Kapitel 46 - Jonas

Jonas fühlte sich nicht bereit, Markus wieder unter die Augen zu treten. Dieser Tag war mehr als in einer Hinsicht ernüchternd gewesen. Nicht nur, dass er ein schreckliches Video hatte ansehen müssen, nach dem ihm klar war, dass sie das Mädchen nicht mehr würden retten können, sondern er und Marc hatten auch noch ihren wütenden Vorgesetzten ertragen müssen. 

Allerdings waren sie auch ein ganzes Stück weiter, denn in der Wohnung des Täters waren jede Menge Dinge sichergestellt worden. Hoffentlich fanden sie abgesehen von den Dateien auf seinem Laptop noch andere Beweise wie Haare oder Hautschuppen der Opfer. Jonas wusste, dass sein Teil in diesen Ermittlungen zum Großteil erledigt war, sofern der Kerl sich nicht noch einmal per Mail bei ihm meldete, aber er war sich sicher, dass noch heute ein Haftbefehl gegen ihn rausging und sie in der Zeit genug fanden, um ihn eingesperrt zu lassen. 

Dennoch blitzte immer wieder das Bild von dem Mädchen vor seinem inneren Auge auf, das geschändet und misshandelt in diesem Kellerverlies lag. Paulchen trug zwar eine Skimaske, aber sicherlich würden sie genug Identifikationsmerkmale finden, dass er es tatsächlich war. 

Kopfschüttelnd vertrieb er das Mädchen aus seinen Gedanken und versuchte, sich auf den Feierabend zu konzentrieren. Das fiel ihm jedoch alles andere als leicht, denn er wusste, dass Markus draußen auf ihn wartete. Und er war ohne Frage wütend auf ihn. 

„Mach Feierabend. Wir können nichts weiter tun und müssen die da oben machen lassen. Wir haben genug Beweise auf seinem Laptop gefunden, selbst wenn die da oben das nicht hinkriegen. Mehr können wir nicht machen", hörte er Marc sagen, gefolgt von einer Zigarette, die über die Bildschirme auf seinen Schreibtisch flog. Sie kullerte über den Tisch, hinterließ kleine Tabakkrümel darauf und wurde schließlich von der Tastatur daran gehindert, vom Tisch zu rollen. 

„Ja, ich... ich brauch nur noch fünf Minuten", sagte er, nahm die Zigarette und zündete sie an. Auch Marc rauchte und Jonas entschied sich, noch ein paar der überflüssigen Mails zu löschen. Die Danksagung „von denen da oben", wie Marc sie immer nannte, dass sie im letzten Fall tolle Arbeit geleistet hatten, die zwar nett gemeint, aber irgendwie scheinheilig klang zum Beispiel. Oder die Verabschiedung eines Kollegen in den Ruhestand, von dem er noch nie etwas gehört hatte. 

Auf einmal bemerkte er, wie sein Handy vibrierte und eilig zog er es aus der Tasche. Sicherlich war es Markus, der sich beschwerte, dass er so lange arbeitete. Allerdings sah er schon auf den ersten Blick, dass es nicht Markus war, der ihm eine Nachricht geschickt hatte, sondern Aaliyah. Sein Herz sank ihm in die Hose, als er den kurzen Text las, den sie geschrieben hatte. 

„Hallo Papi! Papa färt mich jetz zu Mama. Ich freu mich aufs Wochen ende."

Er lächelte über die kleinen Rechtschreibfehler, allerdings bemerkte er keine Sekunde später, wie sein Blick von den Tränen in seinen Augen unscharf wurde. Eilig blinzelte er sie weg und überlegte, wie er sich nun verhalten sollte. Anscheinend hatte Matthias Aaliyah nicht davon erzählt, dass er sich aus dem Staub gemacht hatte, was ihn merkwürdig beruhigte. Er konnte nicht sagen wieso, aber wenn Matthias Aaliyah erzählt hätte, dass er nicht mehr wiederkam, dann wäre es doch irgendwie endgültig, oder? Wollte er, dass Matthias die Hoffnung aufgab? Er wusste es nicht. Oder er wollte es nicht wahrhaben, dass er derjenige war, der für den ganzen Stress sorgte. 

Gleichzeitig schoss ihm auf einmal eine Idee durch den Kopf. Wenn Aaliyah schrieb, dass Matthias sie nach Hause fuhr, dann bedeutete das doch, dass er im Moment nicht zu Hause war und vermutlich auch eine Weile wegbleiben würde. Denn auch wenn er Aaliyah nur absetzen würde, schaffte Esra es immer, ihn in ein Gespräch zu verwickeln und ihn mindestens zwanzig Minuten am Zurückfahren zu hindern. 

Auf einmal wurde er hektisch, denn er musste auf jeden Fall in die Wohnung zurück, sein ganzes Zeug inklusive seinem Dienstausweis war ja noch dort. Noch einmal zog er an seiner Zigarette, drückte sie in den Aschenbecher auf seinem Schreibtisch und schnappte sich seine Tasche. 

„Wir sehen uns morgen, ich muss weg", rief er Marc über die Schulter zu und beeilte sich, das Präsidium zu verlassen. 

Auf einmal schlug sein Herz wie wild und er hoffte, dass er Markus davon überzeugen konnte, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Er brauchte seine Sachen, gleichzeitig wollte er Matthias nicht über den Weg laufen. Oder doch? 

Kopfschüttelnd versuchte er, seine umherwirbelnden Gedanken zu vertreiben und trat in die gleißende Sonne hinaus auf den Parkplatz. Natürlich war sein Auto nicht mehr hier, so psychopathisch, den ganzen Tag hier im Auto auf dem Parkplatz zu warten war noch nicht einmal Markus. 

Er lief bis zu dem Gittertor und verließ den geschützten Bereich des Präsidiums und erkannte wenige Meter entfernt am Straßenrand seinen Wagen. Markus ging auf dem Gehweg daneben ungeduldig auf und ab und als er ihn bemerkte, winkte er wie verrückt. Markus lächelte breit und kam auf ihn zu, die Wut von heute Morgen schien in diesem Moment komplett verflogen zu sein. 

„Hey", sagte Markus, griff nach seinen Händen und zog ihn eng an sich. Schnell löste Jonas sich aus seiner Umklammerung und sah ihn fest an. 

„Wir müssen zu mir nach Hause fahren. Jetzt, sofort. Matthias ist nicht da und ich brauche dringend ein paar Sachen", sagte er und wusste in dieser Sekunde, dass Markus einverstanden sein würde. Die Genugtuung in seinen Augen war unverkennbar. 

„Das heißt... du willst bei mir bleiben?", fragte er, allerdings reagierte Jonas nicht darauf, sondern lief und das Auto herum und öffnete die Fahrertür. Markus setzte sich ebenfalls hinein und Jonas bemerkte, dass der Schlüssel steckte. 

„Jonas, antworte. Holst du deine Sachen, weil du bei mir bleibst?", fragte Markus ernst, umfasste fest seinen Arm und sah ihn eindringlich an. Jonas fühlte sich vollkommen überfordert. Er hatte keine Ahnung, was er dazu sagen sollte, denn er wusste die Antwort nicht. 

„Ich... ich möchte einfach erst einmal meine Sachen haben. Wir müssen uns beeilen, er wird nicht ewig weg sein", drängte er und startete den Motor. Markus nickte, schnallte sich an und lehnte sich ein wenig entspannter zurück. 

„Gut, holen wir erst einmal deine Sachen. Aber danach reden wir. Ganz in Ruhe", sagte er bestimmt und Jonas nickte. Ja, sie mussten unweigerlich miteinander reden, aber davor musste er sich klar darüber werden, was er wollte. 

„Okay", brachte er hervor und versuchte zwanghaft, sich auf den dichten Feierabendverkehr zu konzentrieren, der ihm ungewöhnlich zäh vorkam. 

„Jonas, du lügst mich nicht an, habe ich recht? Du wirst mich nicht gleich unten stehen lassen und nicht wieder aus der Wohnung kommen, oder?", fragte Markus auf einmal, den argwöhnischen Ton in seiner Stimme nicht verbergend. Jonas Blick zuckte zu ihm und erkannte eindeutig Verzweiflung in seinem Gesicht. Noch bevor er darauf antworten konnte streckte Markus seine Hand aus und legte sie auf sein Knie. Er streichelte ihn sanft, gleichzeitig schien sein Blick ihn zu durchdringen. Jonas fühlte sich vollkommen überfordert, denn diese Möglichkeit war ihm bisher noch gar nicht eingefallen. 

„Ich...", setzte er an, ohne wirklich zu wissen, was er sagen wollte. Er dachte an Matthias, an seine Umarmung heute Morgen auf dem Parkplatz vor dem Hotel und seinen liebevollen Blick. Sein Herz war unverkennbar gebrochen, als er mit Markus gegangen war, gleichzeitig hatte er gespürt, dass sein Verrat zwischen ihnen stand. 

„Du liebst ihn", stellte Markus fest, nahm die Hand von seinem Knie, als hätte er sich an ihm verbrannt und schnaubte. 

„Lass uns bitte erst einmal mein Zeug holen. Danach reden wir", sagte er, aber es klang eher wie eine Frage. Wieso verunsicherte Markus ihn nur so sehr? Markus nickte knapp und Jonas entschied, ihn die restliche Fahrt zu ignorieren. Immerhin musste er sich auf den Verkehr konzentrieren. 

Glücklicherweise schien Markus seinen unausgesprochenen Wunsch nach Ruhe zu akzeptieren und er sah aus dem Augenwinkel, wie er den Blick aus dem Seitenfenster warf. Jonas beschleunigte, verletzte wie üblich die Geschwindigkeitsbegrenzung und parkte schließlich wenige Minuten später seinen Wagen am Straßenrand. Allerdings war nur ein gutes Stück von seinem Haus entfernt eine Lücke, aber das war ihm eigentlich ganz recht. 

„Ich beeile mich", sagte er, warf einen Blick in den Seitenspiegel, ob die Straße frei war und stieß die Tür auf. Allerdings machte auch Markus Anstalten, auszusteigen. Entsetzt hielt Jonas in der Bewegung inne und sah zu ihm. 

„Kannst du bitte hier warten?", fragte er, was Markus schnauben ließ. 

„Warum? Weil er doch zu Hause ist und du mich hier allein lässt?", fragte er angriffslustig, was Jonas die Augen verdrehen ließ. Komischerweise wollte er zurück zu Markus kommen, allerdings eher, weil er ein paar Tage Abstand brauchte von Matthias. Er musste erst selbst damit zurecht kommen, was er ihm angetan hatte und das ging nicht, wenn Matthias ständig um ihn herum war, ihn womöglich noch Fragen nach dem Warum stellte, die er nicht beantworten konnte. Er warf stattdessen Markus seinen Autoschlüssel zu, als Versicherung, dass er wieder zurückkam. 

„Hier. Ich werde dir ja wohl kaum mein Auto schenken, also... Warte bitte einfach kurz hier. Nachher reden wir, ganz in Ruhe", versprach er, auch wenn ihm davor graute. Mit dieser Ansage schien Markus zufrieden zu sein, denn er grinste vor sich hin. 

„Okay", sagte er noch, dann stieg Jonas endgültig aus, schnappte sich seinen Rucksack vom Rücksitz und joggte zum Haus, in dem seine und Matthias Wohnung lag. Glücklicherweise hatte er seinen Rucksack noch nicht wirklich ausgeräumt, sodass sein Schlüssel noch darin war. 

Mit zitternden Fingern öffnete er die Tür und rannte beinahe die Treppen nach oben. Hoffentlich hatte Aaliyah nicht für Matthias gelogen, flehte er innerlich und auf einmal fiel ihm ein, dass er gar nicht nach Matthias Auto Ausschau gehalten hatte. Bevor er sich aber darüber ärgern konnte, stand er bereits vor der weißen Wohnungstür. 

Ihre Wohnung lag direkt gegenüber des Treppenaufgangs des halb offenen Treppenhauses. Zwar war es unten mit einer Tür gegen Fremde gesichert, aber die Front bestand aus beinahe waagerecht angeordneten Scheiben, sodass das Treppenhaus immer offen war. 

Jonas Hand zitterte, als er den Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür schob und herumdrehte. Es war abgeschlossen, das war ein gutes Zeichen, dass Matthias tatsächlich nicht zu Hause war. Unendlich aufgeregt stieß er die Tür auf und betrat den Flur. Sein Blick wanderte über das gewohnte Chaos und unwillkürlich legte sich ein Lächeln auf seine Lippen. Er schloss die Wohnungstür und lauschte noch einen Moment lang, aber sofort war ihm klar, dass er tatsächlich allein war. 

Auf einmal fühlte er sich schwermütig. Diese Wohnung hier war nun schon so viele Jahre sein zu Hause. Hier waren Erinnerungen entstanden. Seine Füße setzten sich in Bewegung und führten ihn ins Wohnzimmer. Er bemerkte, dass Aaliyahs Schreibtischstuhl mitten im Raum stand, darum herum auf dem Boden jede Menge Haargummis. Er grinste, denn anscheinend hatte Matthias eine neue Frisur bekommen. 

Er schluckte schwer und ging durch das Wohnzimmer vorbei an der Küchenzeile, das einzige, das ihn an dieser Wohnung ein wenig nervte. Er mochte viel lieber abgetrennte Küchen. Auf dem Herd standen zwei benutzte Töpfe, daneben, unter der Abdeckung aus der Mikrowelle, ein Teller Spaghetti mit Tomatensoße. Hatte Matthias für ihn mitgekocht?

Eilig riss er den Blick los und ging ins Schlafzimmer. Er hatte keine Zeit, gefühlsduselig zu werden, wenn er nicht riskieren wollte, dass Matthias zurückkam, bevor er fertig war. Er kramte seine große Reisetasche unter dem Bett hervor und stellte sie auf seine ordentlich gemachte Seite des Bettes. Allerdings bemerkte er, dass Matthias wie üblich seine Decke in einem wilden Knäuel liegen gelassen hatte, zusammen mit seinem eigenen Kissen. Beinahe sah es so aus, als hätte Matthias es beim Schlafen umklammerte. 

Jonas Knie wurden weich, sodass er sich für einen Moment auf dem Bett niederließ. Er saß auf der Bettkante, drehte sich aber zur Seite und griff nach Matthias Kissen. Langsam zog er es zu sich, bis er es in schließlich mit einer schnellen Bewegung an sich presste und das Gesicht darin vergrub. Anders als im Film haftete nicht Matthias atemberaubender Duft daran, aber er spürte, dass er es benutzt hatte. 

Nach wenigen Sekunden warf er es zurück, erhob sich entschlossen und ging zum Kleiderschrank, um seine Lieblingsklamotten herauszuholen. Zwar hatte er einige neue Sachen mit Markus gekauft, aber auch die würden irgendwann aufgebracht sein. Er griff nach seiner kurzen Sporthose, die viel bequemer war als die dämliche Jeans und nach etwas Unterwäsche. Beides beförderte er in die Tasche auf seinem Bett. Er ließ den Blick über die ganzen Klamotten schweifen, bevor er den Schrank wieder schloss. 

Beinahe war es so, als wollten die ganzen Sachen hier bleiben, denn er wusste irgendwie nicht so recht, was er einpacken sollte. Seufzend wandte er sich der Tasche zu und schulterte sie. Was er auf jeden Fall einpacken musste war sein Kram aus dem Bad. Er ging durch das Wohnzimmer zurück in den Flur, ließ die Tasche auf den Boden gleiten und betrat das kleine, dunkle Bad. Auch wenn es ein kleines, schmales Fenster gab, das knapp unter der Decke angebracht war, sodass man vom Treppenhaus aus nicht hineinsehen konnte, kam kaum Licht herein. 

Er betätigte den Schalter neben der Tür und erschrak beinahe vor seinem eigenen Spiegelbild, das ihm entgegensah. Kopfschüttelnd wandte er den Blick ab und packte sein Haargel, die Anti-Aging-Creme und noch ein paar andere Hygieneartikel ein. Er ließ alles in der Tasche verschwinden und wandte sich noch einmal in Richtung Wohnzimmer. 

Es stand jede Menge Zeug von ihm in den Regalen; Bücher, Dekofigürchen, die Matthias absolut überflüssig fand und Bilder, die ihn und Matthias mit den Kindern zeigte. Langsam trat er näher an das Regal heran und betrachtete das Bild, das in einem silbernen Rahmen auf Augenhöhe stand. Es zeigte sie vier, ihn, Matthias, Aaliyah und Duygu, wie sie lachend vor dem Giraffengehege im Zoo standen. 

Er erinnerte sich noch sehr genau an diesen Tag, denn wegen des schlechten Wetters waren sie beinahe allein im Zoo gewesen. Ein Lächeln umzuckte seine Lippen, als er kurzentschlossen das Bild aus dem Rahmen nahm und es in seine hintere Hosentasche schob. Den Bilderrahmen stellte er wieder an Ort und Stelle und er war sich ziemlich sicher, dass das fehlende Bild nicht sofort auffallen würde. 

Noch einmal atmete er den vertrauten Geruch der Wohnung ein, spürte das Gefühl nach Zuhause und wandte sich schließlich um, als er auf einmal ein Geräusch hörte. Schritte im Treppenhaus, gefolgt von einem Räuspern und dem Klappern von Schlüsseln. 

Oh nein! War Matthias etwas schon zurück? Panik machte sich in ihm breit und er sah sich suchend um, als würde wie von Geisterhand auf einmal irgendetwas zu seiner Rettung auftauchen. Was sollte er nun tun? Sich verstecken? Bevor er sich irgendetwas überlegen konnte, ging die Wohnungstür auf und er sah in Matthias erschrockenes Gesicht.

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