Kapitel 24 - Jonas

Jonas hörte seinen eigenen, keuchenden Atem. Es fühlte sich an, als würde er nach und nach aus seinem Körper schwinden, als würde sein Selbst sich in den hintersten Winkel seines Körpers zurückziehen und nur eine leere Hülle übrig lassen. Seine Knie wurde weich und er bemerkte, wie er mit dem Rücken gegen die Wohnungstür knallte. Panisch klammerte er sich an der Türklinke fest, bevor er fiel. Mit zitternden Fingern führte er seine Zigarette, die beinahe ganz heruntergebrannt war, an die Lippen und sog das letzte bisschen Nikotin heraus. Allerdings beruhigten seine Gedanken sich kein bisschen. 

Markus, der noch immer vor ihm kniete und ihn erwartungsvoll ansah, wollte ihn heiraten. Sein Leben mit ihm verbringen, für immer und ewig. So wie er selbst es einmal gewollt hatte, bevor Markus ihn betrogen hatte. Nein! Wieso dachte er denn an ihre jugendliche, unbeholfene und nicht wirklich gleichberechtigte Beziehung zurück? 

Matthias. Matthias war es, mit dem er sein Leben verbringen wollte. Mit dem er alt werden wollte. Jonas Herz krampfte sich so unangenehm zusammen, dass er die Hand an die Brust führte. Er ließ den Zigarettenstummel fallen und krallte die Finger in sein Shirt. Es tat einfach so weh! Er hatte Matthias, seine Liebe, sein Leben, sein Herz, auf eine hinterhältige Weise betrogen, die er selbst niemals verzeihen konnte. 

Plötzlich tauchte noch ein zweites Gesicht vor seinem inneren Auge auf. Klein, rund, süße Grübchen und Locken. Aaliyah. Ein Keuchen entfuhr ihm und er konnte sich nun endgültig nicht mehr auf den Beinen halten. Unsanft knallte er mit dem Hintern auf den Boden. Schmerz durchzuckte ihn, aber den hatte er mehr als verdient. Er hatte Aaliyah, die zwar nicht seine leibliche Tochter war, aber die er seit ihrer Geburt gemeinsam mit Matthias großgezogen hatte, verraten. Er liebte dieses Kind, wie sein eigenes. Und er wusste, dass sie ihn auch liebte. Immerhin war er immer da gewesen, seit sie denken konnte. 

„Hey, beruhige dich. Es wird alles gut", riss ihn eine sanfte, gleichzeitig vor Genugtuung triefende Stimme aus seinen Gedanken. Jonas Blick klärte sich und er erkannte Markus fahles, dickliches Gesicht, das unerwartet nah an seinem war. Er kniete noch immer vor ihm, eine Hand auf seiner Schulter. Wie von allein schüttelte Jonas den Kopf. Er konnte nicht fassen, was er getan hatte. Was er verloren hatte durch einen dummen, unverzeihlichen Fehler. 

„Komm, du musst dich etwas ausruhen", plapperte Markus weiter, umfasste seinen Oberarm und zog. Jonas wehrte sich, versuchte ihn abzuschütteln, aber er fühlte sich vollkommen ausgelaugt. Er konnte an nichts anderes denken als an Matthias und Aaliyah, wie die beiden lachend und sich gegenseitig kitzelnd auf dem Sofa lagen und herumalberten. Sein Herz schmerzte, nicht nur im übertragenen Sinne. Es schmerzte wahrhaftig. 

„Schatz, bitte. Hör endlich auf, dir den Kopf über ihn zu zerbrechen. Würdest du ihn wirklich so sehr lieben, hättest du doch nicht mit mir geschlafen", hörte er Markus Stimme von ganz weit weg, dennoch war sie wie Öl, das ins Feuer gegossen wurde. Jonas sah, wie Markus ungeschickt auf dem Boden herumrutschte und in diese dämliche Ringdose griff. 

„Bitte. Ich werde zu dir stehen, ich werde dich glücklich machen, so wie wir es schon einmal waren", sagte er und griff bestimmt nach seiner Hand. Erst da realisierte Jonas, dass Markus ihm tatsächlich den Ring auf den Finger schieben wollte. Panisch ballte er die Hand zur Faust und zog sie an die Brust. 

„Nicht", sagte er schwach und zu seiner Überraschung ließ Markus von ihm ab. 

„Okay", murmelte er, eindeutig enttäuscht. Aber das würde nicht funktionieren, er konnte ihm kein schlechtes Gewissen machen. Denn all seine Kapazitäten eines schlechten Gewissens waren schon aufgebraucht für Matthias. Tränen sammelten sich in seinen Augen und panisch hob er den Kopf, damit sie nicht überliefen. Natürlich funktionierte es nicht. Ein Schluchzen brach sich Bahn und fahrig tastete er nach seinen Zigaretten, die er schließlich neben sich auf dem Boden fand. Irgendwie war die Dose heruntergefallen und aufgesprungen, allerdings tasteten seine Finger vergeblich nach einer Zigarette. 

Auf einmal hörte er, wie Markus sich ächzend erhob und sich von ihm entfernte. Wie automatisiert atmete Jonas auf, denn endlich hatte er ein wenig Luft zum Atmen. Er hob die Zigarettendose auf und bemerkte, dass er vorhin die letzte Zigarette herausgenommen hatte. Der Stummel lag noch immer neben ihm, inzwischen erloschen. Auf dem hässlichen Linoleumboden war ein kleines Brandloch entstanden, aber es war ihm egal. 

„Hier", sagte Markus, der wieder zurückkam und ihm das Päckchen Zigaretten hinhielt, das er gekauft hatte. Auch wenn Jonas es widerstrebte, etwas von Markus anzunehmen, schnappte er sich das Päckchen und riss es auf. Mit zittrigen Fingern zog er eine Zigarette heraus, steckte sie zwischen die Lippen und zündete sie an. 

Zu seiner Verwunderung entfernte Markus sich wieder und ging zurück ins Wohnzimmer, wo er geradewegs auf das Fenster zusteuerte, das genau gegenüber der Wohnungstür lag. Er öffnete es und sah anschließend auffordernd zu Jonas. 

„Kannst du bitte ans Fenster gehen?", fragte Markus in einem Ton, der klarmachte, dass es keine Frage war, sondern ein Befehl. Jonas seufzte, erhob sich jedoch mühsam und sammelte sein Zeug ein, das eben heruntergefallen sein musste. Handy und Portemonnaie schob er in die Hosentasche, anschließend gehorchte er und ging auf wackligen Knien zum Fenster. Als er näher kam, trat Markus einen Schritt beiseite und lehnte sich stattdessen gegen die Arbeitsfläche seiner kleinen Küchenzeile, die neben dem Fenster lag und direkt ans Wohnzimmer grenzte. 

Jonas stützte eine Hand auf der Fensterbank ab und lehnte sich ein wenig nach draußen in die Hitze. Tatsächlich schien die Sonne unbarmherzig auf seinen Kopf und er glaubte, seine Gedanken würden dadurch schmelzen und zu einer wabbeligen, verwirrenden Masse werden. 

Eilig versorgte er seine Nerven mit Nikotin und atmete die frische Luft ein. Es fühlte sich an, als würde sie seine Lungen aufwärmen und obwohl es sicherlich 30 Grad waren, bekam er eine Gänsehaut. 

Auf einmal bemerkte er, dass Markus einen Schritt näher an ihn herantrat und ihn eindringlich musterte. Jonas ignorierte ihn, denn würde er ihm weiterhin zuhören, würde er ihm sicherlich Flausen in den Kopf setzen. Wütend biss er die Zähne aufeinander, denn auch wenn es seine eigene Schuld gewesen war, dass er hier gelandet war, ärgerte es ihn, dass Markus seine Unsicherheit ausnutzte. Er durfte sich nicht mehr von ihm herumschubsen lassen, das hatte er schon zu viele Jahre zugelassen. 

Unwillkürlich schüttelte er den Kopf, aber nach und nach klärten sich seine Gedanken und er konnte zumindest etwas rationaler nachdenken, als noch vor einer halben Stunde. Er musste nach Hause. Zu Matthias. Ihm alles erklären. Zumindest das hatte er verdient, Ehrlichkeit. Er würde seine Sachen zusammenpacken, Matthias enttäuschten Blick ertragen und schließlich in ein Hotel ziehen, bis er eine eigene Wohnung gefunden hatte. Er würde Aaliyah einen letzten Kuss geben, Duygu eine letzte Nachricht schreiben und dann aus ihrem Leben verschwinden. Er würde damit leben müssen, dass er die Liebe seines Lebens durch einen dummen, wirklich dummen Fehler verloren hatte. Vielleicht würde er sich sogar auf Markus einlassen, wenn die Einsamkeit zu groß wurde. Stopp! Nein! Was dachte er denn da? 

Er würde es Matthias erklären, am besten so schnell wie möglich, ihn um Verzeihung bitten, seine Schimpftirade über sich ergehen lassen und vielleicht in ein paar Monaten, wenn Matthias Herz wieder verheilt war, einen neuen Versuch starten, ihn zurückzugewinnen. Ganz genau, das war sein Plan. Er wollte Matthias nicht verlieren, er wollte Aaliyah und auch Duygu nicht verlieren. 

Auch wenn er sich hier in Frankreich mehr zu Hause fühlte, wenn er es vermisste, französisch zu sprechen und wenn seine Freunde ihm fehlten, er gehörte zu Matthias. Und der gehörte nun einmal solange Aaliyah noch nicht auf eigenen Beinen stand, nach Deutschland. 

„Über was denkst du nach?", riss Markus Stimme ihn aus seinen wirbelnden, umherspringenden Gedanken und beinahe erschrocken riss Jonas den Kopf herum. Markus war noch näher gekommen, sodass er nur den Arm hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Jonas atmete tief ein, entschied sich dann aber, ihn zu ignorieren. 

Noch ein letztes Mal zog er an seiner Zigarette, warf den Stummel aus dem Fenster und stieß sich von der Fensterbank ab. Er ging zurück zur Wohnungstür und auch wenn er Markus nicht sah, hörte er, wie er ihm folgte. Seine schwerfälligen Schritte und sein Atem waren deutlich zu vernehmen. 

Obwohl er wusste, dass die Wohnungstür noch immer abgeschlossen war, rüttelte er noch einmal an der Klinke. Natürlich blieb sie erbarmungslos verschlossen. Gerade als er sich umwandte, um Markus noch einmal genervt zu sagen, dass er ihn endlich gehen lassen sollte, klimperten Schlüssel. Beinahe erschrocken riss Jonas den Blick herum und sah, dass Markus ihm seinen Schlüsselbund vor die Nase hielt. Schnell schnappte Jonas ihn sich und schob den kleineren der beiden Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Bevor er jedoch die Tür öffnen konnte, drückte Markus die flache Hand dagegen und hielt sie so zu. 

„Wie willst du zurück nach Villing kommen?", fragte Markus, allerdings glaubte Jonas, eine Spur Panik in seiner Stimme zu erkennen. Jonas schluckte, denn ganz sicher würde er sein Angebot, ihn zu fahren, nicht annehmen. Elf Kilometer waren keine unüberwindbare Strecke, selbst mit einem Kater. Er war fit und vielleicht zahlte sich seine Joggerei dieses Mal aus. 

„Ich gehe zu Fuß", sagte er, was Markus schnauben ließ. 

„Sei nicht albern. Ich fahre dich", sagte er bestimmt, löste seine Hand von der Tür und erlaubte Jonas so, sie endlich zu öffnen. Kopfschüttelnd eilte Jonas aus der Wohnung, hetzte die Treppen nach unten und stieß die klapprige Haustür auf. Markus wohnte wirklich in einem heruntergekommenen Haus, das dringend eine Renovierung nötig hatte. 

Obwohl es heiß war und Jonas Kopf unangenehm pochte, ging er strammen Schrittes die Straße entlang in Richtung Villing. Ihm war klar, dass Markus ihm folgen würde und wie erwartet hörte er wenige Sekunden später, wie eine Autotür zugeschlagen und ein Motor gestartet wurde. Es dauerte nicht lang, bis Markus mit seinem alten Peugeot neben ihm her fuhr und das Fenster herunterließ. 

„Jetzt steig schon ein! Ich fahre dich", wiederholte Markus sein Angebot, welches Jonas wieder ignorierte. 

„Bitte. Ich will dich begleiten, wenn du schon unbedingt zurück zu ihm fahren musst. Ich will für dich da sein, wenn du es ihm erzählst", plapperte Markus weiter, während er noch immer in Schrittgeschwindigkeit neben ihm herfuhr. Erschrocken riss Jonas den Kopf herum. Was faselte er denn da? 

„Was?", platzte er heraus, bevor er wirklich darüber nachgedacht hatte. Markus Lippen umzuckte ein Lächeln. 

„Was denkst du denn, was passiert, wenn du ihm von uns erzählst? Wenn du ihm sagst, dass du mit mir geschlafen hast und dass ich dich heiraten will. Was übrigens mein voller Ernst war", sagte Markus in einem Ton, der beinahe beiläufig klang. Jonas Brust wurde eng und er bemerkte, wie seine Schritte sich verlangsamten. 

„Du weißt ganz genau wie ich, dass eure Beziehung am Ende ist. Er wird dir nicht verzeihen können. Du könntest das auch nicht. Du solltest dann nicht allein sein", fuhr er fort und auch wenn Jonas wusste, dass er all das aus reinem Kalkül sagte, ließen ihn seine Worte nicht kalt. Ganz im Gegenteil. Selbst wenn Matthias ihm irgendwann verzeihen würde und ihn nicht mehr abgrundtief hasste, wie würde es weitergehen? Sicherlich würde er Zeit für sich brauchen, ihn aus seiner Wohnung werfen und wütend auf ihn sein. Das würde unweigerlich passieren, da war Jonas sich zu einhundert Prozent sicher. Aber wie würde es weitergehen? Könnte er noch mit Matthias zusammen sein, wenn er jeden Tag daran erinnert wurde, wie er ihn hintergangen hatte? Würde Matthias ihm Aaliyah nicht mehr anvertrauen, da er ein Betrüger war? Jonas Atem beschleunigte sich und neue Tränen bahnten sich ihren Weg über seine Wangen. 

„Ich liebe dich und ich werde dich in dieser schweren Zeit nicht allein lassen", sagte Markus. Kopfschüttelnd beschleunigte Jonas seine Schritte wieder. Natürlich würde eine Schulter zum Anlehnen nicht schaden, aber ganz sicher war Markus nicht derjenige, der sie ihm anbieten sollte. 

Auf einmal fuhr Markus ein kleines Stück weiter die Straße entlang, blieb dann stehen und stieß die Beifahrertür auf. Unweigerlich würde Jonas einen anderen Weg einschlagen müssen, wenn er nicht geradewegs gegen die geöffnete Tür laufen wollte. Leise fluchte er vor sich hin und ließ den Blick schweifen. Links von ihm lag die Straße, die menschenleer war. Auf der anderen Straßenseite befanden sich einige Häuser, sodass er keine Möglichkeit hatte, ihm weiter auszuweichen. Rechts neben ihm allerdings lag ein kahlgeschorenes Weizenfeld. Kleine, widerspenstige Stängel stachen wie kleine Finger aus der Erde. Er meinte sich zu erinnern, dass einige Feldwege parallel zur Straße führten, über die er schließlich auch nach Villing gelangen würde. Außerdem könnte Markus ihm über das Feld nicht mit dem Auto folgen und zu Fuß würde er ihn ziemlich sicher abhängen können. 

Ohne länger darüber nachzudenken bog Jonas nach rechts ab und fing an zu rennen. Er floh, das war ihm klar, aber er wusste in diesem Moment keinen anderen Ausweg. Er sprang und hetzte über die Reste des geernteten Weizen, bis er schließlich ein ganzes Stück von der Straße entfernt war. Hoffentlich käme Markus nicht über die wahnwitzige Idee, über den Acker zu fahren. 

Ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, setzte er seine Wanderung über das Feld fort, bis er auf einen kleinen Trampelpfad stieß. Er musste nur weg hier, ganz schnell und die Sache ein für alle Mal hinter sich lassen. Er musste nach vorn blicken. Er würde Matthias beichten, was er getan hatte. Das war der nächste Schritt, auf den er sich konzentrieren sollte.

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