Kapitel 33 - Matthias

Matthias fühlte sich, als hätte er keine vier Stunden geschlafen. Seine Glieder schmerzten, genau so wie sein Kopf. Nur mühsam rollte er sich irgendwie aus dem Bett, landete dabei halb auf dem Boden und ließ sich kraftlos darauf nieder. Das Laminat unter seinem Körper fühlte sich für ein paar Sekunden angenehm kühl an, bis es klebrig warm wurde. Dennoch blieb er liegen, legte die Stirn auf dem Boden ab und drückte so seine Nase platt und wartete. Worauf, wusste er auch nicht, vermutlich, dass irgendetwas passierte, das sein Leben wieder ins Lot brachte. Ein verzweifeltes Stöhnen entfuhr ihm, aber wenn er noch länger hier liegen blieb, würde sich mit Sicherheit nichts ändern. 

Mit einem beinahe reißenden Geräusch löste er sich vom Boden und erhob sich. Für einen kurzen Moment wurde ihm schwindelig und er presste sich die Handfläche an die Stirn, bis sich nicht mehr alles drehte. 

Wie automatisiert wanderte sein Blick zu Jonas Seite des Bettes, als erwartete er, dass er sich heimlich ins Schlafzimmer geschlichen hätte. Was natürlich nicht der Fall war. Kopfschüttelnd versuchte Matthias, seine Gedanken zu ordnen, aber es gelang ihm nicht wirklich. Er fühlte sich, als sei sein Kopf in Watte gepackt, allerdings war diese Watte nicht fluffig und leicht, sondern bleischwer. 

Sein Blick fiel auf sein Handy, das neben seinem Kopfkissen lag und obwohl er schon von hier aus sah, dass Jonas sich natürlich nicht gemeldet hatte, kontrollierte er es noch einmal. Er nahm es in die Hand, öffnete den Messenger und starrte auf die Worte, die er gestern Abend an Jonas geschrieben hatte. Sie verschwammen vor seinen Augen, doch als er den Blick nach unten wandern ließ, durchzuckte es ihn wie ein Blitz. 

Sofort fühlte er sich wacher, denn der kleine runde Kreis mit Jonas Bild darin, der am Ende der Nachricht erschienen war, bedeutete, dass er sie gelesen hatte. Augenblicklich pochte sein Herz wie verrückt und er glaubte, es würde ihm gleich aus der Brust springen. Jonas hatte die Nachricht erhalten und gelesen. Allerdings hatte er nicht geantwortet, aber immerhin wusste er nun, wie er fühlte und dass er mit ihm reden wollte. 

Matthias bemerkte, wie sein Atem stoßweise ging und er sehnte sich auf einmal mehr als jemals zuvor, Jonas einfach in den Arm zu nehmen, seine Hand in seinem Haar zu vergraben und ihm leise ins Ohr zu flüstern, dass er ihn liebte und alles wieder gut wurde. 

Auf einmal kam ihm eine Idee. Vielleicht hatte Jonas endlich die Blockierung aufgehoben und er konnte ihn wieder erreichen. Hektisch wählte er seine Nummer, presste sich das Handy ans Ohr und lauschte dem Tuten. Jonas musste schon längst wach sein, wenn er auf die Arbeit musste und eigentlich war er zu dieser Uhrzeit immer erreichbar. Noch immer tutete es und Matthias glaubte, dass es schon eine Ewigkeit andauerte. 

„Der gewünschte Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar", ertönte die verhasste Computerstimme und wütend, enttäuscht und verzweifelt zugleich warf er sein Handy so fest auf die Matratze, dass es einen Salto machte und anschließend liegen blieb. Einen Moment lang, heftig atmend, starrte er auf das Display, das erbarmungslos schwarz blieb. Warum zu Hölle ignorierte Jonas ihn weiterhin? Das konnte doch nicht sein! Er musste mit ihm reden, er konnte ihn doch nicht für immer ignorieren, oder? 

„Dämlicher Volltrottel", fluchte Matthias, griff wieder nach seinem Handy, kontrollierte noch einmal, ob es auch wirklich auf voller Lautstärke eingestellt war und ging anschließend damit ins Bad. Er würde sich ein wenig beeilen, damit er früh von der Arbeit zurück war. Vielleicht würde er es noch einmal auf Jonas Arbeit versuchen, immerhin musste er ihn irgendwann abfangen können. Spätestens nächste Woche, wenn er von der Arbeit freigestellt war, würde er notfalls vor dem Gebäude campieren. Allerdings wurde ihm allein bei dem Gedanken, dass er noch fast eine Woche ohne ihn auskommen musste, übel. 

Allein deswegen, weil morgen Mittwoch war und Aaliyah zu ihm kam. Wie sollte er erklären, dass Jonas nicht da war? Sie sehnte sich doch so sehr nach ihm, vor allem, da er in der letzten Zeit immer recht lange gearbeitet hatte. 

Kopfschüttelnd vertrieb er den Gedanken an seine Tochter, denn wenn er noch länger in Gedanken war, würde er noch Ewigkeiten brauchen, bis er fertig war. Er platzierte sein Handy auf dem Rand des Waschbeckens neben seiner Zahnbürste, damit er es gut im Blick hatte. Als sein Blick auf den Zahnputzbecher fiel, stockte er. Jonas Zahnbürste war logischerweise nicht da, aber irgendwie störte ihn dieses Bild. Es war nicht komplett. Er war nicht komplett ohne Jonas. 

Nur mit Mühe gelang es ihm, sich loszureißen und stattdessen endlich unter die Dusche zu steigen. Er gönnte sich heute nur fünf Minuten unter dem angenehmen Wasserstrahl, anschließend putzte er sich die Zähne, föhnte seine Haare und zog sich an. In Rekordgeschwindigkeit war er fertig geworden und er beschloss, auf der Arbeit zu frühstücken. Wenn sie ihn schon kündigten, würde er das kostenfreie Essen in der Essensausgabe für Obdachlose in vollen Zügen ausnutzen. Es wurde immerhin jeden Tag zu viel zubereitet, sodass er gar kein schlechtes Gewissen hatte. 

Er schnappte sich sein Handy, verstaute es in seiner Tasche, die er sich über die Schulter schwang und verließ seine Wohnung. Wir üblich war es im Treppenhaus unangenehm heiß, denn schon jetzt zeigte sich kein Wölkchen am Himmel. Wenn morgen das Wetter genau so schön war, würde er vielleicht Esra fragen, ob er mit Aaliyah an den See gehen konnte. Irgendetwas, das sie so sehr ablenkte, dass sie Jonas Fehlen hoffentlich nicht bemerkte. 

Matthias setzte sich in sein Auto, ließ alle Fenster herunter und fuhr los in Richtung Arbeit. Allmählich wanderten seine Gedanken zum bevorstehenden Arbeitstag und auch wenn es sicherlich genauso stressig werden würde wie gestern, freute er sich darauf. 

Auch wenn es verrückt klang, er arbeitete gern und freute sich, wenn er Menschen helfen konnte. Nun ja, nicht allen war natürlich zu helfen, aber er war da. Das war schon mehr, als die meisten anderen für Obdachlose tun würden. 

Innerlich grinste er, denn obwohl er in seinem Privatleben meist unbeholfen und ein wenig verpeilt durch die Gegend lief, fühlte er sich in seinem Job selbstbewusst. Es war ihm bewusst, dass er ein guter Sozialarbeiter war, auch wenn ihm das auf den ersten Blick niemand zutraute. Er wusste, was er tat und er tat es gut. Anscheinend wusste sein Arbeitgeber das nicht zu schätzen. 

Auf einmal wurde ihm bewusst, dass er dringend damit anfangen sollte, sich zu bewerben. Zwar hatte er noch bis zu seiner Kündigungsfrist Zeit, etwas Neues zu finden, aber lange sollte er es nicht aufschieben.

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Überraschenderweise verlief Matthias Vormittag gut. Anscheinend hatten die Mädels aus der Essensausgabe Mitleid mit ihm und sie brachten ihm pünktlich alle zwei Stunden ein paar Brötchen vorbei. 

Seine Betreuten schienen heute alle an ihr Telefon zu gehen oder vorbeizukommen, sodass er ihnen die frohe Botschaft überbringen konnte, dass er ab nächster Woche nicht mehr hier war. Mehr als einmal hatte er seine Handynummer weitergegeben, denn auch wenn die meisten sicherlich kein Problem damit hatten, ab Montag nach Neuenrath zu fahren, hatte er das ein oder andere Sorgenkind. Einige verwies er auch an die anderen sozialen Einrichtungen, die hier im Ort waren, aber tatsächlich waren die meisten nicht so gut aufgestellt wie sie. Das lag vor allem an den fehlenden Mitteln. Sie waren auf Spenden angewiesen, die wie üblich ausblieben. 

Matthias spürte, wie er wütend wurde, wenn er daran dachte. Zwar war auch ein ein großer Verfechter der Hilfe zur Selbsthilfe, aber manche waren eben einfach noch nicht so weit. Sie brauchten Unterstützung, auch wenn einer der Gründe, warum viele sich gegen eine dringend benötigte Spende entschieden, durchaus nachzuvollziehen war. 

Schon oft hatte er gehört, dass die Betroffenen ja selbst Schuld waren, wenn sie Drogen nahmen oder Schulden hatten oder was auch immer ihr Problem war, aber ganz so einfach schien die Sache nicht. Niemand nahm freiwillig harte Drogen, sodass er im Leben nicht mehr zurecht kam. Niemand ruinierte sich selbst das Leben durch das immer weitere Anhäufen von Schulden, bis sie alles verloren. Da steckte meist sehr viel mehr dahinter, aber dafür würden die Leute sich mit „den Pennern" auseinander setzen müssen und dafür waren sich die meisten zu schade. Es war traurig, dass viele so dachten, denn jedem konnte etwas Schreckliches im Leben zustoßen und nicht alle hatten rosige Startbedingungen. Sicherlich war in gewisser Weise jeder seines Glückes Schmied, aber wie soll man etwas Anständiges Schmieden, wenn man kein Werkzeug hat? 

Matthias biss in eines der belegten Brötchen, die auf einem Plastikteller vor ihm auf dem Schreibtisch standen und vertrieb sie Missstände aus seinen Gedanken, die er ohnehin nicht ändern konnte. 

Auf einmal hörte er einen lauten Knall, gefolgt von dem Splittern von Glas. Sofort war er auf den Beinen, sprang beinahe über den Tresen und rannte in den Aufenthaltsraum, aus dem das Geräusch gekommen war. Er bemerkte Franziska im Augenwinkel, ebenso wie Diana, die ihm beide folgten. Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubendes Brüllen. 

„Was zur Hölle soll das heißen, du Schlampe?", brüllte ganz eindeutig ein Mann, getrieben von Alkohol in seinem Blut. Keine Sekunde später erreichte er den Aufenthaltsraum und sah Louisa, die auf einem der Stühle saß, die dort an mehreren kleinen Tischen aufgestellt waren. Sie war in die Ecke getrieben, zwischen dem Tisch und der Wand gefangen. Hinter ihr war das Fenster zu Bruch gegangen und ein riesiger Typ mit Glatze stand über sie gebeugt und bedrohte sie mit der erhobenen Faust. Über seinen Arm lief Blut, offensichtlich hatte er die Scheibe mit der bloßen Hand eingeschlagen. 

„Ich rufe Krankenwagen und Polizei", raunte Franziska und rannte auf ihren hochhackigen Schuhen wieder davon. Matthias handelte, bevor er dachte. Er schnappte sich einen der Stühle und warf ihn mit aller Kraft in Richtung des Mannes, den er vom Sehen her kannte. Er meinte sich zu erinnern, dass er Andreas hieß. Der Stuhl krachte dicht bei ihm auf dem Boden und für eine Sekunde war Matthias fasziniert von sich selbst, dass er so gut im Werfen war. Er hatte Andreas nicht verletzen wollen, aber er erreichte damit genau das, was er wollte. Er war abgelenkt. Verwirrt drehte Andreas sich um und wandte seine Aufmerksamkeit nun ihm zu. Louisa schaltete genau rechtzeitig und sie verschwand aus der Ecke und nahm Abstand. 

„Hast du den verdammten Stuhl auf mich geworfen, du Bastard?", rief Andreas und kam drohend ein paar Schritte auf ihn zu. 

„Hey Andreas. Was ist passiert?", fragte er vollkommen ruhig, hob die Hände, als Zeichen, dass er nicht bewaffnet war und trat einen Schritt auf den Mann zu. Sein Gesicht war noch immer in Wut verzerrt, aber es machte sich noch etwas anderes darin breit. Verwirrung. Er warf einen Blick über die Schulter zu dem zerbrochenen Fenster und als er sich wieder Matthias zuwandte, funkelten seine Augen. 

„Die blöde Schlampe meint, dass ich nicht mehr hierher kommen kann", fuhr Andreas fort, noch immer lauter und aggressiver als notwendig. 

„Deswegen bist du sauer, kann ich verstehen. Aber es stimmt. Diese Stelle hier wird geschlossen. Finden wir alle scheiße, aber wir können nichts machen. Das war die Entscheidung von oben", erklärte er ruhig, obwohl er innerlich ziemlich nervös war. Auch wenn er viel über Deeskalation wusste, manchmal half nur noch der Knüppel und Pfefferspray. Vor allem wenn Alkohol oder andere Drogen im Spiel waren. 

„Weißt du, wir alle sind sauer darüber und mir ist klar, dass du das für dich hart ist. Aber es gibt Alternativen. Du kannst nach Neuenrath kommen. Diana ist da. Du kennst doch Diana", plapperte er weiter, einfach nur, um Andreas nicht die Möglichkeit zu geben, weiter irgendetwas zu zerschlagen. Andreas Blick huschte für einen Moment an ihm vorbei zu Diana, die hinter ihm stand. Matthias wusste, dass sie in diesem Moment lächelte und nickte. „Auch da sind Leute für dich da, wenn du reden willst", fuhr er fort, spürte aber, dass Andreas noch immer geladen war, auch wenn er in der letzten Minuten still geblieben war. 

„Ihr wollt mich verarschen! Ihr wollt mich nur loswerden!", schrie er auf einmal, wirbelte herum und griff nach dem Stuhl, den Matthias eben noch in seine Richtung geworfen hatte. Sofort war er in Alarmbereitschaft und machte einen Satz zur Seite, sodass einer der Tische zwischen ihnen war. Andreas hob den Stuhl über den Kopf. 

„Stopp!", schrie Matthias, so laut, dass es in seinen eigenen Ohren klingelte. Andreas zuckte zusammen und hielt inne, den Stuhl noch immer über dem Kopf erhoben. 

„Du bist verletzt. Dein Arm blutet. Das sieht schlimm aus!", rief er und tatsächlich stellte Andreas den Stuhl wieder ab und betrachtete seinen Arm, als würde er erst jetzt bemerken, dass er blutete. 

„Tut es weh?", fragte er, woraufhin Andreas den Kopf schüttelte. Allerdings wirkte er nicht mehr ganz so aggressiv wie noch vor ein paar Sekunden. 

„Willst du dich waschen? Soll ich dir Verbandsmaterial holen?", fragte er, damit Andreas antworten musste. Innerlich flehte er, dass die dämliche Polizei sich beeilte, denn wirklich unter Kontrolle hatte er die Lage nicht. Andreas konnte jederzeit wieder ausrasten, das war ihm klar. Kopfschüttelnd sah Andreas ihn an. 

„Das ist die kleine Schlampe Schuld! Nur wegen der ist das alles passiert!", rief er mit bebender Stimme und sah sich suchend nach Louisa um, die sich zum Glück aus dem Staub gemacht hatte. 

„Was hat sie gemacht?", fragte er, was Andreas schnauben ließ. Bevor er jedoch seinen Frust auslassen konnte, stürmten zwei Polizeibeamte herein, überwältigten Andreas innerhalb von Sekunden und drückten ihn auf den Boden. Matthias atmete auf und er spürte, wie seine Hände zitterten. Sicher, er war ausgebildet, solche Situationen zu lösen, aber doch war es jedes Mal aufreibend. 

Er verzog sich eilig in Richtung seines Arbeitsplatzes, damit die Polizisten ihn abführen konnten und entdeckte Louisa, die gerade von einer dritten Beamtin befragt wurde. Sie wirkte fix und fertig, auch wenn sie es versuchte, zu verbergen. Diana war bei ihr und hielt ihre Hand und auch Franziska stand in der Nähe. Allerdings kam sie eilig zu ihm, als sie ihn bemerkte. 

„Das hast du klasse gemacht. Danke", raunte sie ihm zu und drückte seine Schulter. Matthias nickte zwar, aber das Lob kam nicht wirklich bei ihm an. Dafür waren solche Situationen schon zu oft passiert und zwar nicht Alltag geworden, aber auch nicht mehr außergewöhnlich genug, um besonders erwähnt zu werden. 

„Ich fege mal die Scherben zusammen", sagte er und ging zurück in den Aufenthaltsraum, wo in einem Schrank in der Ecke Kehrblech und Besen neben anderen Putzutensilien verstaut waren. Er holte beides heraus und machte sich an die Arbeit, eigentlich mehr, um sich abzulenken. Sicherlich würde es diese Woche noch den ein oder anderen geben, der die Information der Schließung ähnlich aufnehmen würde. Aber da mussten sie nun durch, denn auch das gehörte zu ihrem Job und wäre alles immer nur Friede, Freude, Eierkuchen, wäre es irgendwie langweilig. 

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