Kapitel 55 - Matthias
Matthias hörte, wie Oskar die Wohnung verließ. Wie von allein sprangen seine Augen auf und er wusste, dass er nicht mehr würde einschlafen können. Mühsam schlug er die Decke zurück und setzte sich auf. Sein Kopf pochte unangenehm und er bemerkte die Sonnenstrahlen, die durch die Rollläden hereinfielen.
Er war noch müde, wusste aber, dass er ohnehin bald aufstehen musste. Missmutig warf er einen Blick auf den Wecker und stellte fest, dass er in einer Minute klingeln würde. Er stöhnte, stellte ihn aus und streckte die Arme über den Kopf, bis es in seinen Schultern knackte.
Komischerweise freute er sich in diesem Moment, nur noch heute und morgen aufstehen zu müssen, denn danach wäre er arbeitslos. Zumindest praktisch gesehen, denn offiziell war er ja noch bis zum Ablauf seiner Kündigungsfrist freigestellt.
Er nahm sich vor, in den ersten Tagen einfach nur zu schlafen, denn bei dem ganzen Stress mit Jonas hatte er sich das wirklich verdient. Er würde gemütlich die ein oder andere Tüte rauchen, sich Essen bestellen und einfach warten, bis sein Herz nicht mehr zu zerbrechen drohte.
Plötzlich durchfuhr ihn ein Schock. Hatte er das gerade wirklich gedacht? Wollte er tatsächlich mit Jonas abschließen? Nein! So weit war er noch nicht! Panisch suchte er zwischen den Kissen nach seinem Handy und klickte darauf herum, bis es aufleuchtete. Geblendet kniff er die Augen zusammen, sah aber das kleine Nachrichtensymbol oben in der Ecke.
Augenblicklich beschleunigte sich sein Herzschlag, denn vielleicht war es ja Jonas, der ihm schrieb, sich für seine Aktion entschuldigte und wieder zu ihm zurückkam. Denn wenn er ehrlich war, wollte er genau das. Er wollte Jonas noch nicht aufgeben. Jedoch schien es im Moment aussichtslos und vielleicht sollte er ihn nicht weiter drängen, sondern warten, bis er sich von sich aus meldete.
Seufzend klickte er die Nachricht an, unterbewusst wissend, dass sie nicht von Jonas war. Tatsächlich hatte Duygu, seine ältere Tochter ihm geschrieben. Sie fragte, ob er heute Nachmittag auch zu seinem Vater kam. Matthias Herz zog sich schmerzhaft zusammen, denn in diesem Moment verfluchte er seine allzu gesellige Familie.
Meistens war er zwar ziemlich glücklich darüber, dass er, seine Schwester und sein Vater und inzwischen auch Duygu sich so nahe standen, aber wenn man etwas für sich behalten wollte, war das absolut unmöglich. Bisher wusste nur Oskar von der Trennung und auch von der Kündigung. Wie sollte er es den anderen nur beibringen?
Unschlüssig, was er nun tun sollte, warf er sein Handy hinter sich aufs Bett, stemmte die Fäuste in die Matratze und drückte sich hoch. Er würde erst einmal etwas frühstücken und sich fertig machen.
Barfuß tapste er über den Laminatboden, wobei seine Füße ein klebriges Geräusch hinterließen. Allmählich wurde es auch mal wieder Zeit, die Wohnung etwas auf Vordermann zu bringen, aber darauf hatte er nun wirklich keine Lust.
Er verließ nur in Unterhose das Schlafzimmer und ging zur Küchenzeile, wo sein Blick auf einen kleinen gelben Zettel fiel. Sofort erkannte er Oskars unordentliche Handschrift. Das Vorurteil, dass Ärzte vollkommen unleserliche Handschriften hatten, erfüllte Oskar zu einhundert Prozent. Nur mit Mühe gelang es ihm, die Worte zu entziffern.
„Ich musste nach Hause, Johnny dreht durch. Er ist richtig wütend, dass ich schon wieder bei dir übernachtet hab. Ich melde mich später", las er und verzog schuldbewusst das Gesicht. Oskar hatte gestern – oder besser gesagt: heute Nacht – ein wenig von seinen Sorgen erzählt, allerdings war Matthias viel zu abgelenkt von seinen eigenen Problemen, um wirklich eine Hilfe für ihn zu sein. Vielleicht sollte er wirklich mal in Ruhe mit Oskar reden und ihm diesen dämlichen Plan von seiner offenen Ehe während Johnnys berufsbedingter Abwesenheit ausreden.
Kopfschüttelnd knüllte er den Zettel zusammen und warf ihn in den Mülleimer, bevor er sich eine Schüssel aus dem Schrank nahm und sie mit Froot Loops füllte. Als er den Kühlschrank öffnete, um die Milch herauszuholen bemerkte er gähnende Leere. Einkaufen würde er auch ziemlich bald müssen. Naja, ab Samstag hatte er immerhin jede Menge Zeit dafür, sich um den Haushalt zu kümmern.
Seufzend ging er zum Esstisch, ließ sich auf seinem angestammten Platz nieder und schaufelte die herrlich süßen Froot Loops in sich hinein. Jonas mochte diese Dinger nicht, er war mehr der Typ Zigarette und Kaffee reichen als Frühstück. Matthias schluckte schwer. Jonas war trotz seiner physischen Abwesenheit noch allgegenwärtig. Überall standen Sachen von ihm herum oder solche, die ihn an ihn erinnerten.
Da stand diese Kerze im Glas mit irgendeinem lebensbejahenden Spruch darauf, die er gern abends anzündete. Seine Teenie-Bücher, die er innerhalb weniger Tage komplett durchlas oder der überdimensionierte Messerblock, der für Matthias Geschmack viel zu viel Platz wegnahm.
Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er an ihre Diskussion zurückdachte, als Jonas dieses Ungetüm angeschleppt hatte. Noch immer war er der Meinung, dass so eine Ansammlung von Messern einen Einbrecher geradezu einlud, sich eines daraus zu schnappen und sie damit zu bedrohen. Matthias erinnerte sich genau an Jonas hochgezogene Augenbraue und seinen Blick, der eindeutig sagte, dass er nicht alle Tassen im Schrank hatte, als er seine – natürlich nicht ganz ernst gemeinten – Bedenken geäußert hatte.
„Ein Einbrecher würde gar nicht bis zu den Messern kommen, denn er stolpert vorher über dein ganzes Zeug, dass du immer im Flur herumliegen lässt", hatte er darauf geantwortet. Matthias lachte leise, was sich irgendwie merkwürdig anhörte, da es niemand erwiderte.
Ihm wurde bewusst, dass er Jonas noch eine ganze Weile vermissen würde. Vor allem, wenn seine Sachen weiterhin hier waren. Allerdings... so lange er sie nicht abholte, war sein Auszug noch nicht endgültig, oder? Außerdem würde er nur noch heute und morgen arbeiten und danach den ganzen Tag zu Hause sein und so mitbekommen, wenn er seine Sachen abholen wollte. Vielleicht würde er ihn dann überzeugen können, sich das alles doch noch einmal zu überlegen.
Eilig riss er sich zurück ins Hier und Jetzt. Würde er noch länger herumtrödeln, käme er womöglich noch zu spät zur Arbeit. Wobei, was drohte ihm denn noch? Gekündigt war er ja schon. Ein Schnauben entfuhr ihm, aber dann riss er sich zusammen, beendete sein Frühstück und verschwand im Bad.
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Eine Stunde später betrat Matthias das Caritas-Gebäude, seine Umhängetasche über der Schulter und das Handy in der Hand. Er lief durch den Eingangsbereich auf den Tresen zu, hinter dem sich sein Arbeitsplatz befand und sah von Weitem schon Diana, die ihm winkte. Er erwiderte den Gruß, fuhr sich durch die Haare und blieb an dem Haargummi mit dem Einhorn drauf hängen, mit dem Aaliyah ihm einen kleinen Zopf gemacht hatte.
Komischerweise gefiel ihm diese Frisur und da er das Haargummi heute Morgen noch in seinen Haaren gefunden hatte, war es wieder an seinen rechtmäßigen Platz gewandert. Dass es bescheuert aussah, war ihm durchaus bewusst, aber kleine Verrücktheiten machten einen besonders. Oder waren ein Zeichen von Faulheit, denn er hätte nur in Aaliyahs Zimmer gehen müssen und mit ziemlicher Sicherheit schnell ein neutraleres Haargummi gefunden. Als er den Tresen erreichte, spürte er sofort Dianas musternden Blick auf sich.
„Neue Frisur?", fragte sie, was er mit einem Nicken beantwortete.
„Hat meine Tochter so gemacht und... irgendwie gefällt es mir", sagte er, allerdings sah Diana alles andere als überzeugt aus. Was ihn allerdings nicht weiter störte, immerhin trug sie auch absolut nicht figurschmeichelnde pinke Kleider.
Matthias ging um den Tresen herum, ließ seine Tasche unter dem Tisch verschwinden und setzte sich auf seinen Drehstuhl. Sein Blick wanderte auf sein Handy und ihm fiel wieder ein, dass er Duygu noch gar keine Antwort geschickt hatte.
„Diana, ja oder nein?", fragte er seine Kollegin, drehte sich mit dem Stuhl zu ihr herum und grinste sie an.
„Ja", sagte sie bestimmt und zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf ihn, als wäre sie todernst.
„Okay", erwiderte er, gab eine schnelle Antwort an Duygu ein, dass er sie heute Nachmittag bei seinem Vater treffen würde und warf sein Handy ebenfalls unter den Tresen in seine Tasche.
„Zu was hab ich Ja gesagt? Ein romantisches Dinner? Fallschirmsprung oder Schlammbad?", fragte Diana und gluckste.
„Schlammbad?", wiederholte Matthias, denn er konnte sich Diana nicht wirklich in einem Beauty-Salon in einem dieser Matschebäder vorstellen.
„Oh, das wollte ich wirklich schon mal machen. Das soll ja wahre Wunder bewirken", spann sie den Witz weiter, doch nun konnte Matthias das Lachen nicht mehr zurück halten.
„Ernsthaft? Meinst du nicht, dafür ist es schon zu spät?", scherzte er, was Diana empört nach Luft schnappen ließ. Sie griff nach ihrem Tacker und holte aus, als wollte sie ihn schlagen. Was sie natürlich nicht tat.
„Also wirklich, du bist unglaublich! Aber... mal was anderes. Was hältst du eigentlich von einer kleiner Verabschiedung morgen Nachmittag? Wir könnten was zu Essen bestellen und unseren letzten gemeinsamen Tag ein wenig feiern", schlug sie vor, was Matthias nicken ließ. Auch wenn es bei ihm privat gerade drunter und drüber ging, fand er das eine gute Idee. Immerhin hatten sie viele Jahre zusammen gearbeitet.
„Ich kann noch gar nicht so richtig begreifen, dass ich nur noch heute und morgen hierher kommen muss", sagte er leise und warf eilig einen Blick über die Schulter, ob seine Chefin in der Nähe war. Allerdings konnte er sie nicht entdecken. Dianas Miene wurde weich.
„Mir kommt es auch noch nicht vollkommen surreal vor. Aber... dich und Louisa trifft es ja viel härter als mich", sagte sie, wo sie nicht ganz Unrecht hatte. Immerhin durfte sie, wenn auch an einer anderen Zweigstelle, hier weiter arbeiten.
„Ach, ich finde schon etwas Neues", winkte er ab, auch wenn er es sich noch gar nicht vorstellen konnte. Es gab zwar viele soziale Einrichtungen, die ähnlich waren wie die Caritas, allerdings war die Bezahlung generell nicht so gut und auch die Arbeitszeiten waren bei einer 24-Stunden-Betreuung logischerweise nicht so angenehm wie hier.
„Mit Sicherheit. Nimm nur zum Vorstellungsgespräch ein anderes Haargummi", sagte sie und zwinkerte. Matthias lachte leise, allerdings wurden sie von Louisa unterbrochen, die gerade hereinkam.
„Guten Morgen!", rief sie freudestrahlend, gesellte sich zu ihnen und plapperte munter drauf los. Diana sprang sofort darauf an und Matthias konzentrierte sich tatsächlich ein wenig auf die Arbeit. Was jedoch nur für kurze Zeit funktionierte, denn recht schnell schlich sich Jonas wieder in seine Gedanken.
Wie ihm wohl seine neue Frisur gefiel? Er hatte schon einige Wochen lang gemeckert, dass er sie schneiden lassen sollte. Auf einmal zog sich ein enges Band um seine Brust, das ihm die Luft zum Atmen nahm. Er musste sich wirklich dringend ablenken, zumindest bis der erste Schmerz vergangen war.
Er beschloss, noch einen Blick auf sein Handy zu werfen und bemerkte, dass Duygu ihm zurückgeschrieben hatte. Er klickte auf die Nachricht und las die wenigen Worte.
„Ist alles okay bei euch? Aaliyah meinte, dass Jonas gestern nicht da war."
Einen Moment lang fühlte er sich unfähig, sich zu bewegen. Er musste seine Familie einweihen, da führte kein Weg mehr dran vorbei. Immerhin würde er nicht ewig ausweichen und behaupten können, dass Jonas eben viel arbeitete. Irgendwann würde es auffallen, dass Jonas einfach nicht mehr da war.
Er atmete tief durch und überlegte fieberhaft, ob und wenn ja was er Duygu noch antworten sollte. Wahrscheinlich wäre es leichter, von Jonas Trennung per Nachricht zu berichten, allerdings würde es dann unweigerlich mehr als unangenehm werden, wenn er nachher bei seinem Vater auftauchte. Abgesehen davon war sie immer noch seine Kleine, auch wenn sie bereits erwachsen war und er wollte sie damit nicht belasten.
„Alles okay. Wir sehen uns später", schrieb er nur und ließ sein Handy wieder unter dem Tisch verschwinden. Gerade als er den Blick wieder hob, erkannte er einen jungen Mann, der das Gebäude betrat. Zu seiner Erleichterung war es ein bekanntes Gesicht und er setzte ein Lächeln auf.
„Der ist meiner", sagte er leise zu den anderen beiden, die noch immer in ein Gespräch vertieft waren. Glücklicherweise war der Typ, der gerade hereinkommen umgänglich und er glaubte nicht, dass es ein allzu anstrengendes Gespräch werden würde.
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