Kapitel 97 - Sheila
Sheila hatte sich noch lange mit Esra unterhalten und ihren Bruder ausgeblendet, der im Wohnzimmer saß und sich betrank. Doch allmählich gingen die ersten Leute und auch Esra verabschiedete sich. Sheila umarmte sie fest, bevor sie verschwand.
Jonathan war nirgends zu sehen, doch als sie sich vor ein oder zwei Stunden das letzte Mal unterhalten hatten, lallte er nur noch. Kurz war sie wütend gewesen, denn eigentlich hatte er versprochen, sich nicht zu betrinken, doch Sheila hatte es einfach hingenommen. Es hatte keinen Sinn, sich darüber aufzuregen, denn nun war es ohnehin schon zu spät.
Sie ging zurück zu dem Stuhl, auf dem sie vorhin gesessen hatte, doch kurzentschlossen setzte sie sich neben Leonard. Er wirkte bedrückt, was untypisch für ihn war.
„Was ist los?", fragte sie und stupste ihn an der Schulter an. Er seufzte herzzerreißend, doch dann hob er den Blick und sah sie an.
„Es schmerzt, Esra so unbeschwert zu sehen. Nicht, dass ich will, dass sie unglücklich ist. Aber es scheint ihr gar nichts auszumachen, dass es mit uns nicht geklappt hat", sagte er und Sheila legte ihm tröstend die Hand auf den Arm. Tatsächlich hatte Esra Leonard mit keinem einzigen Wort erwähnt, doch das würde sie ihm nicht sagen. Sie wusste keine passende Erwiderung, also sah sie ihn nur mitleidig an.
„Jetzt guck doch nicht so. Ich komme wir vor wie der größte Idiot", beschwerte er sich, was Sheila zum Lachen brachte.
„Du bist ja auch ein Idiot. Trauer ihr doch nicht nach. Sie hat dir direkt gesagt, dass es nicht passt zwischen euch. Ist doch besser, als wenn sie noch mit deinen Gefühlen gespielt hätte", versuchte sie ihn aufzubauen, doch sie wusste gleichzeitig, dass Esra so etwas niemals getan hätte. Sie war zwar eher schüchtern, aber bei solchen Dingen offen und direkt. Wenn sie jemanden nicht mochte oder seine Gefühle nicht erwiderte, dann sagte sie es.
„Na das macht mir ja Mut", sagte er und lachte trocken auf. Sheila durchforstete verzweifelt ihr Hirn, doch bevor sie sich etwas einfallen lassen konnte, kamen Karl und Laura auf sie zu.
„Wir machen uns dann auch auf den Weg", sagte Laura und schnell sprang Sheila auf, um sie zu verabschieden. Suchend sah sie sich nach Jonathan um, doch unter den noch wenigen Gästen war er nicht zu finden.
„Er ist drinnen und pennt. Er hat ganz schön viel getrunken", sagte Karl, der ihren suchenden Blick richtig deutete. Innerlich stöhnte Sheila, denn es war unhöflich, sich einfach hinzulegen. Sie verabschiedete die beiden und auch die anderen Gäste, die noch da waren, gingen. Sheila kannte sie nicht, doch sie war erleichtert, als alle gegangen waren. Nur Leonard war noch hier draußen mit ihr.
„Ich sehe mal kurz nach Jonathan, okay?", fragte sie ihn und er nickte.
„Kommst du wieder?", fragte er und Sheila spürte, wie er ihren Blick suchte. Schnell nickte sie, doch dann machte sie sich auf den Weg nach drinnen. Leonard brauchte anscheinend jemanden, mit der er über seinen Herzschmerz sprechen konnte und Sheila half ihm gerne. Denn er hatte ihr genau so sehr geholfen, als sie auf den Acker gefahren war und Jonathan sie allein gelassen hatte.
Sie lief nach drinnen ins Wohnzimmer, wo sie Oskar und Matthias aneinandergequescht auf dem Sofa liegen sah. Mehrere leere Flaschen lagen auf dem Boden und sie schliefen beide tief und fest. Jonas und Johnny waren beide nicht mehr zu finden, also waren sie ohne die beiden gegangen.
Sheila ging weiter nach oben und dann ins Schlafzimmer, wo sie Jonathan vermutete. Tatsächlich lag er noch in seinen Klamotten im Bett. Er lag auf dem Bauch, alle Viere von sich gestreckt und schnarchte leise vor sich hin. Sheila ging zu ihm und strich ihm durchs Haar und küsste ihn auf die Wange, doch er regte sich nicht.
Sie beschloss, ihn einfach schlafen zu lassen und sie ging wieder nach unten zu Leonard. Seufzend ließ sie sich auf den Stuhl fallen.
„Die pennen alle", berichtete sie und Leonard grinste.
„Sollen wir ein wenig aufräumen?", fragte er dann und Sheila ließ den Blick über die Terrasse schweifen. Überall standen leere Flaschen herum und auch Pappteller lagen verstreut auf dem Boden.
„Ja, klingt nach einer Idee", stimmte sie zu. Leonard stand auf und hielt ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Dankend nahm sie sie und ließ sich von ihm auf die Beine ziehen. Eine Sekunde lang hielt er ihre Hand noch fest, doch dann ließ er sie los und machte sich daran, die übrige Pizza in einen Karton zu legen. Sheila faltete die leeren Kartons zusammen und brachte sie in die Mülltonne.
„Morgen zum Frühstück gibt's Pizza, schätze ich", lachte Leonard und Sheila erwiderte das Lachen.
„Stimmt. Vorausgesetzt du lässt noch etwas übrig", erwiderte sie, denn genau in diesem Moment biss er von einem Stück einen riesigen Bissen ab. Leonard aß das Stück auf, doch dann machte er sich daran, die leeren Flaschen einzusammeln und in die Küche zu bringen. Zu zweit ging es ziemlich schnell und nachdem sie zumindest draußen alles aufgeräumt hatten, setzte Sheila sich erschöpft auf die Treppe, die von der Veranda hinunter auf die Terrasse führte.
Es war stockdunkel und es drang nur ein wenig Licht aus der Küche nach draußen. Für einen Moment schloss sie die Augen und lauschte. Sie hörte, wie Leonard sich neben sie setzte und seufzte. Sheila schlug die Augen wieder auf und sah ihn an. Noch immer sah er traurig aus, doch bevor sie ihn fragen konnte, ob er reden wollte, wurden sie unterbrochen. Oskar stand im Türrahmen, einen Arm um Matthias gelegt und stützte ihn.
„Sheila", sagte Oskar und sie wandte sich zu den beiden um.
„Wo ist Jonas?", fragte Oskar, doch Sheila sah ihn nur mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Er ist gefahren", antwortete sie, was Oskar schnauben ließ.
„Er hat ihn hier allein gelassen?", fragte Oskar ungläubig und Sheila nickte.
„Ich hätte ihn auch hier gelassen. Er kann sich ruhig aufs Sofa legen und weiter schlafen, ich bringe ihn morgen früh nach Hause", sagte sie und wandte sich wieder Leonard zu, der die beiden jedoch ebenfalls musterte.
„Nein, er sollte jetzt gehen. Ich bringe ihn", erwiderte Oskar, doch Sheila schüttelte den Kopf.
„Du kannst noch nicht fahren. Und ich bin mir sicher, dass Jonas ihn so nicht bei sich haben will. Lass ihn auf dem Sofa weiterschlafen", sagte sie bestimmt, doch da öffnete Matthias sie Augen.
„Nach Hause... muss ihm sagen...", murmelte er, brach aber ab und stützte sich noch mehr auf Oskar, der kurz wankte.
„Ich bringe ihn zu Fuß. Du willst ja anscheinend hier bleiben. Bei ihm", sagte Oskar und machte eine abwertende Kopfbewegung in Leonards Richtung. Sheila wollte aufspringen, doch Leonard hielt sie am Arm fest.
„Er hätte sich ja nicht so volllaufen lassen müssen. Außerdem könnte er auch mal etwas netter zu den Leuten um sich herum sein", fauchte sie und auf einmal war sie dankbar, dass Leonard sie zurückhielt, denn sonst wäre sie auf Oskar losgegangen. Er wusste doch gar nicht, wie Matthias zu ihr gewesen war.
„Wie auch immer. Er macht vielleicht gerade einiges durch und du behandelst ihn so?", fuhr Oskar sie an, aber Sheila winkte ab. Es hatte generell schon wenig Sinn mit Oskar zu diskutieren und noch weniger, wenn er betrunken war.
„Dann geht doch", sagte sie ruhiger, dann setzte sie sich wieder auf die Stufe neben Leonard, der noch immer ihren Arm festhielt, als befürchtete er, sie würde wieder aufspringen. Sie hörte, wie Oskar und Matthias davongingen und kurze Zeit später wurde die Haustür zugeknallt. Leonard zuckte zusammen und ließ endlich ihren Arm los.
„Oskar ist manchmal so ein Arsch", beschwerte sie sich, doch allmählich verschwand ihre Wut auf ihn.
„Scheint so", gab Leonard zurück und stupste sie mit dem Knie an.
„Aber wer ist nicht mal ein Arsch?", fragte er und Sheila nickte.
„Stimmt. Du warst bisher noch kein Arsch", sagte sie und warf ihm ein Lächeln zu. Er lachte leise in sich hinein.
„Naja, Rebecca würde das sicher anders sehen", sagte er und sein Blick wanderte in die Ferne. Rebecca war seine Verlobte gewesen, doch sie hatten sich schon vor einigen Jahren getrennt.
„Denkst du noch an sie?", wollte Sheila wissen, obwohl ihn sein sehnsüchtiges Seufzen schon verriet.
„Ach, ich dachte wirklich, sie ist die Eine. Aber anscheinend habe ich mich getäuscht", sagte er und Sheila warf ihm einen mitleidigen Blick zu.
„Vielleicht war sie es auch nicht", versuchte sie ihn aufzumuntern und tatsächlich straffte er die Schultern und drehte sich ein wenig herum, sodass er sich mit dem Rücken ans Treppengeländer lehnen und sie ansehen konnte.
„Vielleicht nicht, nein", stimmte er zu, dann ruhte sein Blick auf ihr. Sheila sah nach unten, denn es war ihr ein wenig unangenehm wenn er sie so ansah.
„Glaubst du, Jonathan ist der Richtige für dich?", fragte er und sofort hob Sheila den Blick und sah ihm in die braunen Augen.
„Ja, schon", antwortete sie und unwillkürlich schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Leonard jedoch sah beinahe ein wenig enttäuscht aus.
„Er scheint dich nicht wirklich gut zu behandeln in den letzten Wochen", stellte er fest, doch Sheila zuckte die Schultern.
„Naja, wir streiten oft, aber das geht schon wieder vorbei", sagte sie und hoffte wirklich, dass Jonathan nächste Woche den Kopf frei bekam und wieder alles wie früher wurde.
„Und wenn nicht?", hakte er nach, doch Sheila sah ihn nur mit zusammengezogenen Augenbrauen an.
„Wieso sollte es nicht wieder gut werden?", stellte sie die Gegenfrage.
„Menschen verändern sich manchmal", erwiderte er und Sheila musste daran denken, dass ihr Vater ihr genau das Gleiche gesagt hatte.
„Nein, das glaube ich nicht", gab sie zurück, doch es gab ihr schon zu denken, dass nun schon zwei Leute von denen sie glaubte, dass sie ihr keinen Blödsinn erzählten, das Gleiche gesagt hatten.
„Ich will ja auch nicht, dass er so schlecht gelaunt bleibt. Was ich sagen will ist, dass du dich nicht unnötig lange an ihn klammern sollst, wenn er dich schlecht behandelt", erklärte er und Sheila nickte.
„Mache ich nicht", sagte sie, aber anscheinend glaubte Leonard ihr nicht, das sah sie an seinem Blick. Er blieb allerdings stumm und sah sie wieder eindringlich an. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er die Hand nach ihr ausstreckte. Er berührte mit dem Finger sanft ihr Piercing in der Augenbraue.
„Das ist ziemlich cool", sagte er und ließ die Hand wieder sinken. Sheila lachte leise, doch seine Berührung brannte heiß auf ihrer Haut.
„Danke", sagte sie und fasste selbst unwillkürlich an den Stecker.
„Hast du noch mehr?", fragte er und schnell nickte sie. Neugierig sah er sie an. Sheila streckte ihm grinsend die Zunge raus und zeigte ihm so ihr Zungenpiercing, obwohl sie sich ziemlich sicher war, dass er es schon einmal gesehen hatte. Leonard rutschte näher an sie heran, um es zu betrachten.
Nach ein paar Sekunden schloss sie den Mund wieder und strich sich das Haar hinters Ohr. Wieder streckte er die Hand aus und berührte jeden ihrer Ohrringe. Sheila spürte, wie sie rot wurde, denn es fühlte sich irgendwie intim an. Nicht, dass sie Leonard nah sein oder ihn küssen wollte, doch es fühlte sich schön an. Wahrscheinlich gingen einfach nur die Hormone mit ihr durch.
„Dann habe ich noch eins hier", fuhr sie fort und hob ihr T-Shirt an. Leonards Hand streifte sanft ihre Wange, dann berührte er ihr Bauchnabel-Piercing. Sie schluckte, denn während er mit dem Daumen das Schmuckstück berührte, strichen seine anderen Finger über ihren Bauch. Sie hob den Blick und sofort hielt er ihn mit seinem fest. Er musste nichts sagen, sie wusste genau, was er dachte und was er tun wollte, doch er hielt sich zurück.
Sheila schluckte. Sie hätte einfach ihr T-Shirt wieder herunterziehen können und sich von ihm abwenden können, doch sein Blick war irgendwie fesselnd. Im Gegensatz zu Jonathan war er in der letzten Zeit für sie da gewesen und hatte sich um sie gekümmert. Gleichzeitig war sie sich zu einhundert Prozent sicher, dass sie Jonathan liebte und ihn niemals betrügen würde. Leonard war nett und lustig und sie mochte ihn, doch nicht so. Dennoch spürte sie, dass die Luft zwischen ihnen knisterte.
„Hast du noch eins?", fragte er, als könnte er ihre Gedanken lesen. Sheila wurde rot, doch wie automatisiert nickte sie. Sie öffnete den Knopf ihrer Hose, griff nach seiner Hand und schob sie langsam hinein. Leonard hielt den Atem an.
„Sheila, ich weiß nicht... Ich glaube, das ist keine gute Idee", stammelte er, aber Sheila führte seine Finger weiter nach unten.
„Ach was, wieso denn? Lasst euch nur nicht stören", ertönte eine laute Stimme, die nicht von Leonard kam. Sheila zuckte zusammen, genau wie Leonard, der seine Hand von ihr nahm, als hätte er sich an ihrer Haut verbrannt.
Sheila riss den Kopf herum und sah Jonathan, der mit verschränkten Armen im Türrahmen der Terrassentür stand und sie beide wütend anfunkelte. Sie fühlte sich wie gelähmt, gleichzeitig pochte ihr Herz bis zum Hals. Jonathan schüttelte den Kopf, stieß sich vom Türrahmen ab und marschierte davon. Endlich konnte sie sich wieder rühren und sie rannte ihm hinterher. Sie hörte, wie Leonard ihr etwas hinterherrief, doch sie ignorierte ihn.
„Warte, bitte", flehte sie und packte Jonathans Arm. Er blieb zwar stehen, doch er riss sich von ihr los. In seinen Augen stand der Zorn und Sheila konnte es dieses Mal nur zu gut verstehen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie streckte die Hand nach ihm aus, aber bevor sie ihn berühren konnte, wich er einen Schritt zurück.
„Nenn mir einen guten Grund, warum ich bleiben sollte", forderte er mit leiser, drohender Stimme. Sheila schlug sich die Hand vor den Mund und Tränen schossen ihr in die Augen. Wollte er wirklich gehen? Für immer?
„Es ist doch nichts passiert", brachte sie hervor und bemerkte selbst, wie blöd das klang.
„Ach nein? Du hast seine Hand in deine Hose geschoben und ihr wart kurz davor, euch zu küssen. Das ist für mich nicht nichts", schrie er, dann wandte er sich um und lief in den Flur. Sheila sah, wie er die Hände zu Fäusten ballte, doch wieder rannte sie ihm hinterher.
„Ich hätte ihn nicht geküsst. Bitte bleib und lass es mich erklären", bettelte sie, doch Jonathan zog sich seine Schuhe an und griff nach seinem Autoschlüssel, der in der kleinen Schale auf der Ablage an der Garderobe lag.
„Du kannst noch nicht fahren. Bitte bleib bei mir", plapperte sie weiter, doch er ignorierte sie und riss die Haustür auf. Sheila schlang die Arme von hinten um ihn und hielt ihn mit aller Kraft fest.
„Bitte", flehte sie verzweifelt. Jonathan atmete zitternd aus.
„Lass mich los", forderte er mit bebender Stimme, doch Sheila schlang die Arme nur noch fester um ihn. Sie wollte ihn nicht gehen lassen. Nicht wegen so etwas.
„Sheila", sagte er drohend, als sie ihr tränennasses Gesicht an seine Schulter schmiegte.
„Ich lasse dich nur los, wenn du mir versprichst, dass du wieder kommst", flüsterte sie, doch er schnaubte.
„Wieso sollte ich wieder kommen?", fragte er tonlos. Sheila glaubte nicht, dass er es wirklich so meinte. Dennoch rutschte ihr das Herz in die Hose. Wenn er jetzt ging, konnte sie nur sich selbst die Schuld zuschieben und nicht ihm. Er würde gehen, weil sie Mist gebaut hatte und nicht er.
„Denk an unser Baby", sagte sie mit erstickter Stimme und tatsächlich spürte sie, wie Jonathan zusammenzuckte. Er drehte sich in ihrer Umarmung zu ihr herum und kurz wagte sie zu hoffen, dass das ihn hier halten würde. Doch als sie seinen vor Zorn funkelnden Blick sah, begrub sie diese Hoffnung.
„Wer weiß, ob es überhaupt von mir ist", sagte er leise und das nächste, was sie sah, war, wie er mit voller Wucht die Tür vor ihrer Nase zuschlug und verschwand. Sie spürte, wie jemand sie auffing, als sie fiel, doch sie fühlte sich wie betäubt.
„Hey, komm her", hörte sie Leonard sagen, dann zog er sie hoch, doch ihre Beine wollten sie nicht mehr tragen.
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