Kapitel 99 - Sheila

Sheila fühlte sich taub. Als wäre ihr ganzer Körper nur eine Hülle, die gar nicht zu ihr gehörte. Wer weiß, ob es überhaupt von mir ist. Immer wieder spielte ihre Erinnerung diesen Satz ab und mit jedem Mal riss er ihr Herz in Stücke. 

Hatte er das ernst gemeint? Sein Blick war so feindselig und hasserfüllt, er musste es ernst gemeint haben. Anscheinend glaubte er wirklich, dass sie mit einem anderen Mann geschlafen hatte. Er vertraute ihr nicht und das tat unendlich weh. Zwar war er betrunken gewesen, doch man sagte nie etwas, ohne zumindest an einen Funken Wahrheit darin zu glauben. 

Obwohl sie unendlich verletzt war, kam sie sich heuchlerisch vor. Sie selbst hatte ihn doch gefragt, ob er mit Karima geschlafen hatte. Sie war kein Stück besser als er. 

Sheila ließ schon seit einer gefühlten Ewigkeit kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen, doch es half einfach nicht. Ihre Gedanken hörten nicht auf, sie zu verwirren und ihr Angst zu machen. Es war ein ewiges Hin und Her in ihrem Kopf und sie schaffte es nicht, die Gedanken zum Schweigen zu bringen. 

Was sollte sie tun, wenn Jonathan ihr nicht glaubte? Wenn er zu sehr verletzt war und sie sein Vertrauen verloren hatte? Wenn er sie verließ? Wenn er nie wieder ein Wort mit ihr würde wechseln wollen? Gleichzeitig schrie eine Stimme in ihrem Kopf sie an, dass sie es verdient hatte, allein zu sein. Was sie mit Leonard getan hatte, war falsch und sie bereute es. 

Aber da war auch noch eine andere Stimme, die sie schon sehr lange nicht mehr gehört hatte. Beinahe hätte sie vergessen, wie sie klang, doch auch nach all den Jahren war sie noch nicht verschwunden. Wenn Jonathan sie verließ, wie sollte sie dann weiterleben? 

Schon lange nicht mehr gesehene, aber doch vertraute Bilder blitzten vor ihrem inneren Auge auf. Bilder von ihr, leblos. Es gab so viele Möglichkeiten, wie sie ihrem jämmerlichen Dasein ein Ende bereiten könnte. 

Sheila bekam Panik. Nein! Sie versuchte, diese Bilder zu verdrängen. Sie wollte nicht, dass sie an so etwas dachte, doch ihr Hirn war offensichtlich anderer Meinung. Sie stellte das Wasser ab und trocknete sich die Hände ab. Würde sie nur hier herumstehen, würden die Gedanken die Oberhand gewinnen. Zwar war ihr durchaus bewusst, dass zwischen Gedanken und Taten eine große Kluft war, doch sie wollte sich nicht von den Gedanken lähmen lassen. Nicht schon wieder. 

„Du hast schon Schlimmeres überlebt. Er kommt gleich zurück und du erklärst es ihm", murmelte sie vor sich hin, aber es half nicht. Sie hatte doch schon so lange keine Gedanken mehr gehabt, die schädlich waren. Beziehungsweise sie schmerzlich daran erinnerten, wie sie einmal gewesen war. Übersät von Wunden und ein psychisches Wrack, das alles dafür getan hätte, einen Mann wie Jonathan zu haben. Nun hatte sie ihn und diese Gedanken kamen wieder? 

Sheila spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen und eilig rannte sie ins Wohnzimmer. Sie musste irgendetwas finden, das sie ablenkte, doch was? Unruhig wanderte ihr Blick durch das Zimmer, doch nichts schien einen Reiz auszulösen, der die Stimmen in ihrem Kopf überdecken konnte. Sie ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Es war noch immer Alkohol da, aber das wäre wirklich keine gute Idee. Stattdessen öffnete sie das Eisfach und nahm einen Eiswürfel heraus, den sie über ihre Haut gleiten ließ. Sie kühlte ihre Wangen, dann ihre Arme. 

Immer wieder redete sie sich zu, dass Jonathan jeden Moment nach Hause kam und sich alles klären würde. Es musste einfach wieder gut werden. Sie konnte nicht erwarten, dass er ihr verzieh und alles vergeben und vergessen war, doch sie musste sicher sein können, dass er sie nicht verließ. Dass er ihr glaubte, wie es wirklich abgelaufen war. 

Ihre Füße trugen sie in den Flur, wo sie sich auf die Treppe setzte. Sie lag direkt neben der Tür, sodass sie sofort mitbekam, wenn Jonathan ankommen würde. Erschöpft lehnte sie sich gegen die Wand, schloss die Augen und ließ weiter den Eiswürfel über ihre Haut gleiten. Tatsächlich schaffte sie es einigermaßen, sich auf die Kühle auf ihrer Haut zu konzentrieren, sodass zumindest die wirklich schlimmen Gedanken verschwanden. Oder besser gesagt in den hintersten Teil ihrer selbst zurückgedrängt wurden, wo sie herkamen. 

Allmählich schmolz der Eiswürfel, aber sie glaubte, dass sie es ohne einen neuen schaffen würde, bis Jonathan zu Hause war. Sicherlich würde er jeden Moment kommen. Zwar konnte sie gar nicht einschätzen, wie lange sein Anruf schon her war, doch sie nahm nicht an, dass er sehr weit weg gefahren war. Immerhin hatte er nichts dabei und seine Eltern würden heute Nachmittag kommen, wenn er ihnen nicht abgesagt hatte. 

Kaum dass sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, hörte sie ein Auto. Sie sprang wie von der Tarantel gestochen auf und öffnete die Tür. Ihr Herz schien ihr aus der Brust springen zu wollen, als sie sein Auto erkannte. Er war wirklich zurückgekommen. Sie wagte es nicht, zu ihm zu laufen, auch wenn sie das am liebsten getan hätte. Wahrscheinlich war er wütend, doch dieses Mal zurecht.

 Sie wusste nicht, ob sie genau so reagiert hätte wie er, aber sie wäre auch sauer, wenn eine andere ihre Hand an Stellen legte, wo sie eindeutig nichts zu suchen hatte. Sheila beobachtete, wie er ausstieg. Quälend langsam und mit gesenktem Blick kam er zur Tür und schnell trat sie beiseite, damit er hereinkommen konnte. 

Sie schloss langsam die Tür hinter ihm und er ließ es zu. Das beruhigte sie, denn das zeigte ihr, dass er nicht vorhatte sofort wieder abzuhauen, ohne ihr zuzuhören. Noch immer hatte er sie nicht angesehen, obwohl sie versuchte, seinen Blick aufzufangen. 

Eine ganze Weile standen sie einfach nur da und Sheila war unschlüssig, was sie tun sollte. Sie wagte es nicht, ihn zu berühren, denn vielleicht würde er ihre Hand wegschlagen oder ihr etwas Gemeines an den Kopf werfen und das würde sie im Moment nicht verkraften. Wahrscheinlich würde dann auch kein Eiswürfel mehr helfen. 

Endlich hob Jonathan den Blick und sah sie gequält an. Zwar sah er ihr nicht direkt in die Augen, aber so war es immerhin besser, als wenn er die ganze Zeit auf den Boden starrte. 

„Willst du... ich meine... sollen wir uns hinsetzen?", fragte er und Sheila hätte beinahe losgelacht. Seine Stimme klang so vertraut normal, nicht abweisend oder feindselig. Nur unsicher. 

„Ja", brachte sie mit kratziger Stimme hervor und ging langsam in Richtung Wohnzimmer. Immer wieder warf sie einen Blick über die Schulter, ob er ihr noch folgte. Sheila spürte den Drang, ihn zu umarmen oder einfach nur zu berühren, um sicher zu gehen, dass sie das hier nicht träumte, doch er hielt einen gewissen Abstand zu ihr. 

Sie setzte sich ganz an den Rand auf das Sofa, sodass er ein ganzes Stück zwischen ihr und ihm frei lassen konnte, wenn er wollte. Tatsächlich ließ er sich am anderen Ende nieder, stützte die Ellbogen auf die Knie und seufzte. Sheila schluckte einen Kloß in ihrer Kehle hinunter, denn sie würde gleich etwas Unangenehmes beichten müssen. Wie so oft wünschte sie sich, dass er in ihren Kopf gucken konnte, damit sie es nicht erklären musste. Jonathan drehte den Kopf und musterte sie. Sein Blick war vorwurfsvoll, doch gleichzeitig ein ganz kleines bisschen sanft. 

„Ich höre", sagte er nur und sah sie weiter an. Sheila räusperte sich, doch bevor sie sprach streckte sie wie automatisiert ihre Hand nach ihm aus. Sie konnte ihn nicht erreichen, er saß zu weit weg, also rutschte sie ein Stück näher an ihn heran und strich ihm einmal zögerlich über den Arm. Er fühlte sich so vertraut an, dass ihr Herz sich schmerzhaft zusammenzog. Er ignorierte ihre Berührung und es war eindeutig, dass er wissen wollte, was passiert war. 

Sheila holte tief Luft, umklammerte sich selbst, damit sie nicht auseinanderbrach und erzählte ihm alles. Sie ließ nichts aus, nicht Leonards Blicke, von denen sie genau gewusst hatte, dass sie mehr als freundschaftlich waren. Wie er sie am Bauch gestreichelt hatte und wie sie überlegt hatte, ihn dann einfach wegzuschieben. Jonathan versteifte sich sichtlich, als sie von ihrem Fehler berichtete, wie sie die Hose aufgeknöpft hatte. Er unterbrach sie kein einziges Mal, aber als sie geendet hatte, schnaubte er und ein ungläubiges Lächeln legte sich auf seine Lippen. 

Sheilas Herz pochte so fest gegen ihre Rippen, dass er es hören musste und ihre Wangen wurden heiß. Er war wütend, dass sie es zugelassen hatte, von Leonard so berührt zu werden, das konnte sie an seinem Blick erkennen. Doch was er dachte, wie er nun weitermachen wollte, konnte sie nicht erkennen. Seine Augen wanderten unruhig hin und her, als würde er scharf über etwas nachdenken. Mit jeder weiteren Sekunde verlor Sheila mehr Hoffnung, dass er ihr verzeihen würde, doch dann sah er sie plötzlich forschend an. 

„Hast du Gefühle für ihn?", fragte er und schnell schüttelte sie den Kopf. 

„Ist noch mehr zwischen euch passiert? Nicht nur gestern, sondern irgendwann anders?", fragte er weiter und wieder schüttelte sie den Kopf. Langsam nickte Jonathan, dann seufzte er. 

„Wirst du ihn treffen, wenn ich weg bin?", fragte er und für einen Moment bekam sie Panik. 

„Was meinst du damit, wenn du weg bist?", fragte sie, denn wenn er für immer weg bleiben wollte, würde sie das nicht überstehen. Jonathan zog verwirrt die Augenbrauen zusammen, doch dann sah er sie überrascht an. 

„Ich meine in meiner Auszeit. Nicht... Ich will nicht, dass es zwischen uns vorbei ist", sagte er. Sheila brauchte ein paar Sekunden, bis sie begriff, was er da gesagt hatte. 

„Du willst mit mir zusammen bleiben?", wollte sie wissen und als er nickte, fühlte es sich an, als würde eine riesige Last von ihr abfallen. Nicht erst einmal hatte er Dinge gesagt, die etwas anderes vermuten ließen. Doch sie klammerte sich viel mehr an seine Worte, die er nicht in einem Streit sagte oder wenn er betrunken war. Er hatte sie abgewägt und so schienen seine Gefühle zu sein. 

„Vorausgesetzt du willst das auch", sagte er, doch es klang mehr wie eine Frage. Sheila schlug die Hand vor den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Wie konnte er nur glauben, dass sie nicht mehr mit ihm zusammen sein wollte? Sie brachte nur ein Nicken zustande, dann schloss sie die Lücke zwischen ihnen, aber sie hielt im letzten Moment inne. Doch Jonathan breitete zaghaft die Arme aus, zweifelsfrei ein Zeichen, dass er sie auch umarmen wollte. Sie kletterte ungelenk auf seinen Schoß, schlang die Arme um seinen Hals und vergrub das Gesicht an seiner Schulter. 

„Es tut mir so leid. Ich weiß wirklich nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Das war blöd und wünschte, ich könnte es rückgängig machen", nuschelte sie und spürte, dass er nickte. 

„Schon okay. Mir tut es leid, was ich gestern Abend zu dir gesagt habe. Das war wirklich nicht in Ordnung", entschuldigte er sich ebenfalls und nun nickte sie. Noch vor einer halben Stunde wäre sie fast verrückt geworden, doch nun schien ihr alles, was er je Gemeines zu ihr gesagt hatte unwichtig. Er war hier und er wollte bei ihr bleiben, das war das, was zählte. Eine ganze Weile saßen sie eng umschlungen da, bis er er sich von ihr löste und seine Hand an ihre Wange legte. 

„Bist du in Ordnung? Ich hätte dich nicht einfach so stehen lassen sollen, als du mich angefleht hast, zu bleiben", sagte er und sein Blick war voller Sorge. Schon lange hatte er sie nicht mehr so angesehen. In der letzten Zeit war immer eine Spur Wut und Frustration mit in seinem Blick gewesen. 

„Jetzt ja. Bevor du zurückgekommen bist, war es schlimm mit meinen Gedanken", antwortete sie und hoffte, dass er es nicht genauer wissen wollte. 

„Das tut mir leid. Aber wie ist es denn jetzt?", hakte er nach und Sheila seufzte. Gute Frage. Aufgewühlt war sie noch immer, doch die zerstörerischen, kranken Gedanken waren nicht mehr da. 

„Schon okay. Aber was ist mit dir?", fragte sie nach, denn auch ihm musste es zumindest gestern Abend wirklich mies gegangen sein. 

„Schon okay", wiederholte er, dann grinste er. Erleichtert lachte sie, doch sie senkte den Blick. Es war ein gutes Zeichen, wenn er Scherze machte, oder? 

„Und jetzt?", fragte er dann und Sheila sah ihm wieder in die blauen Augen. Sheila überlegte. Sie würde in ein paar Stunden zur Arbeit müssen und wirklich geschlafen hatte sie noch nicht und sie war sich ziemlich sicher, dass es ihm genau so ging. 

„Wie wäre es mit ein bisschen Schlaf?", schlug sie vor und er nickte sofort. 

„Klingt nach einem Plan", erwiderte er, dann schob er sie sanft von seinem Schoß herunter. Sofort fühlte es sich kalt an und sie griff nach seiner Hand, als er ebenfalls aufgestanden war. 

„Geh doch schon mal hoch. Ich muss mich waschen", sagte er und schüttelte sich, als würde er sich vor sich selbst ekeln. Sheila kicherte, doch eine kleine Stimme in ihrem Kopf machte sich Sorgen, dass er klammheimlich abhauen würde. 

„Ich beeile mich", beantwortete er ihren Gedanken, dann drückte er ihre Hand, bevor er sie losließ und in Richtung Bad verschwand. Sheila sah ihm noch nach, bis er die Badezimmertür geschlossen hatte, erst dann ging sie nach oben ins Schlafzimmer. 

Sie stellte sich den Wecker, dann schlüpfte sie aus den Klamotten von gestern, die sie noch immer trug und zog ihren Schlafanzug an. Obwohl sie es sich genau so gewünscht hatte, konnte sie nun doch noch nicht so recht glauben, dass sie sich wieder vertragen hatten. 

Sie wartete geduldig, bis Jonathan zu ihr nach oben ins Schlafzimmer kam und sich zu ihr ins Bett legte. Als wäre nichts passiert streckte er die Arme nach ihr aus und sie schmiegte sich an ihn. 

„Was hältst du davon, wenn ich meine Eltern gleich anrufe und sie frage, ob sie nicht auch nächste Woche vorbei kommen können?", murmelte er in ihr Haar, doch Sheila war zu müde, um logisch zu denken. 

„Wie du willst", antwortete sie, dann spürte sie eine Bewegung, doch sie nickte ein, bevor sie mitbekam, was Jonathan tat. 

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