Kapitel 13 - Matthias

Wie in Trance stieg Matthias die Stufen zu seiner Wohnung wieder nach oben. Sicher, er war komischerweise im ersten Moment nicht wirklich angetan von Esras erneuten Schwangerschaft, aber dass so etwas passierte, das hatte er wirklich nicht gewollt. 

Fahrig fuhr er sich durch die Haar, betrat die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Erschöpft lehnte er sich für einen Moment mit dem Rücken dagegen, bis ihn ein leises Klicken aufschrecken ließ. 

Aaliyah hatte ihre Zimmertür einen Spaltbreit geöffnet und blickte mit geweiteten Augen durch die winzige Öffnung. Sofort wurde Matthias übel, denn wie sollte er ihr erklären, was passiert war? Ein dicker Kloß bildete sich in seiner Kehle, sodass ihm nur ein merkwürdiges Geräusch entfuhr, während er sich von der Tür abdrückte und zu ihr ging. 

„Was ist mit Mama?", fragte sie, eindeutig Angst und Sorge in der Stimme. Matthias schob sie an den Schultern zurück in ihr Zimmer und führte sie zu ihrem Bett. Wie in Zeitlupe ließ sie sich darauf nieder, anschließend setzte er sich neben sie. 

„Sie muss zum Arzt, aber es ist bestimmt nichts Schlimmes", sagte, was Aaliyah nicken ließ. 

„Aber sie wird wieder gesund, oder?"

„Ja, sicherlich. Kein Grund zur Sorge, Kleine", erwiderte er, legte den Arm um ihre kleinen Schultern und drückte sie an sich. Ohne zu zögern schlang Aaliyah die Arme um ihr und drückte ihn so fest, dass ihm die Luft wegblieb. 

„Na komm, wir sollten zu ihr ins Krankenhaus fahren. Das würde ihr bestimmt helfen", sagte er und zwang sich zu einem Lächeln. Natürlich machte er sich Sorgen um sie und auch wenn er nicht wirklich derjenige sein sollte, der in diesem Moment bei ihr war, wollte er es für Aaliyah tun. Diese nickte, löste sich von ihm und erhob sich. Matthias entging nicht, dass sie leise schniefte, als sie eilig das Zimmer verließ. 

Augenblicklich wurde seine Brust eng. Wie sollte er ihr nur erklären, was passiert war? Noch einmal holte er tief Luft, dann folgte er Aaliyah. Sie hatte bereits ihre Schuhe angezogen und sah ihn fragend an, so als wäre sie genau so verunsichert wie er selbst. 

„Na komm", sagte er, griff nach ihrer Hand und verließ gemeinsam mit ihr die Wohnung.

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Die Fahrt zum Krankenhaus verlief zu seiner Erleichterung schweigend. Auch wenn ihm selbst tausend Fragen durch den Kopf schossen, war er froh, dass Aaliyah keine gestellt hatte. 

„Papa?", riss sie ihn schließlich aus seinen Gedanken, gerade als er den Motor abstellte. Erschrocken wandte er sich nach hinten zu ihr um. Ihre Hand umklammerte bereits den Türgriff.

„Mh?"

„Kann ich bei dir schlafen, wenn Mama im Krankenhaus bleiben muss?"

Matthias schluckte schwer. Er hielt es für selbstverständlich, aber sie schien sich nicht sicher zu sein, dass sie auch außer der Reihe bei ihm bleiben durfte. 

„Natürlich. Du kannst immer bei mir schlafen, wenn du möchtest", sagte er sanft und lächelte. Aaliyah erwiderte es, dann stieß sie die Tür auf und stieg aus dem Auto. Matthias beeilte sich, ihr zu folgen, nahm sie wieder an die Hand und ging mit ihr gemeinsam in Richtung des Eingangsbereichs des Krankenhauses. 

Komischerweise beruhigte ihn Aaliyahs kleine Hand in seiner, auch wenn es sicherlich andersherum sein sollte. Unwillkürlich drückte er sie ein wenig fester und beschleunigte die Schritte über den unerwartet großen Platz vor dem Krankenhaus, der vereinzelt von Büschen und kleinen Bäumen bestückt war. Einige Patienten drehten hier kleine Runden, wahrscheinlich um nur mal an die frische Luft zu kommen. 

Schließlich betraten sie das Krankenhaus durch eine große Drehtür und augenblicklich schlug ihm der Geruch nach Desinfektionsmittel in die Nase, der ihm eine Gänsehaut bereitete. Er mochte Krankenhäuser nicht, auch wenn sie sicherlich einen wichtigen Zweck erfüllten. 

Eilig ging er zu dem ovalen Empfangstresen und lehnte den freien Arm darauf. Geduldig wartete er, bis die Frau dahinter, eine junge Blonde, sich ihm zuwandte. 

„Ich suche Esra Demirci, sie ist mit dem Krankenwagen abgeholt worden", sagte er und bemerkte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Esra sollte in diesem Moment nicht allein sein. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie sie gerade durchdrehte und sich nach jemandem sehnte, der sie unterstützte. Die Frau richtete den Blick auf den Computer vor ihr und klickte ein paar Mal herum, bis sie sich wieder ihm zuwandte. 

„Sie folgen dem Flur bis zum Aufzug, fahren in den vierten Stock und halten sich rechts. Zimmer 410", sagte sie und deutete mit dem Arm in die Richtung, in die er gehen sollte. 

Matthias bedankte sich und zog Aaliyah den sterilen Flur entlang. Der Linoleumboden quietschte unter seinen Füßen und er war bemüht, den Blick stur geradeaus zu halten. Er ertrug es nur schwer, andere Patienten und deren Leid zu sehen. Stattdessen lauschte er auf Aaliyahs kleine, trippelnde Schritte, bis sie schließlich vor Zimmer 410 standen. 

Noch immer hielt er Aaliyahs Hand fest, als er drei Mal gegen die weiße Tür klopfte. Ohne eine Antwort abzuwarten öffnete er sie und betrat das Zimmer. Er erkannte drei Betten, die ziemlich dicht beieinander standen, nur von zwei verschiebbaren kleinen Schränkchen mit Tisch daran getrennt. 

Esra lag im mittleren, zur Kugel zusammengerollt und stumm weinend. Matthias brach es das Herz, sie so zu sehen und all seine Gemeinheiten und fiesen Bemerkungen, die sicherlich nicht ganz ernst gemeint waren, taten ihm auf einmal leid. Die abfälligen Kommentare zu ihrem Männergeschmack – ihn eingeschlossen – und ihre Unfähigkeit, sich jemanden zu suchen, der sie wirklich gut behandelte. 

„Mama!", rief Aaliyah, genau so panisch und ängstlich, wie er sich fühlte. Wie elektrisiert riss Esra den Kopf herum und breitete die Arme aus. Aaliyah machte sich von Matthias los und kletterte zu ihr ins Bett, bevor sie sie fest umarmte. Esra kniff die Augen fest zusammen, während sie Aaliyah an sich drückte. 

Sofort fühlte Matthias sich unwohl, wusste aber auch, dass er Esra hier nicht allein lassen konnte. Langsam ging er zu ihrem Bett und vermied den Blick in die anderen beiden Betten. Zögernd setzte er sich am Fußende auf die Bettkante und streckte die Hand nach ihr aus. Sanft legte er ihr die Hand auf den Fuß, der unter der Decke lag und drückte sanft zu. 

Erst nach einigen Sekunden ließ sie Aaliyah wieder los, legte den Arm um ihre Mitte und richtete sich mühsam ein wenig auf. Als ihr Blick den seinen traf, erschrak er, denn sie sah vollkommen leer aus. 

„Hey", sagte er, einfach nur um irgendetwas zu sagen. Für eine Sekunde umspielte ein Lächeln ihre Lippen. 

„Aaliyah, willst du dir nicht eine Limo in der Cafeteria holen? Sie ist im Erdgeschoss. Findest du das?", fragte sie, sah aber Matthias eindringlich an. Er verstand den Wink mit dem Zaunpfahl, kramte sein Portemonnaie aus der Hosentasche und reichte Aaliyah einen Fünf-Euro-Schein. 

Etwas unsicher sah sie erst Esra, dann ihn an, nahm aber schließlich das Geld und verschwand ein wenig zögerlich aus dem Zimmer. Kaum dass die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, atmete Esra auf. Matthias drückte noch einmal ihren Fuß, bevor er ein wenig näher an sie heranrutschte. 

„Was haben die Ärzte gesagt?", fragte er, wusste aber nicht so recht, ob er das wirklich wissen wollte. Esra seufzte, streckte die Hand aus und berührte seinen Arm. 

„Sie... sie holen mich gleich ab und...", setzte sie an, unterbrach sich jedoch und wandte den Blick ab, bevor ihr einen Träne über die Wange lief. Matthias fühlte sich mehr als unwohl, wollte sie gleichzeitig aber nicht allein lassen. 

„Es... es wird weggemacht?", fragte er mit viel zu monotoner Stimmer, aber so schaffte er es irgendwie, nicht auch in Tränen auszubrechen. Sicher, es war nicht sein Kind, aber dieser ganze Schlamassel machte ihn mehr als beklommen. 

„Ja. Es ist tot und sie müssen das Gewebe entfernen", sagte Esra, ohne ihn anzusehen, ihre Hand weiterhin auf seinem Arm. Sie sagte es so kalt und emotionslos, dass Matthias ein Keuchen entfuhr. Das Gewebe... Es war ein kleines Kind, auch wenn sie noch ganz am Anfang ihrer Schwangerschaft stand. 

Unwillkürlich erinnerte er sich daran, dass er an eine Abtreibung gedacht hatte, als sie ihm von ihrer zweiten Schwangerschaft mit Aaliyah erzählt hatte. Das schlechte Gewissen nagte noch immer an ihm und ihm war klar geworden, dass man nicht nur Taten bereuen konnte, sondern auch Gedanken. 

Er wusste nicht, was er sagen sollte, also legte er einfach seine Hand auf ihre und drückte sie. Allerdings drängte sich ihm ein Gedanke auf. 

„Was... was ist mit dem Vater? Kommt er?", fragte er, allerdings ließ ihn ihr Blick verstummen. Langsam schüttelte sie den Kopf. 

„Ich habe ihm noch nicht Bescheid gesagt. Ich... ich schaffe das nicht", sagte sie und klammerte sich noch fester an ihn. Matthias nickte und entschied, sie nicht noch mehr aufzuregen. Natürlich hatte sie sich wieder in einen Kerl Hals über Kopf verliebt, der nicht gut zu ihr war und dem sie nicht wirklich vertraute. Aber das würde er ihr sicherlich nicht sagen. 

„Wenn du willst, bleibe ich hier. Ich könnte Aaliyah schnell zu meinem Vater bringen und dann komme ich wieder", schlug er vor, auch wenn er am liebsten aus der Situation fliehen wollte. Aber er konnte nicht. Ja, er liebte Esra nicht mehr, aber durch die Kinder hatten sie schon so viele Jahre miteinander zu tun, dass sie ihm irgendwie ans Herz gewachsen war. Obwohl sie meistens nervte und er gern gegen sie stichelte, war sie ihm auf eine komische Weise wichtig. 

„Okay. Wartest du noch, bis ich abgeholt werde?", fragte sie und lächelte doch tatsächlich.

„Klar doch."

Er setzte sich etwas bequemer hin, umfasste ihre Hand mit seinen beiden und rieb sie ein wenig, denn sie fühlte sich ganz kalt an. 

„Danke", hauchte sie, entzog ihm jedoch ihre Hand. 

„Kannst du kurz nach Aaliyah sehen und sie zurückholen? Nicht, dass sie sich noch verirrt", bat sie und sofort nickte er. 

„Danke", sagte sie noch, dann verschwand er aus dem Zimmer.

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