass er seine Liebesbekundungen an Markus ernst gemeint hatte und dass ihn die Vorstellung, ein verheirateter Mann zu sein, in ungeahnte Höhen katapultierte. 

„Ich...", setzte er an, brachte aber den Satz nicht zu Ende, denn er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Antoine würde jedes seiner fadenscheinigen Argumente entkräften. 

„Jonas, du weißt, du bist mein bester Freund und das auch schon sehr lange. Ich sehe, wie sehr du leidest und ich weiß, dass deine Gedanken vermutlich vollkommen verrückt spielen. Aber betrachte die ganze Sache doch einmal ganz nüchtern. Selbst wenn sich zwischen dir und Markus alles normalisiert, wenn Alltag einkehrt, wirst du nicht glücklich mit ihm sein. Ihr seid nicht mehr auf einer Wellenlänge. Wohingegen du und Matthias... ich meine, ihr wart glücklich, ihr wart eine Familie. Du bist ein Vater für seine Kinder. Immer wenn ich euch gesehen habe, wusste ich, ihr gehört zusammen", sprudelte Antoine hervor und auf einmal spürte Jonas einen schmerzhaften Stich in seiner Brust. Die Kinder. Er würde sie unheimlich vermissen. Ein Keuchen entfuhr ihm, eine wortlose Zustimmung zu Antoines Worten. 

„Es ist alles natürlich deine Entscheidung. Aber wirf doch nicht dein perfektes Leben wegen einer Dummheit weg. Markus wird dir nie das Wasser reichen können. Er manipuliert dich, verspricht dir allerlei Dinge, aber du wirst nicht glücklich mit ihm werden", schloss Antoine, inzwischen wieder mit ruhigerer Stimme. Unwillkürlich nickte Jonas. 

„Du hast recht", sagte er leise, woraufhin Antoine erleichtert aufatmete und in die Hände klatschte. 

„Endlich! Also, pack dein Zeug und fahr auf direktem Weg zu Matthias, bevor Markus zurückkommt. Mach dir keine Gedanken mehr um ihn, er wird schon irgendwie wieder nach Hause kommen. Und du weißt, dass du mich immer anrufen kannst, aber bitte erst, wenn du dein Leben wieder in die Bahn gelenkt hast, in die es gehört", sagte Antoine und komischerweise machten ihm diese Worte Mut. 

Allein die letzten paar Tage waren aufreibender gewesen, als die letzten Jahre mit Matthias. Zwar stritten sie sich auch hin und wieder mal, aber nicht so, dass er heulend und vollkommen verzweifelt zurückblieb. Jonas setzte sich auf und straffte die Schultern. 

„Okay, ich... ich krieg das wieder hin, oder?", fragte er Antoine, der leise lachte. 

„Ja, das kriegst du", sagte er noch, dann beendete er das Gespräch. Jonas ballte die Hände zu Fäusten, aber nicht aus Wut, sondern in Entschlossenheit. Antoine hatte so was von recht. Matthias und er liebten sich. Ja, er hatte Mist gebaut, ziemlich großen sogar, aber er musste zumindest versuchen, es ihm zu erklären. 

„Du schaffst das. Du liebst Matthias, das mit Markus war nur ein dummer Anflug von Unsicherheit", sprach er sich selbst zu, bevor er aufstand und sich suchend umsah. Er suchte sein Zeug zusammen und stopfte alles in seine Tasche, schulterte sie und ging fest entschlossen zur Ausgangstür. 

Antoines Tritt in den Hintern war dringend nötig gewesen und in diesem Moment fragte Jonas sich, warum er nicht schon früher begriffen hatte, dass sein schlechtes Gewissen zwar durchaus angebracht war, er sich davon aber nicht zerfressen lassen durfte. Er musste zu seinem Fehler stehen, genau wie Antoine gesagt hatte. 

Fest entschlossen griff er nach der Türklinke und drückte sie nach unten. Nervosität breitete sich in ihm aus, denn die Vorstellung, Matthias gleich wieder zu sehen, machte ihn noch ganz verrückt. Dieser verpeilte Kerl, alles andere als perfekt, schien doch der genau passende Deckel auf seinen verkanteten Topf zu sein. 

Jonas grinste bei der Vorstellung, dass sie beide mit ihren Macken und Kanten dennoch perfekt zueinander passten. Schwungvoll öffnete er die Tür und zuckte erschrocken zurück, denn vor der Tür stand niemand anders als Markus. 

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