Kapitel 47 - Matthias
Matthias zuckte heftig zusammen, als er eine Gestalt im Wohnzimmer stehen sah. Jonas. Vollkommen überfordert, was er nun tun sollte und was das alles zu bedeuten hatte, stand er da und starrte ihn an. Und Jonas starrte zurück, als wäre er genau so geschockt, ihn hier zu sehen.
War Jonas wieder zurück? Also... so richtig zurück? Langsam schloss er die Tür hinter sich, legte den Schlüssel auf die kleine Ablage an der Garderobe neben Jonas Dienstausweis und sah ihn an.
„Hey", brachte er schließlich hervor, woraufhin Jonas beinahe peinlich berührt den Blick auf den Boden senkte und die Hände in die Hosentaschen schob. Matthias ging näher zu ihm und erst da bemerkte er die große Reisetasche im Flur. Nur langsam begriff er, was das bedeutete. Jonas packte seine Sachen. Ein Keuchen entwich ihm und er glaubte, seine Beine würden ihm den Dienst versagen. Noch immer stand Jonas regungslos da und wich seinem Blick aus.
„Was... ich meine...", stammelte Matthias, aber es war, als hätte er verlernt, einen sinnvollen Satz zu formulieren. Erinnerungen von heute Morgen schossen auf ihn ein, Jonas Herumgedruckse und sein Abgang zusammen mit Markus. Markus.
Plötzlich riss Matthias die Augen auf und stürmte ins Wohnzimmer. Aber dieser elende Fettsack war zum Glück nicht zu sehen. Das hätte gerade noch gefehlt, wenn Jonas ihn mit in diese Wohnung gebracht hätte. Allerdings wurde ihm auch klar, dass er dringend etwas tun musste, wenn er Jonas nicht gehen lassen wollte. Denn das wollte er nicht, oder?
Unsicher trat er näher an Jonas heran, der noch immer stocksteif dastand, als wäre er festgewachsen. Als sie nur noch wenige Zentimeter trennte, hob Jonas endlich den Blick. Sofort sah Matthias ihm in die weichen, hellbraunen Augen, die so vertraut waren. Jonas Lippe zitterte, so als wäre er kurz davor, zu weinen.
„Jonas", setzte er an, sanft und einfühlsam, denn es war offensichtlich, dass Jonas kurz davorstand, durchzudrehen. Genau in diesem Moment lief eine Träne über seine Wange, die Matthias eilig mit dem Finger auffing. Als hätte seine Berührung seine Haut verbrannt, zuckte Jonas zurück.
„Du packst deine Sachen?", fragte Matthias, obwohl das eindeutig war. Kaum merklich nickte Jonas. Matthias glaubte, sein Herz würde ihm aus der Brust gerissen, so sehr schmerzte es. Wie konnte er ihn nur wirklich verlassen? Sie hatten doch schon so viel durchgestanden, warum gab Jonas jetzt auf?
„Bitte nicht. Ich will nicht, dass du Schluss machst. Ich liebe dich", brachte er hervor und auch wenn diese Worte plump und abgedroschen klangen, waren sie die Wahrheit. Jonas entwich ein Wimmern, dann presste er die Hände vors Gesicht und fing an, bitterlich zu weinen. Unschlüssig, was er nun tun sollte, stand Matthias da. Wie von allein bewegte er sich auf einmal, legte die Arme um Jonas und zog ihn eng an sich. Seine Umarmung blieb unerwidert, was ihn den Druck seiner Arme noch etwas verstärken ließ.
„Bitte Jonas. Erzähl mir alles, was passiert ist. Warum du das gemacht hast. Ich will nur verstehen, warum und ich will, dass wir wieder glücklich sind", flüsterte er leise an seinem Ohr und berührte ganz zärtlich mit den Lippen sein Wange. Jonas unterdrückte eindeutig das Schluchzen und wand sich. Aber Matthias ließ ihn nicht los, er konnte nicht riskieren, dass er ihn jetzt allein ließ.
„Ich... habe Markus gesagt, dass ich ihn liebe. Und ich habe mit ihm geschlafen und... er hat mir versprochen, dass er mich heiratet", sagte Jonas mit kratziger Stimme und jedes seiner Worte schnitt sich wie ein Messer in Matthias Brust. Er atmete tief durch, um sich ein wenig zu beruhigen.
„Das weiß ich. Das ändert aber nichts an meinen Gefühlen für dich. Ja, ich bin verletzt und ich bin auch wütend auf dich, aber ich will mit dir zusammen sein. Wir waren doch glücklich, wieso hast du...", setzte er an, wurde aber von Jonas unterbrochen, der sich nun bestimmter aus seiner Umarmung wand und ihn von sich schob. Als er sein Gesicht sah, konnte er Jonas Schmerz förmlich spüren.
„Ich habe es zwischen uns kaputt gemacht. Es wird nicht mehr, wie es vorher war und... zwischen ihm und mir, das... das ist mehr als nur ein Ausrutscher", sagte er, allerdings entging ihm nicht, wie er den Blick auf den Boden richtete. Matthias schüttelte ungläubig den Kopf.
„Das glaube ich dir nicht. Du hast nicht einfach aufgehört, mich zu lieben und liebst stattdessen nun ihn. Das kann nicht sein", sagte er, während er immer und immer weiter in Unglauben den Kopf schüttelte.
„Vielleicht nicht, aber... immer wenn ich dich ab jetzt ansehe, werde ich daran erinnert, was ich für einen Fehler gemacht habe. Manche Dinge kann man einfach nicht mehr gutmachen", erwiderte er, aber Matthias glaube auch diesen Worten nicht.
„Ich verzeihe dir. Ich meine... wenn dir irgendetwas mit mir fehlt, dann sag es mir. Aber bitte verlass mich nicht für ihn. Du... du kannst ihn nicht wirklich mehr lieben als mich, nur weil er dir verspricht, dass er dich heiratet", sagte er und als er sah, wie Jonas bei seinem letzten Wort zusammenzuckte, schnaubte er verächtlich. War es wirklich das, was Jonas so sehr störte? Das war doch bescheuert! Immer verzweifelter wurden seine Gedanken, denn es schien, als würden all seine Worte, seine Liebe an Jonas abprallen.
„Aber was hat dieser Kerl, was ich nicht habe? Was hat er mehr zu bieten als ich? Wenn es dir so wichtig ist, dann... meinetwegen, vielleicht denke ich noch einmal über die Ehe nach, aber...", setzte er an, doch Jonas unterbrach ihn.
„Du machst mich ganz wahnsinnig! Ihr beide! Ich komme kaum mit meinem eigenen schlechten Gewissen zurecht, hör endlich damit auf, mir auch noch eines zu machen!", rief er aus, eindeutig verzweifelt und überfordert von seinen Gefühlen. Matthias hielt inne. Hatte er Jonas zu sehr bedrängt?
„Ich... entschuldige, ich wollte dir nur sagen, dass ich dich liebe, egal, was du mit ihm gemacht hast und ich nicht will, dass du mich verlässt. Wenn du Zeit brauchst, herauszufinden, was du willst, dann ist es okay. Aber bitte versprich mir, dass du wieder nach Hause kommst. Aaliyah braucht dich, sie fragt ständig nach dir", sagte Matthias ruhig, beinahe monoton, aber Jonas schien diese Worte ganz anders aufzunehmen. Er fing an, sich die Haare zu raufen und im Zimmer auf und ab zu gehen. Eine Weile verfolgte Matthias seine Wanderung mit dem Blick, bis Jonas auf einmal stehen blieb und ihn so direkt ansah, dass er für einen Moment lang Hoffnung schöpfte. Er schien sich die Worte zurechtzulegen, denn seine Augen wanderten von links nach rechts, als würde er nachdenken.
„Ich weiß, dass du mich liebst und ich liebe dich auch. Aber für ihn empfinde ich auch irgendwie etwas und... er verspricht mir das Leben, das ich mir immer gewünscht habe. Abgesehen davon weiß ich nicht, ob ich mir selbst verzeihen kann", sagte er auf einmal vollkommen ruhig. Matthias brauchte einen Moment, bis er den Sinn seiner Worte begriff.
„Okay und... sagst du mir Bescheid, wenn du weißt, ob du dir verzeihen kannst? Denn ich habe es schon", erwiderte er, streckte noch einmal die Hand nach ihm aus und legte sie in Jonas Nacken, um ihn näher an sich heranzuziehen.
Er wusste, dass Jonas unsicher war und er wusste auch, dass er schon Dinge getan hatte, die andere für unverzeihlich hielten, aber so war er nun einmal. In diesen Jonas hatte er sich verliebt, mit all seinen Macken und Fehlern, aber auch mit der fürsorglichen, väterlichen Seite. Seine manchmal ziemlich bösen Witze, die er machte und seine Fähigkeit, ihm immer ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Er brauchte ihn, denn er organisierte meistens ihr Leben, während er ohne ihn vollkommen planlos durch die Gegend lief.
Jonas ließ zu, dass er ihn so nah an sich heranzog, dass ihre Körper sich berührten. Sollte er einfach zum Frontalangriff ansetzen und ihn küssen? Eigentlich mochte er es nicht, jemanden dazu zu drängen, aber er verzehrte sich nach ihm und vielleicht ging es Jonas genau so. Vielleicht würde er dann endlich begreifen, was sie beide hier zusammen aufgebaut hatten, dass sie sich doch liebten und sie zusammengehörten. Langsam führte er seine Lippen näher an seine, hielt aber im letzten Moment inne.
„Darf ich dich küssen?", fragte er und spürte, wie Jonas Atem zittrig wurde. Eine Sekunde verging, dann noch eine. Wie sollte er sein Schweigen deuten? Alles in ihm sehnte sich nach einem Kuss von Jonas schmalen Lippen, sodass er wie von allein die letzten Millimeter zwischen ihnen schloss und seinem Verlangen nachgab. Sofort erwiderte Jonas den Kuss, wenn auch zögernd. Schnell wurde er drängender, zog ihn enger an sich und schlang eine Arm um seine Mitte, als sich auf einmal zur Seite drehte und sich von ihm löste. Enttäuscht gab er ihn frei und sah, wo Jonas die Hand vor den Mund schlug, als hätte er etwas Verbotenes getan. Komischerweise schmerzte das ungemein, immerhin waren sie doch ein Paar.
„Das hat sich schön angefühlt", sagte er, aber Jonas schüttelte den Kopf, drängte sich auf einmal an ihm vorbei und floh in den Flur, wo er den Reißverschluss seiner Tasche zuzog und sie schulterte. Sofort war Matthias alarmiert.
„Warte! Ich... ich wollte dich zu nichts drängen. Wenn du Zeit allein brauchst, ist es okay, aber bitte geh nicht zu ihm zurück", flehte er, aber Jonas setzte seinen Weg zur Wohnungstür fort. Matthias wusste, dass er zu drastischeren Mitteln greifen musste, auch wenn ihm das gar nicht gefiel. Er stürmte Jonas hinterher und packte ihn hart am Arm.
„Hey, jetzt bleib hier. Ich will nicht, dass du zu ihm gehst. Er manipuliert dich, begreif das doch", fuhr er ihn an, wütend, dass Jonas nicht einfach einsah, dass er nun einmal einen Fehler gemacht hatte, der aber nicht unverzeihlich war.
„Du musst dich nicht selbst bestrafen", setzte er nach, aber Jonas schüttelte den Kopf.
„Ich kann das zwischen uns einfach nicht mehr. Ich kann mir nicht verzeihen, dass ich dich betrogen habe. Markus liebt mich, er würde alles für mich tun. Und... wenn ich mit ihm zusammen bin, dann frisst mich mein schlechtes Gewissen nicht auf", schleuderte er ihm entgegen, so sehr in Rage, dass Matthias zurückwich. Sein Herz hämmerte, denn auch wenn Jonas es nun sehr deutlich ausgesprochen hatte, konnte und wollte er nicht begreifen, was das bedeutete.
Jonas konnte das zwischen ihnen nicht mehr. Das hieß, er wollte nicht mehr, dass sie zusammen waren. Er machte Schluss mit ihm, trennte sich von ihm. Nach beinahe zehn Jahren. Wie sollte er allein zurecht kommen? Wie sollte er das hinnehmen, dass Jonas ihn aufgab, dass er seine Kinder aufgab?
„Vielleicht... vielleicht nehmen wir uns ein paar Tage Zeit und... reden dann noch einmal", schlug er vor, allerdings hörte er selbst wie hoffnungslos er klang. Jonas nickte, aber es wirkte mehr, als würde er sich selbst Mut zusprechen anstatt ihm zuzustimmen.
Anschließend öffnete Jonas die Wohnungstür, griff nach seinem Dienstausweis, der noch immer auf der Ablage neben der Garderobe lag und verließ die Wohnung. Verließ ihn. Verließ sein Leben.
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