Kapitel 2 - Jonas
Vollkommen erschöpft schaltete Jonas den Motor aus und lehnte sich im Sitz zurück. Seine Augen fielen wie von allein zu und er erlaubte sich, ein paar Minuten einfach nur hier zu sitzen und die Stille zu genießen.
Die letzten Wochen waren die Hölle gewesen, zumindest arbeitstechnisch. Sein Vorgesetzter machte mehr Druck als bisher, denn er stand im Fokus der Öffentlichkeit, weil sie eine Tat nicht hatten verhindern können. Was schrecklich war, aber sie konnten eben nicht alle fangen, bevor sie... Nein, jetzt war Feierabend und er sollte nicht mehr über die Arbeit nachdenken.
Mühsam riss er sich zusammen, atmete tief ein und aus und straffte die Schultern. Es war Freitag, er würde gleich nach Frankreich zu seinem Sandkasten-Freund Antoine fahren und mit ihm seinen Geburtstag feiern. Jonas bemerkte, dass sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen legte. Ein sorgenfreies Wochenende war genau das, was er brauchte, bevor am Montag wieder der ganze Stress auf der Arbeit losging.
Plötzlich klopfte jemand an seine Fensterscheibe und erschrocken zuckte er zusammen. Er sah zur Seite und erkannte Esra, die winkte. Schwach hob er die Hand zum Gruß und öffnete die Autotür. Esra, eine eher kleine und in den letzten Monaten sehr rundlich gewordene Frau mit schwarzen Locken, trat einen Schritt beiseite.
„Hey", begrüßte sie ihn und Jonas zwang sich zu einem Lächeln.
„Hey", sagte er matt, lehnte sich noch einmal ins Auto, um seine Tasche vom Beifahrersitz zu holen und schlug anschließend die Fahrertür zu. Esra grinste ihn an, als wäre heute irgendetwas Tolles passiert, allerdings war er viel zu erschöpft, um sie danach zu fragen.
„Holst du sie schon ab?", fragte Jonas, denn dass Esra hier war, konnte nur eines bedeuten. Nämlich dass er mal wieder viel zu lange gearbeitet hatte und nun keine Zeit mehr war, die er mit seiner Stieftochter verbringen konnte.
Esra lachte leise.
„Ja, es ist halb sieben. Es war so ausgemacht", sagte sie belustigt und erst da fiel ihm wieder ein, dass heute einer der wenigen Tage außer der Reihe war. Normalerweise war Aaliyah mittwochs und jedes zweite Wochenende bei ihnen. Hin und wieder, so wie heute, wenn Esra einen Termin hatte, kam sie auch an anderen Tagen zu ihnen.
„Ja, ja du hast recht. Ich bin total im Stress im Moment", sagte er und setzte sich in Bewegung in Richtung Haus. Esra sagte zum Glück nichts mehr, sondern folgte ihm, bis sie oben an ihrer Wohnung angekommen waren. Er schob den Schlüssel ins Schloss, doch noch bevor er die Tür öffnen konnte, wurde sie von innen aufgerissen und Aaliyah knallte gegen ihn. Erschrocken stolperte er einen Schritt rückwärts, bevor er die Umarmung erwiderte.
„Endlich!", rief sie aus und verstärkte damit nur noch mehr sein schlechtes Gewissen. Er drückte sie noch einmal fest an sich, bevor er sie losließ und zurück in die Wohnung schob.
„Guck mal, wen ich mitgebracht habe", sagte er und erst da schien Aaliyah Esra zu bemerken. Ihre Freude verschwand für eine Sekunde aus ihren Augen, doch dann rannte sie den Flur entlang und bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, dass sie ihr folgen sollten.
„Sie scheint nicht sehr begeistert zu sein, mich zu sehen", sagte Esra leise, ging an ihm vorbei und folgte ihrer Tochter in die Wohnung. Jonas schloss die Tür, zog sich die Schuhe aus und ließ seine Tasche auf den Boden gleiten.
Er fühlte sich vollkommen ausgelaugt und auch wenn er sich auf das Wochenende bei Antoine freute, graute es ihm vor der dreistündigen Autofahrt.
„Hey, da bist du ja", hörte er Matthias sagen und erst da bemerkte er, dass er neben ihm stand. Jonas sah ihn entschuldigend an, trat einen Schritt näher zu ihm und legte für eine Sekunde seine Stirn an seine.
„Ich bin total kaputt", sagte er leise und spürte, wie Matthias ihm sanft in den Arm nahm. Einen Moment lang standen sie einfach nur da, bis Matthias sich von ihm löste.
„Komm, du musst noch deine Sachen packen und Aaliyah fragt schon den ganzen Tag nach dir", sagte Matthias, den Vorwurf nicht einmal mehr verbergend. Jonas schluckte. Ihm war klar, dass Matthias mehr Zeit mit ihm verbringen wollte, aber die Arbeit ließ es einfach nicht zu.
„Ich muss eben im Moment viel arbeiten", sagte er, doch bevor er sich auf die Diskussion richtig einlassen konnte, erschien ein Cupcake vor seinem Gesicht.
„Hier. Der ist für dich", sagte Aaliyah, die ihm das verlockend süß duftende kleine Küchlein direkt unter die Nase hielt.
„Oh, danke", sagte er matt, nahm ihn ihr ab und biss hinein. Erst da wurde ihm bewusst, dass Matthias und sie für ihn die Cupcakes gebacken hatten, weil er zu lange auf der Arbeit festgesessen hatte.
„Danke, dass ihr das alles für mich gemacht habt", sagte er und suchte Matthias Blick, der jedoch bei Esra am Sofa stand und ihr Aaliyahs Schulranzen in die Hand drückte.
„Hausaufgaben hat sie fertig", sagte Matthias, woraufhin Esra nickte.
„Danke, dass ihr eingesprungen seid", sagte sie und obwohl Jonas wusste, dass sie die Worte auch an ihn gerichtet hatte, fühlte er sich nicht wirklich angesprochen. Er schob sich stattdessen den letzten Rest des Cupcakes in den Mund und sah sich nach Aaliyah um. Wenigstens ein paar Minuten wollte er noch mit ihr haben. Sie war nicht im Wohnzimmer, also ging er wieder zurück in den Flur und betrat ihr Zimmer. Tatsächlich saß sie auf ihrem Bett und sortierte die Kuscheltiere darauf. Allerdings entging ihm nicht, dass sie nachdenklich aussah.
„Na du. Hast du dir mit Papa einen schönen Tag gemacht?", fragte er und setzte sich neben sie auf das Bett. Erst da wandte sie ihm den Blick zu.
„Ich will mal wieder einen schönen Tag mit dir haben", sagte sie und blickte ihn aus großen, braunen Augen an, die sein Herz schwer werden ließen. Er brauchte einen Moment, bis er wieder sprechen konnte.
„Nächste Woche, wenn du wieder hier übernachtest, habe ich ganz viel Zeit für dich", versprach er, auch wenn er die letzten Wochenenden immer zu müde gewesen war, um wirklich aufmerksam zu sein. Aaliyah seufzte.
„Das hast du beim letzten Mal auch schon gesagt", erwiderte sie matt, was ihn nur noch mehr zu schaffen machte.
„Du hast recht. Aber dieses Mal verspreche ich es dir hoch und heilig", sagte er und hob zum Schwur eine Hand. Aaliyah grinste.
„Na gut. Wehe wenn nicht!", sagte sie, drückte sich noch einmal fest an ihn. Jonas erwiderte die Umarmung und küsste sie auf den Kopf.
„Hab dich lieb", murmelte er in ihr Haar und spürte, wie schon ein Teil der Anspannung von ihm abfiel.
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