Kapitel 44 - Jonas
Noch immer verwirrt, wie er es heil bis zur Arbeit geschafft hatte, saß Jonas im Auto. Er hatte es auf dem Parkplatz vor dem Polizeipräsidium geparkt, aber nun schaffte er es irgendwie nicht, auszusteigen.
Sein Kopf war randvoll. Matthias Auftauchen hatte ihn vollkommen aus dem Konzept gebracht und ihm wurde nach und nach klar, dass er Matthias mehr als verunsichert haben musste. Er hatte wirklich alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte, aber wie sollte er auch in Ruhe mit ihm reden, wenn Markus die ganze Zeit wie ein gieriger Geier über ihnen kreiste?
„Also Schatz, ich bin unendlich wütend auf dich! Du hast ihn berührt, ihn umarmt und ihn nicht weggeschickt. Was soll ich denn nun denken? Liebst du ihn etwa noch?", plapperte Markus neben ihm und auch wenn er ihn die ganze Fahrt über hatte ausblenden können, brach er nun wie ein Tornado über her. Wortwörtlich wirbelte Markus seine Gedanken auf, machte ihn ganz verrückt und hinterließ nicht als Zerstörung in seinem Kopf und bei seinen Gefühlen.
Jonas atmete tief durch und hob abwehrend die Hand, bevor er sich mit dem Zeige- und dem Mittelfinger die Schläfe massierte. Er bemerkte, dass das Auto ein klein wenig wackelte, als Markus sich schwungvoll ein wenig seitlich zu ihm drehte.
„Abgesehen davon hast du meine Frage noch nicht beantwortet. Hast du ihm auf seine verzweifelten Nachrichten geantwortet?", bohrte Markus weiter, was Jonas mit einem schwachen Kopfschütteln beantwortete. Einen Moment lang blieb es still, sicherlich nur die Ruhe vor dem Sturm, aber Jonas erkannte, dass dies seine Chance war, hier herauszukommen.
„Ich muss zur Arbeit", sagte er, zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und warf ihn Markus in den Schoß, bevor er so schnell er konnte aus dem Wagen stieg und die Tür zuknallte. Er musste weg von Markus und zwar dringend.
Mit keuchendem Atem rannte er halb bis zum Eingang, wobei sein Rucksack unangenehm gegen seinen Rücken schlug. Jonas erwartete, dass Markus ihm folgen würde und glaubte schon, seine Hand auf seiner Schulter zu spüren, aber da war nichts. Markus schien noch immer im Auto zu sitzen, denn er hatte auch noch keine zuschlagende Tür gehört. Allerdings zwang er sich, nicht zurück zu sehen. Er brauchte Luft zum Atmen, musste sich klar darüber werden, was er wirklich tun wollte und wie er aus dieser Grube, die er sich selbst gegraben hatte, wieder herauskommen sollte.
Er betrat den Eingangsbereich und sah entschuldigend durch das Glas zu dem Pförtner, der ihn so bitterböse anstarrte, dass er ein schlechtes Gewissen bekam. Er winkte, als der Mann hinter der Glasscheibe in seinem kleinen Kabuff genervt den Kopf schüttelte, dann aber den Knopf drückte, der die Tür öffnete.
Eilig rannte Jonas hinein und als er hörte, wie die Tür laut krachend hinter ihm ins Schloss fiel, atmete er erleichtert auf. Er war hier drin, auf der Arbeit, wo er sich wohlfühlte und wo er eine wichtige Aufgabe zu erledigen hatte. Für die nächsten acht oder neun Stunden würde er Markus verdrängen können, bevor unweigerlich heute Abend der Tornado losbrach. Denn dass Markus absolut rasend vor Wut sein würde, das war klar. Aber nun war nicht mehr die Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen.
Er straffte die Schultern, hob das Kinn und setzte ein Lächeln auf, während er seinen Weg durch den langen Gang fortsetzte. Hier und da wünschte er einen guten Morgen, bis er auf einmal einen lauten Pfiff hörte. Erschrocken wandte er sich um und blickte in das grinsende Gesicht von Marc, der gerade durch die Eingangstür hereingekommen war. Jonas blieb stehen, um auf ihn zu warten. Marc kam eilig auf ihn zu und lächelte.
„Morgen. Du siehst aus, als bräuchtest du dringend einen Kaffee", begrüßte Marc ihn und automatisch nickte Jonas. Gemeinsam gingen sie das kurze Stück über den Flur und anschließend die Treppe nach unten bis in ihr Kellerbüro.
Jonas ließ seine Tasche auf den Boden neben seinen Schreibtisch fallen und sank auf seinem Stuhl nieder. Komischerweise fühlte er sich trotz dem ganzen Stress zu Hause motiviert, so als wäre er in eine andere Welt eingetaucht.
Er zog seine Zigaretten aus der Hosentasche, nahm zwei heraus und warf eine über die Bildschirme hinweg zu Marc. Sich selbst zündete er sich eilig eine an, denn er hatte das Gefühl, viel zu wenig Nikotin in seinem Körper zu haben.
Anschließend startete er den Computer und wartete, bis sich alle Programme geöffnet hatten. Zunächst wandte er sich dem Mailprogramm zu und überflog die unwichtigen Mails, bis sein Blick auf einmal an einer Mail hängen blieb. Er konnte gar nicht so genau sagen, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte, vermutlich war es die wahnwitzige Dummheit.
„Marc, komm mal rum", sagte er und merkte selbst, wie sehr seine Stimme zitterte. Keine Sekunde später tauchte Marc neben ihm auf und beugte sich zu ihm herunter.
„Was gibt's?", fragte er, zog aber beinahe im selben Moment die Luft ein, als er den Blick auf den Cursor lenkte, den Jonas ein wenig hin und her wandern ließ. Marc lachte leise.
„Wir kriegen ihn bald, das hab ich im Gefühl", sagte er und machte anschließend eine Kopfbewegung, die bedeutete, dass Jonas die Mail von Paulchen öffnen sollte. Er tat es und las den kurzen Text, den er geschrieben hatte.
„Liebe Ermittler,
ihr seid mir auf der Spur, das weiß ich. Aber ich wette, ihr wisst nicht, wer ich bin. Ihr wisst nicht, was ich getan habe und ihr wisst nicht, wie ihr mein nächstes Opfer retten könnt. Denn es gibt keine Rettung für sie. Die Kleine wird sterben und ihr könnt es mitverfolgen."
Jonas Hände fingen an zu schwitzen, als er den Link unter dem kleinen Text ansah. Es war ein Link aus dem Clearweb. Der Typ wurde übermütig und das war vermutlich sein Verhängnis.
„Ich ruf oben an. Danach sehen wir mal, was er uns alles freiwillig mitgeteilt hat", sagte Marc, der genau so aufgeregt klang, wie er selbst sich fühlte. Zwar hatten sie schon Paulchens wahre Identität und seinen Privatcomputer ausfindig gemacht, aber dass er nun auch noch anfing, ihnen Mails zu schicken, war unheimlich dämlich von ihm. Gut für ihn und Marc, denn so konnten sie noch mehr über ihn herausfinden und hatten mehr Beweise, die auch der letzte Richter nachvollziehen konnte. Er hörte, wie Marc sich das Headset vom Kopf nahm und es auf den Tisch fallen ließ, bevor er mit seinem Stuhl zu ihm herumgefahren kam.
„Na dann sehen wir uns das Baby mal an", sagte er und Jonas rief mit wenigen Klicks die IP-Adresse des Absenders der Mail auf. Wie erwartet hatte Paulchen sie von seinem Privatcomputer geschrieben. Er war wirklich dämlich.
Nachdem er eine Sicherheitskopie erstellt hatte und diese direkt weiter an den leitenden Ermittler geschickt hatte, öffnete er den Link. Er führte zu einem Video, das vor wenigen Minuten hochgeladen worden war. Auf dem Bild war ein dunkler Kellerraum zu sehen, die Wände aus rohem Backstein und der Boden aus plattgetretener Erde.
„Sieht aus wie ein selbstgebaute Bunker im Wald oder so", bemerkte er und dachte sofort an die Spurensicherung, die auf diesem Erdboden sicherlich jede Menge Beweise finden würde. Denn Erdreich konnte man nicht mit Bleiche von Blutspuren befreien. Gespannt sah Jonas weiter auf den Bildschirm, aber außer dem Kellerraum war nichts zu sehen. Auch nach zehn Minuten war noch niemand ins Bild getreten, weder Opfer noch Täter.
„Okay. Du siehst dir das weiter an, ich versuche den genauen Standort herauszufinden. Hoffen wir, er ist weiterhin so unvorsichtig", sagte Marc, rollte auf seinem Stuhl wieder zurück zu seinem Platz und tippte sogleich auf der Tastatur herum.
Jonas fühlte sich auf einmal ganz aufgeregt. Sollten sie womöglich noch heute Paulchen zu fassen bekommen? Würden sie es schaffen, ihn auf frischer Tat in diesem Waldkeller zu erwischen? Ein Kribbeln breitete sich in ihm aus, während er weiter angestrengt das Bild studierte und auf jedes noch so kleine Detail achtete.
Die Kameraqualität war nicht wirklich gut, vielleicht nahm er sogar mit einer Laptopkamera auf. Plötzlich tauchte ein Schatten am rechten Bildrand auf und sofort kniff Jonas die Augen zusammen, um alles genau zu erkennen. Noch einmal kontrollierte er, ob das kleine Licht am Datenspeicher leuchtete, sodass das Video in Echtzeit heruntergeladen und so gesichert wurde. Da wurde auf einmal ein Mädchen ins Bild geschubst und für eine Sekunde lang hatte man den Arm des Täters sehen können.
„Und da ist unser Opfer", sagte er und betrachtete das Mädchen auf irgendwelche Hinweise auf ihre Identität.
Er wählte die Nummer seines Vorgesetzten, damit er ihm von allem berichten konnte. Ohne Zeit für eine Begrüßung zu verschwenden meldete Jonas sich direkt, nachdem das Gespräch angenommen wurde.
„Paulchen hat ein neues Snuffmovie gedreht. Weibliches Opfer, ungefähr fünfzehn bis achtzehn Jahre, blondes, schulterlanges Haar, schlanke Figur", berichtete er und beobachtete das verängstigte Mädchen in dem Video genauer.
„Zerrissene Kleidung, leicht blutende Kopfwunde", fuhr er fort, während er im Hintergrund unablässig Marcs Finger auf der Tastatur hörte.
„Größe?", fragte sein Vorgesetzter, der bisher kein Wort gesagt hatte.
„Ich würde schätzen um die 1,55", erwiderte er.
„Chef? Ich hab den Standort des Mailabsenders. Scheint ein Wohnhaus zu sein. Gartenweg 35 in Neurath", rief Marc.
„Durchsuchungsbefehl wird veranlasst. Bleiben Sie dran und rufen mich bei neuen Erkenntnissen umgehend an", sagte sein Vorgesetzter, dann legte er auf. Jonas starrte auf den Bildschirm. Sie mussten dieses Mädchen finden, bevor Paulchen ihr Gewalt antat. Beziehungsweise noch mehr, als ohnehin schon. Hoffentlich gelang es den Ermittlern, die Identität des Mädchens herauszufinden und ihre Spur zu verfolgen.
„Ich habe die Datei auf seinem Rechner gefunden. Scheint taufrisch zu sein, es ist erst letzte Nacht hier gespeichert worden. Die Spusi muss den Laptop endlich beschlagnahmen, verdammt! Und wehe sie geben ihn an die Trottel von oben", rief Marc aus, eindeutig genau so nervös wie er selbst.
Hoffentlich war es für das Mädchen noch nicht zu spät. Vielleicht hatte er sie nur verletzt und noch nicht getötet. Auf einmal klingelte Marcs Telefon, während Jonas weiterhin das Video ansah. Noch immer war das Mädchen allein, verängstigt und blutend. Sie kauerte sich in eine Ecke des leeren Raums, die Augen wachsam aufgerissen.
„Gut, ich übernehme", hörte er Marc sagen, woraufhin er das Video pausierte und zu ihm über die Bildschirme sah.
„Der Chef will mich im Darkweb. Gibt wohl eine neue verdächtige Pädophilenvereinigung. Ich häng mich da mal rein, du sichtest das Videomaterial?", fragte Marc und auch wenn Jonas viel lieber mit Marc getauscht hätte, nickte er. Immerhin wusste er, dass Marc mehr Erfahrung hatte als er selbst.
Er zündete sich noch eine Zigarette an und drückte wieder auf Play, in der Erwartung, schreckliche Dinge mit ansehen zu müssen.
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