Kapitel 36 - Jonas
Jonas schlechtes Gewissen wurde immer größer und größer. Er wusste einfach nicht, wo ihm der Kopf stand, was er fühlte und was nicht. Allerdings war ihm durchaus bewusst, dass er mit Markus durch das Einkaufzentrum lief, Hand in Hand und für die Öffentlichkeit deutlich als Paar zu erkennen. Aber waren sie das? Ein Paar?
Er umklammerte die Plastiktüte in seiner Hand fester, was jedoch nichts daran änderte, dass sich die dünnen Grifflaschen in seine Handfläche schnitten. Allerdings umklammerte Markus seine andere Hand mindestens genau so fest.
„Warte mal kurz", sagte er, zog ihn ein wenig an den Rand, damit sie nicht den ganzen Leuten im Weg herumstanden, die kurz vor Ladenschluss noch durch die Läden hetzten und ließ die Tüte auf den Boden gleiten. Tatsächlich hatte er eine ganze Menge gekauft, aber da seine Garderobe aus den Standardsachen bestand, musste er nicht lange suchen. Eigentlich trug er immer das Gleiche, nur in anderen Farbkombinationen.
Jonas schüttelte seine Hand ein wenig aus, auf der sich bereits rote Striemen von dieser bescheuerten Tüte gebildet hatten. Markus legte ihm den Arm um die Schultern, was bei dieser Hitze alles andere als angenehm war. Er schüttelte ihn ab, nahm die Tüte in die andere Hand und setzte sich in Bewegung.
Markus folgte ihm auf dem Fuß, schwieg aber zum Glück. Offensichtlich bemerkte er, dass er nicht wirklich gute Laune hatte und ließ ihn ein wenig in Ruhe. Jonas marschierte geradewegs in Richtung Ausgang, durch die Menschen hindurch, die rücksichtslos umherrannten wie aufgescheuchte Hühner.
Er war froh, wenn sie gleich endlich etwas in den Magen bekamen und danach ins Bett gingen. Er war total erledigt und brauchte dringend Wochenende. Blöd nur, dass heute erst Dienstag war.
Auf einmal spürte er eine Hand auf seiner Schulter und beinahe erschrocken wandte er sich um und sah in Markus lächelndes Gesicht. Er deutete mit dem Daumen nach links und als er seinem Fingerzeig folgte, entdeckte er ein relativ leeres asiatisches Restaurant. Zwar war es nicht da Nobelste, aber es wäre sicherlich schon in Ordnung.
„Lass uns doch hier rein gehen", sagte Markus und lächelte. Jonas nickte ergeben, deutete aber mit dem Kopf nach draußen.
„Ich bringe noch die Tüte ins Auto und rauche eine", sagte er, wandte sich um und setzte seinen Weg in Richtung Ausgang fort. Wieder folgte Markus ihm auf dem Fuße und ihm wurde klar, dass er ihn mit Sicherheit keine Sekunde aus den Augen lassen würde.
Als er endlich an die frische Luft trat, atmete er ein paar Mal tief ein und aus, anschließend kramte er seine Zigaretten hervor und zündete sich eine an. Er schloss genüsslich die Augen, als der Rauch seine Lungen füllte und sofort entspannte er sich ein wenig.
„Gib mir die Tüte, ich bringe sie ins Auto", sagte Markus, während er die Hand ausstreckte. Jonas nickte, denn tatsächlich war es ein kleines Stück bis zum Auto zu gehen und er hatte gar nichts dagegen, dass er einfach hier stehen bleiben konnte. Er zog den Autoschlüssel aus der Hosentasche und reichte ihn ihm, zusammen mit seinen Einkäufen.
„Danke", murmelte er, zog noch einmal an seiner Zigarette und sah Markus nach, wie er verschwand. Komischerweise fühlte er sich ein wenig erleichtert, dass er weg war und noch einmal mehr spürte er das Bedürfnis nach ein paar Tagen Auszeit. Einfach nichts tun und sich darüber klar werden, was er hier eigentlich tat, genau das war es, was er jetzt brauchte.
Er taumelte ein paar Schritte zurück, bis er mit dem Rücken an die Glasfassade des großen Gebäudes stieß, in dem das Einkaufszentrum lag. Das Glas war angenehm kühl auf der Haut an seinen Armen und Schultern und er ließ mit einem dumpfen Geräusch auch den Kopf dagegen fallen. Mit geschlossenen Augen führte er die Zigarette immer wieder an die Lippen, bis er sich die Finger verbrannte und eilig die mehr als abgebrannte Kippe in den dafür vorgesehenen Behälter warf.
Anschließend hielt er nach Markus Ausschau und als hätte er ihn heraufbeschworen, tauchte er in seinem Blickfeld auf. Er kam durch die Menschenmenge auf ihn zu, lächelnd. Es bestand wirklich kein Zweifel darin, dass für ihn gerade all seine Wünsche in Erfüllung gingen. Aber fühlte Jonas das auch? Wollte er hier mit Markus sein? Liebte er Markus? Mehr als Matthias? Ein Keuchen entfuhr ihm, denn tatsächlich wusste er keine Antwort darauf. Noch gestern Abend hätte er diese letzte Frage eindeutig mit Nein beantwortet.
„Hey. Hast du auch Hunger, Schatz?", fragte Markus und erst da realisierte Jonas, dass Markus genau vor ihm stand. Ziemlich dicht sogar. Jonas blinzelte ein paar Mal und nickte schwach.
„Okay, dann lass uns wieder reingehen", sagte er, griff nach seiner Hand und zog ihn wieder hinein in das große Gebäude in Richtung des asiatischen Restaurants, an dem sie gerade vorbeigekommen waren. Sofort vermisste er den angenehm kühlen Luftzug auf seiner Haut, den er draußen noch gespürt hatte und er fing an zu schwitzen. Vor allem seine Hand, die fest von Markus Hand umklammert wurde, fühlte sich schweißig und klebrig an.
Markus zog ihn ziemlich bestimmt durch die umherlaufenden Menschen zu den Restaurant, das von einer großen Glasscheibe mit integrierter Tür vom großen Hauptgang des Einkaufszentrums abging. Nur wenige Tische waren besetzt und als sie das glücklicherweise klimatisierte Lokal betraten, kam sofort ein kleiner, dünner asiatischer Mann zu ihnen und machte eine ausladende Handbewegung, offensichtlich eine Aufforderung, sich dorthin zu setzen, wo Platz war.
Fragend sah Jonas zu Markus, denn er hätte nichts dagegen, sich möglichst weit weg von allen anderen zu setzen. Als würde Markus ihm den Wunsch von den Augen ablesen machte er eine Kopfbewegung, dass er mitkommen sollte und führte ihn zu einem Tisch, der zwar an der Glasscheibe, aber ganz in der Ecke lag. Die Tische um sie herum waren nicht besetzt und erleichtert löste Jonas seine Hand aus Markus und ließ sich auf dem Stuhl nieder, während Markus ein wenig schwerfällig auf die Bank an der Wand rutschte.
„Das war doch ein erfolgreicher Tag", sagte Markus und klang dabei vollkommen sorglos. Jonas brachte ein gequältes Nicken zustande, obwohl sein Tag bisher alles andere als erfolgreich war. Noch immer war er sich nicht wirklich klar darüber geworden, was er eigentlich hier tat und warum. Was er fühlte und was er nicht fühlte.
Ein Seufzen entfuhr ihm, vor dem er selbst erschrak. Er brauchte dringend eine Auszeit, musste weg von all dem hier. Aber er konnte nicht. Selbst wenn er es wollte, er konnte Marc nicht allein auf der Arbeit lassen.
Bevor er noch länger in seinen Gedanken versunken dasitzen konnte, spürte er Markus Hand auf seiner. Er hatte den Arm über den Tisch ausgestreckt und drückte sie sanft.
„Hey, was ist los? Du siehst so nachdenklich aus", wollte Markus wissen und komischerweise klang er dabei ganz sanft. Jonas hob den Blick und traf sofort den seinen. Markus Lippe zitterte ein wenig und er fing an, mit dem Daumen über seine Finger zu streichen.
„Ich...", setzte Jonas an, wusste aber nicht so recht, was er sagen sollte. Was er allerdings wusste war, dass er Markus Berührung nicht eine Sekunde länger ertrug.
„Ich muss mich kurz frisch machen", sagte er, entzog ihm seine Hand und stand auf. Ohne zurück zu sehen eilte er in Richtung der Toiletten, die natürlich ganz am anderen Ende des Lokals lagen. Er fühlte sich, als spürte er die vorwurfsvollen Blicke der anderen Gäste auf sich. Was natürlich Quatsch war, denn vermutlich beachteten sie ihn gar nicht.
Er stieß die Tür der Toiletten auf und eilte hinein, geradewegs zu einem der Waschbecken. Er hielt seine Hände an den Sensor, der das Wasser fließen ließ und spürte sofort Erleichterung, als ihm das kühle Nass über die Finger rann. Beinahe fühlte es sich an, als würde er Markus Berührungen abwaschen.
Als nach wenigen Sekunden das Wasser automatisch abgedreht wurde, schüttelte er seine Hände aus und griff nach einem Papierhandtuch. Auch wenn er sich schon ein wenig besser fühlte, freute er sich auf eine Dusche.
Sein Blick wanderte in den Spiegel über dem Waschbecken, doch sofort wandte er ihn wieder ab. Es war, als könnte er seinen eigenen Anblick nicht ertragen. Ein dicker Kloß bildete sich in seiner Kehle und auf einmal schlich sich Matthias in seine Gedanken. Matthias. Er hatte ihn hintergangen, sein Vertrauen missbraucht und mit jeder Sekunde, die er mit Markus verbrachte, machte er es noch schlimmer. Ihm war durchaus bewusst, dass er mit Matthias reden musste, aber er schaffte es noch nicht. Denn mit Sicherheit würde er eine Standpauke über sich ergehen lassen, zwar berechtigterweise, aber dennoch graute es ihm davor. Er war wirklich feige.
Auf einmal schoss ihm wieder Matthias Nachricht in den Sinn. Die Nachricht, die er ihm über Facebook geschrieben hatte. Augenblicklich schlug sein Herz schneller und bevor er wirklich wusste, was er da tat, zog er sein Handy aus der Hosentasche und öffnete den Messenger. Sofort sah er, dass er noch eine Nachricht von ihm erhalten hatte. Seine Augen wanderten über die wenigen Worte, ohne den Sinn zu begreifen. Erst beim dritten Anlauf kapierte er, was da stand. Was auch schon in der ersten Nachricht gestanden hatte.
Matthias liebte ihn noch immer, verzieh ihm alles und wollte, dass er nach Hause kam. Jonas Atem wurde mehr und mehr zu einem Keuchen, das sich in ein Schluchzen verwandelte. Was um alles in der Welt tat er nur? Plötzlich ließ ihn ein polterndes Geräusch zusammenfahren und den Blick zur Tür herumreißen.
„Was machst du denn so lange?", fragte Markus, eindeutig vorwurfsvoll, kaum dass er in den Waschraum hereingepoltert war. Jonas wischte sich panisch die Tränen vom Gesicht, aber es war eindeutig, dass Markus sehen würde, dass er geweint hatte.
„Was ist denn?", fragte Markus, kam näher zu ihm und legte seine beiden Hände an seine Hüfte. Jonas hielt den Blick von ihm abgewandt.
„Sieh mich an. Was ist passiert?", fragte Markus nun eindringlicher. Jonas schüttelte kaum merklich den Kopf und bemerkte, dass er noch immer das Handy in seiner Hand hielt. Hastig schob er es zurück in die Hosentasche.
„Moment mal. Was hast du mit deinem Handy gemacht? Hast du ihn etwa angerufen?", fragte Markus, ließ ihn abrupt los und sah ihn vollkommen ungläubig an.
„Ich... nein", stammelte Jonas, hob schüchtern den Blick und sah ihn an. In Markus Augen funkelte Zorn.
„Ach, was denn dann? Ich meine... du hast dich eindeutig für mich entschieden. Du hast mit mir geschlafen und du bist hier mit mir", sagte er, als wäre all das vollkommen klar. Jonas Herz rutschte ihm in die Hose. Egal was er tat, ein Herz würde brechen. Nein, nicht brechen. In tausend Splitter zerfallen. Zumindest fühlte es sich so an, als würde das in diesem Moment mit seinem eigenen Herzen geschehen. Markus schnalzte mit der Zunge.
„Komm. Gehen wir was essen und dann fahren wir ins Hotel und reden über alles, okay? Du kannst mir ganz offen und ehrlich sagen, was du denkst und was du fühlst. Und anschließend hörst du dir an, was ich denke und fühle", schlug Markus vor. Das klang ungewöhnlich vernünftig, sodass Jonas beinahe misstrauisch die Stirn runzelte.
„Komm schon. Du musst dich jemandem gegenüber öffnen. Darüber reden, was in deinem Kopf vorgeht, denn dass da jede Menge vorgeht, sehe ich", fuhr Markus in seinem gewohnten Redeschwall fort. Allerdings war eine Sache anders. Er war einfühlsam, aufmerksam und rücksichtsvoll. Etwas, das eigentlich gar nicht zu Markus passte. Ein wenig überrumpelt nickte er. Augenblicklich legte sich ein Lächeln auf Markus Lippen.
„Okay. Alles wird gut, Schatz. Das verspreche ich dir", sagte er, legte ihm eine Hand an den unteren Rücken und zog ihn eng an sich, sodass ihre Körper sich berührten.
„Küss mich", forderte Markus, doch bevor Jonas auch nur eine Chance hatte, seiner Forderung nachzukommen oder sie abzulehnen, presste Markus bestimmt seine Lippen auf seine.
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