Kapitel 49 - Matthias
Regungslos stand Matthias da. Wie lange, konnte er nicht mehr sagen, aber der Taubheit in seinen Füßen nach zu urteilen sehr lange. Das war nun wirklich mehr als eindeutig gewesen, da gab es keinen Interpretationsspielraum mehr, ob Jonas noch mit ihm zusammen sein wollte oder nicht.
Auf einmal glaubte er, ersticken zu müssen. Ein enges Seil legte sich um seine Brust, nahm ihm so die Luft zum Atmen. Er keuchte, strauchelte und landete mit dem Hintern auf dem Boden. Sein Fuß traf dabei eines der Haargummis, das Aaliyah noch auf dem Boden hatte liegen lassen und er hörte das leise Knacken, als das Einhorn zerbrach.
Kerzengerade legte Matthias sich auf den Boden und starrte an die Decke. Wie immer fiel ihm natürlich die Stelle auf, die er damals, vor einigen Jahren nicht richtig gestrichen hatte und die nun dunkler war als der Rest.
Seine Gedanken wirbelten umher und gleichzeitig fühlte er sich wie gelähmt. Es war nicht das erste Mal, dass er verlassen wurde, aber dieses Mal fühlte es sich schlimmer an, als jemals zuvor. Es war, als wäre ein Teil von ihm einfach weg, gegangen, für immer verloren.
Komischerweise spürte er noch immer Jonas Kuss auf seinen Lippen. Wieso küsste er ihn, wenn er ihn eine Minute später verließ? Das war unlogisch! Wie von allein wanderte seine Hand zu seiner Hosentasche und er kramte sein Handy hervor. Sollte er Jonas anrufen? Ihn fragen, was das alles für ein schlechter Scherz war und wann er zurückkam? Oder meinte Jonas das wirklich ernst?
Matthias schüttelte den Kopf, wie um sich selbst eine Antwort zu geben. Nein, das konnte nicht sein, das glaubte er einfach nicht. Man wurde doch nicht einfach so aus heiterem Himmel verlassen. Gut, Jonas hatte ihn betrogen, das war falsch und er wollte auch, dass er ein schlechtes Gewissen deswegen hatte, aber er wollte dennoch mit ihm zusammen bleiben.
Sein Blick klärte sich und er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf sein Handy. Als könnte dieses blöde elektronische Teil seine Gedanken lesen, fing es an zu klingeln. Auf dem Display erschien jedoch ein Name, den er eigentlich nicht hatte lesen wollen. Sheila. Seine Schwester rief ihn an, als hätte sie mal wieder durch ihre komische, natürlich nur eingebildete, Zwillingsverbundenheit gespürt, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung war. Oder sie rief an, weil er sich tatsächlich seit ein paar Tagen nicht mehr bei ihr gemeldet hatte. Mechanisch bewegten sich seine Finger und er nahm das Gespräch an.
„Ja?", fragte er und erschrak vor seiner eigenen Stimme.
„Hey, ich habe ein wirklich großes Problem und ich brauche ziemlich dringend deine Hilfe", platzte sie heraus, eindeutig gehetzt und außer Atem. Er hörte ein Stöhnen im Hintergrund, schmerzverzerrt und eindeutig Sheilas Mann Jonathan zuzuordnen.
„Was ist los?", fragte er, auch wenn er sich irgendwie ganz weit weg fühlte.
„Jonathan ist die Treppe runtergefallen und er hat sich wahrscheinlich den Fuß gebrochen. Ich muss ihn zum Krankenhaus fahren. Kannst du auf Mona aufpassen? Bitte!", plapperte sie weiter, eindeutig verzweifelt. Bevor Matthias wusste, was er da tat, setzte er sich auf und bejahte.
„Klar. Soll ich zu euch kommen und sie abholen?", fragte er und dachte an Sheilas und Jonathans vierjährige Tochter Mona.
„Wir fahren sowieso fast bei dir vorbei. Kannst du zur Ecke an der Hauptstraße kommen? Ich lasse sie kurz aussteigen", fragte sie.
„Kein Problem, ich warte dort auf euch", sagte er ruhig, so als würde seine Welt nicht gerade wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen. „Danke! Wir fahren sofort los", rief sie noch, dann legte sie auf. Eine Weile lauschte er dem Tuten, bis er endlich wieder zurück in die Realität kehrte.
Mühsam erhob er sich, streckte die müden Glieder und wankte in den Flur. Seine Schuhe trug er noch immer, also schnappte er sich nur seinen Schlüssel und verließ die Wohnung. Er fühlte sich noch immer wie in einem Traum, so als würde er jeden Moment aufwachen. Er ging die Treppen nach unten und bemerkte, dass es schon recht spät sein musste, denn die Sonne verschwand langsam hinter den drei- bis vierstöckigen Häusern, die die Straße säumten.
Er schlenderte das kurze Stück bis zur Hauptstraße, lehnte sich an die Hauswand des kleinen Cafés und hielt nach Sheilas dunkelblauem Skoda Ausschau. Von ihnen zu Hause bis nach hier war es nicht weit, sodass sie sicherlich jeden Moment ankommen müssten.
Kaum dass er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, preschte Sheila in einem Affentempo die Straße entlang, hielt mit quietschenden Reifen an und ließ das Fenster an der Fahrerseite herunter. Matthias warf einen Blick hinein und erkannte Jonathan auf dem Beifahrersitz, das Gesicht schmerzverzerrt und neben seinen offensichtlich verletztem Fuß auch noch eine ganz schöne Beule auf der Stirn.
„Danke, du hast was gut bei mir. Papa habe ich nicht erreicht, aber wenn es zu viel mit ihr wird, kannst du ihn später noch mal anrufen", sagte Sheila, als wäre Mona das schlimmste Kind auf der Welt.
„Schon okay. Ruf mich an, wenn was ist", sagte er matt, öffnete die hintere Tür und ließ Mona aussteigen.
„Gute Besserung", rief er noch, dann schlug er die Tür zu und sofort brauste Sheila wieder davon. Mona stand ganz bedröppelt da, in ihren Händen einen Stoffbären. Sie sah ihren Eltern nach und es war offensichtlich, dass sie das alles noch nicht verstand.
„Na komm, gehen wir zu mir nach Hause. Papa muss zu einem Doktor, weil er sich wehgetan hat", erklärte er und hielt der Kleinen die Hand hin, die sie ohne zu zögern nahm.
„Papa ist die Treppe runtergefallen. Erst hat Mama gelacht, aber als sie gesehen hat, dass er weint, hat sie aufgehört", berichtete Mona und Matthias konnte sich bildlich vorstellen, wie das Ganze abgelaufen sein musste.
Er betrachtete seine Nicht ein wenig genauer. Sie sah ihrem Vater sehr ähnlich, auch sie hatte dunkelbraunes Haar, eine schmale Nase und volle Lippen. Ihr Haar war sehr ordentlich kinnlang geschnitten und sie trug ein sehr hübsches pinkes Kleid mit einer orangenen Blume darauf, darüber ein weißes Strickjäckchen. Sheila achtete wirklich immer sehr darauf, dass Mona ordentlich angezogen war, beinahe adrett.
„Bestimmt geht es deinem Papa schnell wieder gut", versprach er, woraufhin sie besorgt dreinblickte, aber nickte. Den restlichen Weg gingen sie schweigend bis zu ihm nach Hause. In seiner Wohnung angekommen umklammerte Mona noch immer ihren Teddy und blieb unschlüssig im Wohnzimmer stehen. Verunsichert sah sie sich um, auch wenn sie schon ein paar Mal hier gewesen war.
„Bist du nicht so langsam schon müde?", fragte Matthias, denn inzwischen war es schon kurz nach neun Uhr. Mona nickte und drückte ihren Teddy noch enger an sich.
„Möchtest du in Aaliyahs Bett schlafen? Sie ist ja heute nicht hier, also hättest du es ganz für dich", schlug er vor, aber Mona schüttelte sofort den Kopf.
„Ich will bei dir im Bett schlafen. Alleine habe ich Angst", erklärte sie und und sah ihn mit so großen Rehaugen an, dass er nickte.
„Gut, aber dann sollten wir uns hinlegen. Komm mal mit", sagte er und führte sie in Aaliyahs kleines Kinderzimmer. Er öffnete den Kleiderschrank und nahm ein Nachthemd heraus, das sicherlich viel zu groß wäre, aber vermutlich gemütlicher als ihr Kleid.
„Hier, das kannst du anziehen", sagte er und verließ das Zimmer wieder. Mona folgte ihm wie ein Schatten bis ins Schlafzimmer, wo er das Nachthemd aufs Bett legte und anschließend die Rollläden herunterließ. Im schummrigen Licht sah er, wie Mona sich umzog und ihr Kleid achtlos auf den Boden fallen ließ.
„Na komm, Zeit zum Schlafen", sagte er, beförderte ebenfalls seine Jeans auf den Boden und schlug die Decke auf seiner Seite des Bettes für sie zurück. Eilig krabbelte sie ins Bett, legte sich auf den Rücken und faltete die Hände über ihrem Teddy. Matthias breitete die Decke über ihr aus, anschließend ging er um das Bett herum auf Jonas Seite.
„Du musst noch meine Hörgeräte rausmachen", sagte Mona und erst da fiel ihm wieder ein, dass die diese Dinger trug. Sofort fühlte er sich unsicher, denn er wollte nichts kaputt machen.
„Weißt du, wie das geht?", fragte er und schaltete die kleine Lampe auf dem Nachttisch an, bevor er sich aufsetzte. Auch Mona richtete sich wieder auf und nickte. Neugierig beobachtete er, wie sie mit ihren kleinen Händen die Geräte löste und ihm reichte. Vorsichtig legte er sie auf den Nachttisch, warf Mona eine Kusshand zu und schaltete das Licht wieder aus. Er wartete, bis sie sich hingelegt und die Augen geschlossen hatte, bevor auch er sich gemütlich hinlegte.
Allerdings konnte er nicht an Schlaf denken, viel zu aufgewühlt waren seine Gedanken. Unwillkürlich zog er Jonas Decke bis unters Kinn, so als könnte er dadurch seine Entscheidung rückgängig machen und ihn heraufbeschwören. Gott, er vermisste ihn schon jetzt! Wie sollte er sich nur damit abfinden, dass Jonas ihn verlassen hatte? Sollte er das überhaupt? Er wusste es nicht. Er hatte keine Ahnung, ob Jonas es nicht noch mehr stressen würde, wenn er ihm weiterhin mit Anrufen und Nachrichten auf die Nerven ging. Ein Seufzen entfuhr ihn und panisch sah er zu Mona, die aber natürlich nichts gehört hatte.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top