Kapitel 26 - Jonas

Seine Arme umklammerten seine Beine, während Jonas hin und her wiegte. Seine Jeans wurde ganz staubig von dem trockenen Feld, auf dem er hockte und die harten Weizenstiele bohrten sich in seine Haut, was unangenehm zwickte. 

Aber all das spielte keine Rolle. Nichts spielte eine Rolle. Er wusste, dass er Matthias Herz gebrochen hatte und selbst wenn er vorgab, dass er an ihrer Beziehung festhalten wollte, konnte Jonas es nicht. Er würde es nicht ertragen, jeden Tag den vorwurfsvollen Blick zu sehen, dass er Matthias Vertrauen missbraucht hatte. Selbst wenn Matthias ihm verzieh, er selbst konnte es nicht. 

Eine ganze Weile saß er schluchzend im Feld, bis er sich langsam wieder beruhigte. Vorsichtshalber hatte er Matthias Nummer blockiert, denn als er postwendend zurückgerufen hatte, war ihm klar geworden, dass er nicht locker lassen würde. Aber jetzt musste er selbst erst einmal zur Ruhe kommen, seine Gedanken sortieren und versuchen, irgendwie mit seinen Schuldgefühlen klar zu kommen. 

Mit zitternden Fingern steckte er sich eine Zigarette an, erhob sich und setzte seine Wanderung über die Felder fort. Markus war ihm glücklicherweise nicht gefolgt, oder er war direkt zu Antoine nach Hause gefahren und wartete dort auf ihn. Jonas entfuhr ein Schnauben. Ja, das würde Markus ähnlich sehen. Er war sehr penetrant und hatte offensichtlich nicht mehr viel in seinem Leben zu verlieren, zumindest wenn man sein fahles Gesicht und seine glanzlosen Augen als Maßstab nahm. 

Kopfschüttelnd verdrängte er Markus aus seinen Gedanken, allerdings war das gar nicht so leicht, wie erhofft. Warum nur hatte er all das zugelassen? Warum? Er liebt doch Matthias, er war glücklich mit ihm und er liebte Aaliyah und auch Duygu. Wie hatte er die beiden verraten können? Aaliyahs enttäuschter Blick, als er am Freitag schon wieder so spät von der Arbeit gekommen war, ließ noch immer seine Brust eng werden. 

Sein Kopf war randvoll und er fühlte sich wie in einem Film. Vielleicht wurde gleich ein Vorhang vor der Leinwand geschlossen, das Licht ging an und er war wieder in der Realität. Ein Lachen entfuhr ihm, verbittert und freudlos. Das hier war die Realität und er hatte sie geschaffen. Er allein war dafür verantwortlich. Dass Markus sich wieder Hoffnungen machte und dass er seine Beziehung mit Matthias in den Sand gesetzt hatte.

Eine ganze Weile wanderte er durch das Feld, hin und wieder über Feldwege, bis er schließlich zurück zur Straße kam und das Ortsschild von Villing passierte. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber mit Sicherheit würde es eine kurze Nacht werden. Immerhin musste er morgen arbeiten. 

Er fuhr sich mit der Hand durch die strubbeligen Haare, schob die Hände in die Hosentasche und wanderte die Straße entlang bis zu Antoines Haus. Sein weißer BMW stand noch davor, genau wie Markus. Jonas ließ den Blick schweifen und bemerkte sein Auto ein wenig die Straße herunter. Leise fluchte Jonas vor sich hin, denn er wollte Markus nicht sehen, nicht mit ihm reden. Zielstrebig ging er an ihm vorbei, geradewegs zur Haustür und klingelte. 

„Jonas", sagte Markus gequält, aber zu seiner Überraschung blieb er, wo er war. Vermutlich hatte er endlich begriffen, dass er allein sein wollte. Eine gefühlte Ewigkeit später wurde endlich die Tür geöffnet. 

„Himmel, da bist du ja! Wo warst du, verdammt?", fuhr Antoine ihn an, packte ihn unsanft an der Schulter und zerrte ihn ins Haus. Jonas senkte den Blick auf den Boden, als er den Flur betrat. Auf einmal hörte er Antoine verächtlich schnauben, gefolgt von dem lauten Krachen der Tür. 

„Erklär mir bitte mal, warum dieser Kerl vor meinem Haus herumlungert", forderte Antoine, eindeutig wütend. Er baute sich vor ihm auf, die Arme vor der Brust verschränkt. Jonas wagte es nicht, den Blick zu heben, zu schwer lastete noch sein eigenes schlechtes Gewissen auf ihm. 

„Jetzt sag schon! Wohin bist du gestern einfach verschwunden? Sag bloß nicht, zu ihm!", rief Antoine aus und stieß ihm unerwartet fest gegen die Schulter, sodass Jonas aus Reflex den Kopf hob und sich die Stelle rieb, an der er ihn getroffen hatte. 

„Ich...", setzte er an, schaffte es aber nicht, das alles noch einmal auszusprechen. 

„Du was? Bist du mit ihm im Bett gelandet? Ja oder Nein?", setzte Antoine seine Inquisition fort. Jonas stöhnte, fuhr sich durch die Haare und eilte ohne eine Antwort ins Gästezimmer, um sich sein Zeug zu holen und so schnell wie möglich zu verschwinden. Wohin wusste er nicht, aber er würde die vorwurfsvollen Blicke keine Sekunde länger mehr aushalten. Halb stolperte er über seine eigenen Füße, als er hektisch sein Zeug zusammen suchte und in seinen Rucksack quetschte. 

Er musste weg, ganz weit. Aber wohin nur? Weder Antoine, noch Markus, noch Matthias konnte er in diesem Moment ertragen, aber am allerwenigsten sich selbst. Jonas spürte, wie seine Augen sich schon wieder mit Tränen füllten. Für einen Moment hielt er inne, legte den Kopf in den Nacken und drängte sie blinzelnd zurück. Leise fluchte er vor sich hin, während er den Reißverschluss zuzog, sich den Rucksack auf den Rücken schwang und aus dem Zimmer eilte. 

Allerdings rannte er geradewegs in Antoine hinein, der mit verschränkten Armen vor der Tür gewartet hatte. Erschrocken zuckte Jonas zusammen und machte Anstalten, sich einfach an seinem Freund vorbei zu drängen, denn seine Fragen würde er auf keinen Fall ertragen können. 

„Hey, warte", sagte Antoine unerwartet einfühlsam und streckte den Arm aus, um ihm aufzuhalten. 

„Ich...", stammelte Jonas, unfähig, einen sinnvollen Satz herauszubringen. 

„Warte. Setz dich einen Moment und beruhige dich. Dann erzählst du mir, was passiert ist", sagte Antoine, nahm seinen Arm langsam herunter und legte stattdessen seine Hand auf seine Schulter. Jonas spürte den Druck auf seinen verspannten Muskeln nur allzu deutlich. Allerdings bemerkte er auch, dass er schon etwas ruhiger war als noch vor fünf Minuten. 

„Ich...", startete er einen neuen Versuch, dem Blick von Antoine noch immer ausweichend. 

„Du bist mit Markus gegangen letzte Nacht, habe ich recht? Und jetzt bereust du es", hörte Jonas ihn sagen und wie von allein schnellte sein Kopf hoch und seine Augen weiteten sich. Natürlich war ihm klar, dass er sich dadurch verriet, aber es noch einmal ausgesprochen zu hören fühlte sich an, als hätte jemand einen Eimer Wasser über seinen Kopf geschüttet. Die Wahrheit war schmerzhaft, aber es zu leugnen wäre schwachsinnig. Sein schlechtes Gewissen und Markus Auftauchen ließen immerhin tatsächlich nur einen Schluss zu. Zögerlich suchte er Antoines Blick und als er ihn schließlich fand, kam er sich vor wie ein kleines Kind, das nur darauf wartete, eine Standpauke zu bekommen. 

„Was... was willst du jetzt machen? Es Matthias sagen?", fragte Antoine, allerdings entging Jonas nicht, dass auch er hart schluckte. Eine harte, aber wahre Erwiderung lag ihm auf der Zunge, aber er sollte sich wirklich nicht in die Angelegenheit zwischen Antoine, Nathalie und Isabelle einmischen. 

Jonas biss sich auf die Lippe, denn er hatte keine Ahnung, was er nun tun sollte. Er wusste nur, dass er weg musste, irgendwo hin, wo niemand ihn an seinen Fehler erinnerte und er nicht von seinem schlechten Gewissen zerfressen wurde. 

Plötzlich ertönte ein beinahe ohrenbetäubendes Schrillen, was sie beide zusammenfahren ließ. Jonas Blick wanderte zur Tür und er erkannte durch das milchige Glas Markus Umrisse. Hilfesuchend sah er zu Antoine, der erst da seine Schulter los ließ und mit eiligen Schritten durch den Flur marschierte. Jonas wankte ihm hinterher, denn eines war sicher: Solange er nicht nach draußen kam, würde Markus nicht weggehen. Er sah, wie Antoine die Tür einen kleinen Spalt öffnete und den Kopf nach draußen streckte. 

„Verschwinde. Siehst du nicht, was du angerichtet hast?", fuhr er Markus an, der anscheinend einen Schritt zurückwich. Zumindest wurde seine Silhouette kleiner und unschärfer. Einige Sekunden lang blieb es still. 

„Dazu gehören immer zwei und ich habe ihn ganz sicher zu nichts gezwungen. Es war seine Entscheidung", sagte Markus, was Antoine schnauben ließ. Jonas wusste, dass er irgendetwas tun musste und er beeilte sich, zu Antoine zu gelangen. Er griff nach der Klinke und zog die Tür ein Stück weiter auf. Verwirrt sah Antoine ihn an. 

„Schon okay. Ich... ich rede mit ihm", sagte er, quetschte sich an Antoine vorbei und trat ins Freie. 

„Ich muss sowieso langsam zurück fahren. Ich... ich melde mich bei dir", sagte er zu Antoine und versuchte ihm mit einem eindringlichen Blick zu sagen, dass ihm alles leidtat. Für eine ganze Weile erwiderte sein Freund seinen Blick, bevor er nickte. 

„Gut, aber... ruf mich an, wenn etwas ist", sagte er noch, anschließend verschwand Antoine wieder im Haus. Kaum dass die Tür geschlossen war, spürte er Markus Hand unter seinem Kinn und den leichten Druck, mit dem er seinen Kopf herumdrehte. 

„Bitte Jonas. Bleib bei mir", flehte er weinerlich und sichtlich verzweifelt. Jonas schüttelte den Kopf. 

„Ich... ich muss über alles nachdenken, ich...", brachte er hervor und machte sich eilig von Markus los. Zu seiner Überraschung ließ er es zu und Jonas ging das kurze Stück bis zu seinem Auto. Er kramte in seinem Rucksack nach dem Schlüssel und als er ihn endlich ganz unten fand und die Verriegelung geöffnet hatte, schleuderte er sein Zeug auf den Beifahrersitz. 

Ihm war klar, dass er in diesem Zustand keine drei Stunden Autofahrt schaffen würde, aber sicherlich würde ihm etwas Abstand gut tun. Wenn er vielleicht ein paar Kilometer fahren könnte, so weit, dass Markus ihn nicht mehr fand und sich dann ausruhen würde. Vielleicht würde das seine Gedanken klären. 

Noch einmal atmete er tief durch, dann stieg er in sein Auto. Bevor er jedoch die Tür zuziehen konnte, sprang Markus beinahe dazwischen. Er lehnte eine Hand auf dem Autodach ab, mit der anderen hielt er die Tür offen. 

„Schatz, ich flehe dich an. Lass mich jetzt nicht allein. Du weißt genau so gut wie ich, dass das zwischen uns etwas ganz Besonderes ist. Bitte, nimm mich mit. Ich habe nichts, was mich hier hält", sagte Markus mit zitternder Stimme, eindeutig dem Wahnsinn ein gutes Stück näher als ohnehin schon. 

Jonas Hände krallten sich um das Lenkrad. Seine Gedanken rasten und schwirrten umher, sodass er keinen klaren zu fassen bekam. Was er allerdings wusste war, dass er Matthias nicht unter die Augen treten konnte. Er schaffte es einfach nicht. Es war feige, das war ihm klar und wenn er ehrlich war, hatte Matthias nach seiner Beichte nicht so geklungen, als würde er ihn hochkant aus seinem Leben schmeißen, sondern eher... als würde er ihm verzeihen? Oder es zumindest versuchen? 

Jonas spürte, wie sein Atem sich automatisch beschleunigte und sein Blick wanderte zu Markus. Als er sein Gesicht dicht an seinem sah, erschrak er. Markus sah schlecht aus, wirklich schlecht. Seine Haut war fahl, der Glanz in seinen Augen war verloren gegangen. Seine Wangen waren dicker als er sie in Erinnerung hatte und sein Haar war länger und grauer. Allerdings trug er es noch immer nach hinten gekämmt, genau so, wie er es schon immer getan hatte. Jonas Herz wurde schwer. Ihn in so schrecklicher Verfassung zu sehen machte ihm zu schaffen, auch wenn er ihn eigentlich gar nichts mehr anging. Eilig wandte er den Blick ab und richtete ihn stattdessen auf seine eigenen Hände, die noch immer das Lenkrad umklammerten. 

„Gib mir eine Chance. Nimm mich mit, wir buchen uns ein Hotel in der Nähe deiner Arbeit. Gib mir eine Woche um dir zu beweisen, dass ich dir Richtige für dich bin", plapperte Markus weiter, noch immer halb in sein Auto gelehnt. Jonas widerstand dem Drang, ihn anzusehen, allerdings spürte er nur allzu deutlich, dass er einknicken würde. Markus hatte recht, er konnte nicht mehr mit Matthias zusammen sein. Nicht, weil er ihn nicht liebte, sondern weil seine Schuldgefühle es unmöglich machten. Und Markus... er schien sich seiner Gefühle für ihn sehr sicher zu sein. 

„Jonas, bitte", drängte er und bevor Jonas wusste, was er da anrichtete, nickte er.

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