Kapitel 21 - Matthias
Ein Klingeln riss Matthias aus einem unruhigen Schlaf. Erschrocken zuckte er zusammen und spürte gleichzeitig einen stechenden Schmerz in seinem Rücken. Verflucht, war er etwa hier auf dem Balkon eingeschlafen?
Verwirrt sah er sich um und musste feststellen, dass er tatsächlich auf dem Balkon saß, halb zusammengekauert auf dem Stuhl. Wieder klingelte es, begleitet von einem Klopfen.
„Ich komm ja schon", rief er, faltete sich mühsam aus dem Stuhl und streckte sich. Seine Knochen knackten und er humpelte durch die Wohnung. Inzwischen klingelte jemand Sturm, gleichzeitig malträtierte jemand die Tür, als wollte er sie einschlagen.
„Was zur Hölle...", murmelte er, trat die letzten Schritte durch den Flur und riss die Wohnungstür auf.
„Was?", fragte er genervt, denn egal wer da vor seiner Wohnungstür stand, musste vollkommen übergeschnappt sein. Er blickte in das Gesicht seines Vaters, das genau so wutverzerrt aussah wie sein eigenes.
„Endlich! Wie tief hast du denn geschlafen?", rief sein Vater, Darren, kopfschüttelnd aus und erst da bemerkte Matthias, dass hinter ihm Aaliyah stand. Sie wirkte ein wenig verloren und ihr Blick war auf den Boden gerichtet.
„Jetzt bin ich auf jeden Fall wach", brummte er und streckte den Arm nach Aaliyah aus, die sofort an seinem Vater vorbei zu ihm lief und sich an ihn drückte.
„Du kannst sie nicht einfach bei mir abladen und sie nicht wieder abholen", sagte sein Vater leise, aber doch eindringlich. Matthias stöhnte und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.
„Wie spät ist es denn?", fragte er, denn eigentlich hatte er Aaliyah tatsächlich abholen wollen. Der Blick seines Vaters wurde misstrauisch, beinahe lauernd. Anstatt ihm zu antworten betrat er die Wohnung und schloss die Tür hinter sich.
„Wir unterhalten uns mal", sagte er und bedeutete Aaliyah mit einer Kopfbewegung, dass sie in ihr Zimmer gehen sollte. Anscheinend begriff sie, dass ihr Opa keine gute Laune hatte und verdrückte sich eilig.
Matthias senkte schuldbewusst den Blick. Ihm war klar, dass er nicht wirklich der Zuverlässigste war, aber konnte sein Vater denn nicht verstehen, dass das hier alles andere als ein normaler Tag war? Er spürte, wie sein Vater ihn an der Schulter packte und in Richtung Wohnzimmer schob. Resignierend akzeptierte er, dass er sich wieder einmal eine Standpauke über seine Unzuverlässigkeit anhören musste, auch wenn er es noch immer nicht fair fand, wie oft er da durch musste. Aber das war vermutlich noch immer die Nachwirkung der Fehler in seiner Vergangenheit. Das Vertrauen in ihn war zerbrechlich und bei dem kleinsten Fehltritt zerbrach es, wohingegen es bei jedem anderen nur einen minimalen Riss bekommen hätte.
Sie betraten das Wohnzimmer und endlich ließ Darren ihn los.
„Zieh dir was an", befahl er und erst da wurde ihm bewusst, dass er nur eine Boxershort und ein schlabbeliges T-Shirt trug. Wortlos ging er ins Schlafzimmer, zog sich eine ordentliche Jeans und ein T-Shirt an und ging zurück ins Wohnzimmer.
Darren saß inzwischen auf dem Sofa und in diesem Augenblick bemerkte er die ersten grauen Haare. Sein Vater war ziemlich glücklich, dass sein schwarzes Haar erst mit 54 anfing, an den Schläfen grau zu werden, allerdings trug er in der letzten Zeit meist eine schwarze Schiebermütze.
Matthias ließ sich mit einem Seufzen neben ihm auf dem Sofa nieder und tippte kurz sein Handy an. Er bemerkte mehrere verpasste Anrufe, alle von seinem Vater. Als sein Blick auf die Uhrzeit fiel, zuckte er zusammen. Es war bereits 15:14 Uhr.
„Oh", murmelte er und sah ihn schuldbewusst an. Darrens Augenbrauen zogen sich zusammen, er war eindeutig wütend.
„Wenn du sie bei mir lässt und Esra im Krankenhaus ist, musst du erreichbar sein. Es könnte etwas passieren", startete Darren seine Tirade, die eindeutig kommen würde. Auch wenn er bereits 34 war, fühlte er sich in diesem Moment wieder wie fünfzehn.
„Tut mir leid, ich... ich konnte nicht schlafen letzte Nacht und da bin ich noch mal richtig weggepennt", erklärte er und auch wenn es die Wahrheit war, wirkte Darren nicht überzeugt. Sein Vater musterte ihn eindringlich und als Matthias begriff, was er da tat, schnaubte er verächtlich und wandte den Blick ab.
„Du musst mir nicht so in die Augen starren. Frag einfach", sagte er, ein klein wenig verletzt, dass sein Vater ihm noch immer nicht vertraute. Ja, er hatte in seiner Jugend ziemlich viel Mist gebaut. Okay, vielleicht auch noch in seinen Zwanzigern, aber in den letzten Jahren hatte er sich wirklich nichts mehr zu Schulden kommen lassen. Darren atmete tief ein uns aus, bevor er sich räusperte.
„Hast du irgendwas genommen?", fragte er wie erwartet, was Matthias schnauben ließ. Langsam richtete er den Blick wieder auf seinen Vater, direkt in seine dunkelbraunen Augen.
„Nein, habe ich nicht", antwortete er und obwohl es die Wahrheit war, zitterte seine Stimme. Darren schluckte schwer und nickte schließlich.
„Okay", sagte er nur, keine Entschuldigung, dass er ihm noch immer unterstellte, er hätte seine Drogen-Ausprobier-Phase noch nicht hinter sich gelassen. Na gut, hin und wieder rauchte er ein wenig Gras, aber auch nur wenn die Kinder nicht bei ihm waren. Allerdings behielt er das lieber für sich und er war froh, dass Jonas es nicht herumerzählte.
„Du musst wirklich zuverlässiger werden", fuhr Darren fort. Matthias nickte, verdrehte aber innerlich die Augen. So oft hatte er diesen Satz schon gehört und er war es leid, dass er sobald er nur fünf Minuten zu spät kam, sofort wieder alles sauer auf ihn waren und ihn als einen schlechten Vater abstempelten. Wobei, das Zuspätkommen war tatsächlich eines seiner Probleme, aber es war wirklich besser geworden.
„Es war wirklich nicht leicht gestern und Esra hat mich mitten in der Nacht angerufen. Ich konnte danach einfach nicht mehr schlafen", erklärte er noch einmal und zu seiner Erleichterung machte sein Vater eine wegwerfende Handbewegung.
„Wie auch immer. Jetzt bist du ja wach und kannst dich um Aaliyah kümmern, bis Esra nachher nach Hause kommt", sagte er und erhob sich mit einem Stöhnen. Sofort wurde Matthias hellhörig.
„Sie kann heute schon wieder nach Hause?", fragte er und suchte den Blick seines Vaters.
„Ja, ich habe eben mit ihr gesprochen. Sie muss noch einmal untersucht werden und wenn sie fertig ist, kannst du sie abholen. Sie wird dich anrufen, also geh besser an dein Handy, wenn es klingelt", sagte sein Vater, dann wandte er sich ab und ging in Richtung Flur. Eilig lief Matthias ihm hinterher.
„Danke! Fürs Aufpassen", sagte er, doch noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, winkte Darren ab.
„Schon gut", sagte er, blieb aber noch einmal stehen und drehte sich zu ihm um. Auf seinem Gesicht lag unverkennbar Sorge.
„Wo ist denn eigentlich Jonas?", fragte er und sofort spürte Matthias einen kleinen Stich in seinem Herz, denn als er eben auf sein Handy gesehen hatte, war noch immer kein Lebenszeichen von ihm gekommen.
„Er ist in Frankreich auf einem Geburtstag. Er kommt heute Abend zurück", sagte er, was seinen Vater beinahe erleichtert aufatmen ließ.
„Okay, dann kommt doch mal die Woche zum Essen vorbei", sagte Darren noch, dann ließ er ihn allein. Kaum dass die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss gefallen war, öffnete sich Aaliyahs Zimmertür und sie kam zu ihm ins Wohnzimmer.
„Na du. War es schön bei Opa?", fragte er, woraufhin sie nur die Schultern zuckte.
„Ich finde Opa ist immer gemein zu dir. Du machst gar nicht alles falsch, auch wenn er das so sieht", sagte sie, was ihn leise lachen ließ. Dennoch fühlte es sich gut an, das von ihr zu hören.
„Das ist lieb von dir", sagte er, legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie.
„Und Papi kommt heute Abend zurück?", fragte sie und augenblicklich legte sich ein Lächeln auf ihre Lippen.
„Ja, er wollte heute Abend nach Hause kommen. Was hältst du davon, wenn wir ihn anrufen? Da freut er sich bestimmt", sagte er und wie erwartet nickte Aaliyah. Sie hüpfte zum Sofa und griff nach seinem Handy, das sie ihm hinhielt. Er nahm es und bemerkte, dass der Akku fast leer war.
„Oh, warte kurz, ich muss es aufladen", sagte er und ließ sich auf dem Sofa nieder. Er griff darunter und tastete nach dem Ladekabel, das hier immer eingesteckt war und als er es schließlich fand, schloss er sein Handy an und legte es auf die Armlehne des Sofas.
„Komm", forderte er und sofort quetschte Aaliyah sich zwischen ihn und die Armlehne. Er wählte Jonas Nummer und lauschte den Tuten.
„Wenn er nicht dran geht, sprich ihm einfach auf die Mailbox", sagte er leise, denn komischerweise spürte er, dass Jonas den Anruf nicht annehmen würde. Aaliyah wibbelte unruhig hin und her, bis eine Computerstimme mitteilte, dass der gewünschte Teilnehmer zur Zeit nicht erreichbar war und der Piepton ertönte.
„Paaaaapi! Wann kommst du? Papa und ich brauchen dich und wir freuen uns ganz doll auf dich. Wir haben dich lieb", sagte sie und sah fragend zu Matthias, der sich etwas näher an das Handy beugte.
„Sie hat schon alles gesagt. Fahr vorsichtig", fügte er noch hinzu, dann legte er auf.
„Jetzt hast du gar nicht gesagt, dass du ihn liebst", bemerkte Aaliyah nüchtern. Matthias lachte.
„Stimmt, aber das weiß er. Du hast doch schon gesagt, dass wir ihn lieb haben", sagte er, was sie den Kopf schieflegen ließ, als überlegte sie.
„Sicher ist sicher", sagte sie, wählte zielsicher Jonas Nummer noch einmal und hielt ihm das Handy so weit entgegen, wie es das Ladekabel zuließ.
„Sag, dass du ihn liebst", befahl sie, was ihn glucksen ließ. Aber er wollte ihr den Spaß lassen und sicherlich freute Jonas sich ebenfalls darüber. Wieder ertönte der Piepton und er hinterließ noch eine Nachricht auf der Mailbox.
„Und ich liebe dich, das habe ich eben vergessen zu sagen", sagte er, was Aaliyah herzzerreißend seufzen ließ, anschließend legte sie auf.
„Du Verrückte", lachte er, wuschelte ihr durch die Locken und ließ sich in die Kissen zurückfallen.
„Was machen wir denn jetzt, bis wir Mama aus dem Krankenhaus abholen?", fragte er, während er die Füße auf dem Wohnzimmertisch ablegte und sie fragend ansah.
„Wir können einen Film angucken", schlug sie vor und dankbar nickte er. Irgendwie machte er sich noch immer ein wenig Sorgen um Jonas. Vermutlich vollkommen unbegründet, aber dennoch fühlte er sich ein wenig missmutig, dass er sich einfach nicht meldete.
Aaliyah griff nach der Fernbedienung, die auf dem kleinen Couchtisch lag und schaltete den Fernseher ein. Sie wählte den Streamingdienst aus und startete zielstrebig eine Serie, von der er wusste, dass Esra sie sie auch gucken ließ. Anschließend rollte sie sich zusammen und legte den Kopf auf seinem Bein ab.
„Hab dich lieb, Papa", sagte sie leise und auch wenn es nur kleine Worte waren, erfüllten sie sein Herz mit Glück. Ja, er hatte in der Vergangenheit viel falsch gemacht, aber bei Aaliyah hatte er das Gefühl, dass er alles einigermaßen hinbekommen hatte.
„Ich habe dich auch lieb", erwiderte er, legte seine Hand auf ihren Kopf und fuhr durch ihr weiches Haar.
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