Kapitel 90 - Jonathan

Jonathan blieb noch eine gefühlte Ewigkeit am Esstisch sitzen und starrte einfach nur ins Leere. Mal wieder wurde ihm bewusst, dass er durch sein Gefühlschaos ein eben solches in Sheila auslöste. Bisher hatte er immer geglaubt, dass er mit so etwas besser zurecht kam als sie, doch nun war er sich nicht mehr so sicher. Vielleicht war sie von der Sache mit Ville abgehärtet. 

Er musste sich zusammenreißen, wenn er sie nicht verlieren wollte. Zwar sagte sie ihm ständig, dass schon alles okay wäre und sie schien sich an ihn zu klammern, doch irgendwann würde auch sie genug haben. 

Mühsam zwang er sich aufzustehen, blieb aber unschlüssig mitten im Raum stehen. Heute Morgen hatte er noch gedacht, dass er etwas arbeiten könnte, wenn Sheila weg war, doch das erschien ihm nun ausgeschlossen. Er war viel zu aufgewühlt dafür. Doch was sollte er stattdessen tun? Vielleicht könnte er sich die Beine vertreten und so etwas nachdenken. 

Entschlossen ging er in den Flur, zog sich die Schuhe an und ging nach draußen. Gerade als er die Tür hinter sich zugezogen hatte, bemerkte er, dass sein Schlüssel noch auf der Ablage der Garderobe lag. Das durfte nicht wahr sein! Für einen Moment schloss er die Augen, doch dann marschierte er los. So lange es nicht in Strömen regnete könnte er sich auch auf die Terrasse setzen, wenn er wieder kam. 

Ohne wirklich darüber nachzudenken ging er in Richtung Innenstadt. Obwohl es hier im Ort nur eine kleine Fußgängerzone mit ein paar Geschäften gab, war ziemlich viel los. Immerhin war es Freitag Abend und die Leute gingen aus. 

Er ging an Restaurants vorbei und sah glückliche Pärchen, die gemeinsam aßen und lachten. Vor nicht allzu langer Zeit hätten er und Sheila eines der Paare sein können. Unwillkürlich drängte sich in ihm das Bild auf, wie Sheila hier mit Ville saß, doch schnell schob er es beiseite. Er kannte Ville nicht gut und wenn er ehrlich war, wollte er ihn auch gar nicht besser kennenlernen, doch Sheila musste einmal glücklich mit ihm gewesen sein. Genauso, wie sie es mit ihm einmal gewesen war. Nur hatte er es deutlich schneller als Ville gegen die Wand gefahren und das, obwohl Ville sie geschlagen hatte und drogenabhängig war. 

Jonathan fühlte sich wie der größte Versager. Er biss die Kiefer aufeinander und marschierte weiter die Straße entlang, bis er aus dem Augenwinkel eine Bewegung sah. Als würde eine Stimme zu ihm sprechen blieb er stehen. Die Straße war voll mit Leuten und doch hatte irgendetwas seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. 

Er sah genauer hin und entdeckte auf einer Bank jemanden, der ihm bekannt vor kam. Es war eindeutig ein Mann, der auf der Seite mit angezogenen Beinen und der Kapuze über dem Kopf auf der Bank lag und offensichtlich schlief. Als er näher herantrat, zuckte er vor Schreck zusammen. 

Es war Ville, eindeutig. Was machte der denn hier? Sollte er nicht im Gefängnis sein? Panisch überlegte er, was er tun sollte. Doch am besten würde es sein, wenn er einfach weiter ging und so tat, als hätte er ihn nicht bemerkt. Er würde nachher Sheila Bescheid geben und vielleicht auch Oskar, denn vielleicht wusste er mehr. 

„Hey", hörte er eine kratzige Stimme, bevor er hatte weitergehen können. Ville hatte ihn erkannt. Oder zumindest bemerkt, denn er setzte sich auf, zog sich die Kapuze vom Kopf und starrte ihn an. Jonathan konnte nicht anders, als zurück zu starren, doch er fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut. 

„Was machst du hier?", fragte er und biss sich sofort auf die Zunge. Warum redete er mit ihm? Nach all dem, was er Sheila angetan hatte war er es eigentlich noch nicht einmal wert, angesehen zu werden. Ville schob die Hände in die Taschen seiner schmuddeligen schwarzen Sweatshirtjacke und senkte den Blick. 

„Die letzten Stunden Freiheit genießen, die mir noch bleiben, schätze ich", erwiderte er und wie in seiner Erinnerung hatte er noch immer diesen frechen Unterton in seiner Stimme. Jonathan war klar, dass er nicht mit ihm reden sollte, doch er war zu neugierig. Immerhin wäre es wichtig zu wissen, wenn er öfter hier auftauchen könnte. 

„Du hast Freigang?", fragte er und trat unwillkürlich einen Schritt näher an ihn heran. Oskar hatte doch gesagt, dass Ville nicht mehr raus durfte, da er sich letzte Woche nicht an die Absprachen gehalten hatte. Ihm entging das selbstgefällige Grinsen auf Villes Gesicht keineswegs. 

„Keine Angst, ich darf nicht mehr bei Oskar übernachten. Mein Bewährungshelfer muss mich immer begleiten und ich darf einmal in der Woche für drei Stunden raus", erklärte Ville überraschend offen und Jonathan nickte. Allerdings konnte er keinen Bewährungshelfer entdecken, als er sich möglichst unauffällig umsah. Ville lachte leise. 

„Er holt uns da drin was zu Essen. Ich hab ihn in den Laden geschickt, wo die längste Schlange ist, damit ich ein bisschen Ruhe vor ihm habe", sagte er und deutete mit einer Kopfbewegung auf einen noch ziemlich neuen Donut-Laden, der voll mit Leuten war. Es behagte ihm gar nicht, dass er ihn hier so allein ließ, doch offensichtlich machte Ville keine Anstalten, sich aus dem Staub zu machen. 

„Wie geht es ihr?", fragte Ville dann und auf einmal klang seine Stimme anders. Nicht mehr belustigt und überheblich, sondern besorgt. Jonathan schnaubte. Ville war der allerletzte Mensch auf diesem Planeten, der das Recht hatte, sich nach ihr zu erkunden. Gleichzeitig war sein Angriff auf Sheila schon lange her und es schien sie kaum noch zu beeinflussen. 

„Gut", hörte Jonathan sich dennoch sagen, doch gleichzeitig klang er nicht wirklich überzeugt. Sofort spürte er den forschenden Blick von Ville auf sich. Sheila hatte ihm mal erzählt, dass er genau wie Oskar unheimlich gut darin war, jemanden zu lesen. 

„Ihr habt euch gestritten?", fragte er und es klang weniger wie eine Frage als eine Feststellung. Jonathan schnaubte. 

„Das geht dich nichts mehr an", gab er zurück, ein unfreiwilliges Geständnis, wie ihm klar wurde. 

„Naja, wenn ihr euch trennt habe ich vielleicht doch wieder eine Chance bei ihr", sagte er und klang dabei resigniert. Gleichzeitig machten Jonathan seine Worte wütend. 

„Wir trennen uns aber nicht", fuhr er ihn an, woraufhin Ville kapitulierend die Hände hob. 

„Ist ja gut. Ich meine ja nur...", setzte er an, doch dann ließ er den Satz unbeendet in der Luft hängen. Jonathan schüttelte den Kopf uns biss die Kiefer aufeinander. Dieser Kerl war unglaublich. 

„Sie hat kein Interesse mehr an dir. Lass sie ja in Ruhe", sagte er drohend, doch Ville lachte nur. 

„Ich mache doch gar nichts. Ich wette sie denkt noch an mich", sagte er, was Jonathan verächtlich schnauben ließ. Obwohl er wütend war, spürte er auch einen kleinen Stich im Herz, denn ganz offensichtlich dachte Sheila tatsächlich noch an ihn. 

Villes Blick richtete sich auf etwas hinter ihm und Jonathan wandte sich um. Aus dem Donut-Laden kam ein junger Mann mit braunen Locken, der untersetzt und dicklich, aber doch sympathisch wirkte. Er balancierte zwei Pappbecher auf einer Schachtel und kam direkt auf sie zu. Ville versteifte sich und richtete den Blick auf den Boden. Offensichtlich war das sein Bewährungshelfer. Der Mann ging an Jonathan vorbei und lächelte ihm kurz zu, doch dann hielt er Ville die Schachtel hin. Ville nahm einen der Pappbecher herunter, dann trafen sich ihre Blicke noch einmal. 

„Sie kennen sich?", fragte der Bewährungshelfer und sah abwechselnd zwischen ihnen hin und her. 

„Nicht wirklich. Er hat mir die Freundin ausgespannt", sagte Ville ohne ihn anzusehen und nahm dann einen Schluck aus seinem Becher. 

„Schön Sie kennenzulernen", sagte der Bewährungshelfer, balancierte die Schachtel mit dem Becher drauf unbeholfen auf einem Arm und hielt ihm die Hand hin. Jonathan schüttelte sie, doch er blickte ihn finster an. 

„Ich muss weiter", sagte Jonathan und marschierte davon, ohne einen der beiden noch eines Blickes zu würdigen. Viel schlimmer konnte sein Tag nicht mehr werden. Auch wenn er gewissermaßen tatsächlich Ville die Freundin ausgespannt hatte, gefiel ihm diese Sichtweise nicht. Er sah sich lieber als jemand, der Sheila aus einer schlimmen Beziehung geholfen hatte und er wusste, dass sie das auch so sah. 

Wütend marschierte er weiter, bis er das Ende der Fußgängerzone erreicht hatte. Er bog nach rechts ab und wollte parallel zur Fußgängerzone wieder zurück nach Hause gehen. Kurz warf er einen Blick zum Himmel und zum Glück sah es nicht nach Regen aus. Wenn er nicht bei Sheilas Vater vorbeigehen und sich den Ersatzschlüssel holen wollte, musste er wohl oder übel warten, bis Sheila nach Hause kam. 

Jonathan ärgerte sich über sich selbst, dass er seinen Schlüssel vergessen hatte, doch vielleicht würde es ihm ganz gut tun, eine Weile aus dem Haus herauszukommen. Auch wenn Sheila nicht da war, erinnerte ihn alles an sie und an die Zeit, in der sie beide glücklich gewesen waren. Sheila hatte jede Menge Fotos aufgehangen und überall lagen ihre Sachen herum. 

Obwohl es ihm gleichzeitig schwerfallen würde, kommende Woche nicht zu Hause zu sein, wusste er, dass es sein musste. Wenn ihn ständig etwas an Sheila erinnerte, würde er den Kopf nicht freibekommen. Und genau das war es, was er brauchte. Im Moment machte ihn einfach so vieles so schnell wütend und er wusste gar nicht wieso. Früher war er ausgeglichen gewesen und hatte Streit um jeden Preis vermeiden wollen. Aber jetzt? Jetzt wurde er grundlos wütend und ließ es an Sheila aus und das konnte so nicht weitergehen.

Ehe er es sich versah war Jonathan den ganzen Weg vor sich hin grummelnd bis nach Hause gelaufen. Sheilas Auto stand nicht in der Einfahrt, also war sie nicht wieder von ihrem Chef ins Bett geschickt worden, weil sie krank war. Doch als er daran dachte, dass sie nur wegen ihm so durch den Wind gewesen war, hätte er sich am liebsten geohrfeigt. 

Obwohl er keinen Schlüssel dabei hatte, rüttelte er an der Haustür. Natürlich war sie fest verschlossen und er kletterte kurzerhand über das gusseiserne Gartentor. Auf dem kleinen Hof unterhalb der Terrasse, der noch vor der Rasenfläche lag, blieb er einen Moment stehen. Es war noch nicht wirklich warm, doch die Sonne schien. Er nahm sich einen der Stühle von der Terrasse und stellte ihn mitten in die Sonne. Mit einem Seufzen ließ er sich darauf nieder, schloss die Augen und ließ sich die Sonnenstrahlen ins Gesicht scheinen. 

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