Kapitel 10 - Jonas

Antoine war nun schon eine halbe Stunde im Bad verschwunden, um sich fertig zu machen. Innerlich grinste Jonas, denn sein Kumpel war genau so eitel wie er selbst. Er wartete im Wohnzimmer auf dem Sofa und tippte gerade eine Nachricht an Matthias. 

„Antoine und ich treffen gleich die anderen im L'Affaire. Was machst du an deinem freien Abend?", schrieb er und starrte auf das Display. Allerdings schien Matthias gerade ziemlich beschäftigt zu sein, denn er las noch nicht einmal seine Nachricht. Oder er war eingeschlafen, das war auch möglich. 

Nach ein paar Minuten schob er sein Handy zurück in seine Hosentasche, erhob sich und ging in das Gästezimmer, das direkt neben dem Wohnzimmer lag. Hier würde er heute Nacht schlafen und sein Rucksack lag bereits auf dem Bett. 

Seufzend zog er den Reißverschluss auf und kramte nach seinen Kontaktlinsen. Hoffentlich hatten seine Augen sich wieder beruhigt und er konnte sie wieder tragen. Als er sie schließlich zwischen den Socken gefunden hatte, ging er ins kleine Gästebad und betrachtete sich im Spiegel. 

Tatsächlich sah er gar nicht so schlecht aus, abgesehen von den Ringen unter den Augen, die dem ganzen Stress auf der Arbeit geschuldet waren. Er nahm seine schwarze, schmale Brille ab, an die er sich einfach nicht gewöhnen konnte und wollte und legte sie auf den Rand des Waschbeckens. Anschließend öffnete er das kleine Döschen, in dem sich die Linsen befanden und setzte sie vorsichtig ein. 

Unwillkürlich musste er daran denken, wie unbehaglich Matthias sich immer fühlte, wenn er ihn dabei beobachtete, wie er in seinem Augen herumstocherte, wie er es nannte. Ein Grinsen legte sich auf seine Lippen, gleichzeitig vermisste er seinen Freund. Bald waren sie schon seit zehn Jahren ein Paar. Die Zeit war so schnell vorbeigegangen und er erinnerte sich noch ganz genau daran, wie sie sich damals in der Disko kennengelernt hatten. Zehn Jahre Beziehung waren doch wirklich ein Zeichen dafür, dass man den Rest des Lebens miteinander verbringen wollte. Was hinderte sie also daran, den letzten Schritt zu gehen? 

Resigniert seufzte Jonas. Auf diese Frage gab es leider eine eindeutige Antwort: Weil Matthias aus Prinzip nicht heiraten wollte. Eilig verdrängte Jonas den Gedanken, denn er schmerzte. Sicherlich war er sich Matthias Liebe zu sich nur allzu sicher, aber schon immer hatte er von einer Hochzeit geträumt. Es machte alles irgendwie offizieller und er stellte es sich schön vor, von seinem Mann zu sprechen anstatt nur von seinem Freund. Das klang doch so, als wäre es nichts Ernstes. 

„Jonas?", rief Antoine, der anscheinend endlich aus dem Bad gekommen war. 

„Ich bin hier", sagte er, wandte sich um und verließ das kleine Bad. Als er in den Flur trat, sah er Antoine, der gerade noch einmal einen Blick in den Spiegel warf, der neben der Garderobe hing. 

„Du bist wirklich eitel", lachte Jonas, wofür er sich einen genervten Blick einhandelte. 

„Das sagt der Richtige. Na komm, die anderen warten bestimmt schon", erwiderte er, bedeutete ihm mit einer Handbewegung, dass er ihm folgen sollte und öffnete die Haustür. Jonas warf ebenso wie Antoine noch einmal einen letzten Blick in den Spiegel, anschließend verließen sie das Haus. 

„Raphael nimmt uns mit", sagte er und erst da wurde Jonas bewusst, dass es hier gar keinen Bus gab, der sie nach Creutzwald bringen würde. Tatsächlich war er es gar nicht mehr gewöhnt, dass hier keine Busse oder Bahnen fuhren wie bei ihm zu Hause. Gemeinsam gingen sie die asphaltierte Straße entlang, einen abgetrennten Bürgersteig gab es nicht. 

„Ich vermisse es wirklich, hier zu sein. Es ist so anders, als bei mir zu Hause", sagte Jonas und fühlte sich auf einmal wehmütig. So viele Erinnerungen kamen in ihm hoch und nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn er nicht nach Deutschland zum Studieren gegangen wäre, sondern vielleicht wie Antoine nach Paris. Würde er dann vielleicht hier in Villing leben? Ein Seufzen entfuhr ihm.

„Was ist denn anders?", fragte Antoine und er spürte seinen musternden Blick auf sich. Jonas legte den Kopf in den Nacken, um die Tränen zurückzuhalten. 

„Oberirdische Stromleitungen", rutschte es ihm heraus, denn genau diese erblickte er in diesem Moment. Antoine prustete. 

„Und es fühlt sich einfach anders an. Es ist viel ruhiger, idyllischer und... ich weiß auch nicht, wie ich es beschreiben soll", sagte er, blinzelte die Tränen weg und konzentrierte sich wieder aufs Hier und Jetzt. 

„Im Herzen bist du eben doch einer von uns", sagte Antoine und klopfte ihm auf die Schulter. Jonas stieß einen unbehaglichen Laut aus, denn während der Schulzeit war er immer „der Deutsche" gewesen, während er in Deutschland immer „der Franzose" war. Aber ja, Antoine hatte schon recht. Er fühlte sich hier mehr zu Hause als in Deutschland. 

„Ich muss dich einfach öfter besuchen kommen", schloss Jonas und beschleunigte seine Schritte, als er am Ende der Straße bereits das Haus entdeckte, in dem Raphael wohnte. 

„Hey!", rief Antoine gedehnt und hob die Hand über den Kopf zum Gruß. Erst da erkannte Jonas, dass Raphael bereits in seinem alten blauen Fiat saß und auf sie wartete. Die Fahrertür stand offen und als er sie bemerkte, stieg er aus und winkte. Sie gingen die letzten Meter bis zu ihrem Freund und begrüßten ihn freudestrahlend. 

„Jonas, lang nicht mehr gesehen!", rief Raphael, ein eher plumper Kerl mit blond-grauem Haar und blauen Augen. Jonas umarmte ihn, doch schon nach ein paar Sekunden löste Raphael sich von ihm und stieg wieder in sein Auto. 

„Macht schon, ihr seid spät dran", mahnte er woraufhin Antoine und Jonas sich einen belustigten Blick zuwarfen. Raphael war schon immer überpünktlich gewesen und wenn man nicht mindestens zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit da war, bekam er schlechte Laune. 

Jonas setzte sich auf die Rückbank, während Antoine auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Kaum dass die Autotür geschlossen war, rauschte Raphael los. 

„Danke fürs Fahren", sagte Jonas, denn auch wenn er nichts trinken würde, war er froh, nach der langen Fahrt heute nicht noch zum L'Affaire fahren zu müssen. 

„Kein Problem, ich bin sowieso zu alt, um mich abzuschießen", sagte Raphael, der nicht nur wegen seinen grauen Haaren bereits älter wirkte als er selbst oder auch Antoine. Obwohl, wahrscheinlich waren Antoine und er einfach nur jung geblieben. 

Sie fuhren über die Landstraße bis nach Creutzwald, dem nächsten etwas größeren Ort. Auf einmal freute Jonas sich, einfach mal alles zu vergessen und sich der Musik hingeben zu können. Den ganzen Stress auf der Arbeit hinter sich zu lassen, den vorwurfsvollen Blick von Aaliyah, für die er viel zu wenig Zeit hatte und Matthias Flehen, sich nicht zu überarbeiten. Ja, heute Abend würde er all das vergessen und einfach nur Spaß mit seinen Freunden haben. 

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