Kapitel 87 - Sheila
Irgendwie war sie ins Bett gekommen und irgendwie lag Jonathan neben ihr. Die letzten Minuten waren ihr vorgekommen, als hätte sie sie durch einen Schleier wahrgenommen.
Sheila lag auf der Seite, die Beine angezogen und mit den Armen umklammert, doch sie konnte in Jonathans Gesicht sehen. Seine Nachttischlampe war eingeschaltet und warf einen unheimlichen Schatten an die Zimmerdecke. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte und ihm schien es genau so zu gehen. Sie wollte ihn nicht wieder reizen oder nerven, also hielt sie besser den Mund. Immerhin war er hier und sie hoffte, dass er zumindest die Nacht über hier blieb.
Sie schloss die Augen, doch an Schlaf war nicht wirklich zu denken. Als sie vorhin mit Leonard auf dem Sofa gesessen hatte, war sie nach nur ein paar Minuten eingeschlafen.
„Willst du mir von deinem Unfall erzählen?", fragte Jonathan schließlich, doch seine Stimme brach. Obwohl das alles erst ein paar Stunden her war, kam es ihr vor, als wäre es vor einer Ewigkeit passiert. Sie nickte. Sie würde alles tun, damit er so einfühlsam und liebevoll blieb.
„Die Straße war rutschig vom Regen. Ich weiß auch nicht, wie es passieren konnte. Es ging so schnell, aber irgendwie bin ich ins Schleudern geraten und habe noch irgendwie gebremst. Dann hab ich die Augen zu gemacht und war auf einmal auf dem Acker", berichtete sie und bei der Erinnerung, wie sie auf das Lenkrad geknallt war, spürte sie ein leichtes Ziehen an der Stelle, wo ihr blauer Fleck war.
„Bist du dir sicher, dass du nicht verletzt bist?", fragte er und sie schüttelte den Kopf.
„Es ist nichts passiert. Ich konnte ja noch bremsen", gab sie möglichst gelassen zurück, doch in Wahrheit war sie panisch gewesen. Jonathan schluckte schwer, dann schob er seine Hand in ihre Richtung und legte sie auf ihr Knie. Sofort entspannte sie sich, denn seine Berührung war so vertraut. Sie löste die Umklammerung ihrer Knie, woraufhin Jonathan die Hand auf ihren Bauch legte.
„Und mit dem hier ist auch alles okay?", fragte er und ein Schock durchfuhr Sheila. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Doch schnell nickte sie.
„Ja, ich habe mir nur die Knie und das Kinn gestoßen. Es ist alles in Ordnung", versicherte sie ihm und er nickte. Seine Hand ließ er jedoch auf ihrem Bauch liegen und langsam legte sie ihre Hand auf seine.
„Kann ich dich was fragen?", hörte sie sich sagen und obwohl ihr eine Frage unter den Nägeln brannte, hatte sie Angst, sie auszusprechen. Jonathan sah sie aufmerksam an und sie hoffte, dass er nicht wieder wütend wurde.
„Ja, frag ruhig", ermutigte er sie, woraufhin sie noch einmal tief durchatmete und dann einfach das aussprach, was ihr im Kopf herumgeisterte.
„Wirst du in der Auszeit darüber nachdenken, ob das alles mit uns überhaupt noch Sinn hat?", fragte sie und schloss die Augen, in der Erwartung, eine pampige Antwort zu bekommen. Doch auch nach ein paar Sekunden herrschte noch immer Stille. Vorsichtig schlug sie die Augen wieder auf und erst da holte er Luft und beantwortete sie.
„Schon, aber nicht so, wie du denkst. Ich weiß, dass es an mir liegt. Ich muss mir klar darüber werden, warum ich so gemein zu dir bin. Wobei mich das mit Ville schon nervt", sagte er, doch Sheila hatte nach dem ersten Wort abgeschaltet. Er dachte darüber nach, sich von ihr zu trennen. Hätte sie heute nicht schon literweise Tränen vergossen, wären mit Sicherheit wieder welche geflossen, aber es kam nur ein ersticktes Geräusch aus ihr heraus.
„Hey", sagte er leise, doch sie fühlte sich, als würde ihr Herz in tausend Stücke zerspringen.
„Sheila, hör mir zu. Ich liebe dich und ich wünschte mir, ich wüsste, warum ich es im Moment nicht schaffe, mich zusammen zu reißen. Mir ist klar, dass ich mich unfair verhalte, aber ich kann es nicht ändern", erklärte er, doch Sheila konnte nicht mehr. Warum hatte sie ihn nur gefragt? Wahrscheinlich weil sie hören wollte, dass er bei ihr bleiben würde, komme was wolle.
„Du willst dich von mir trennen?", stammelte sie und spürte, wie er seine Hand unter ihrer wegzog.
„Nein, will ich nicht. Aber so kann es doch auch nicht weitergehen", antwortete er, dann legte ihr seine Hand an ihre Wange. Sheila nickte, doch sie konnte ihn nicht ansehen.
Eine Weile war es stumm, dann spürte sie, wie er sich bewegte. Auf einmal lagen seine Lippen auf ihren. Ihr wurde schwindelig, doch sie erwiderte den Kuss so leidenschaftlich sie konnte. Vielleicht war es ja das letzte Mal, dass sie ihn so küsste. Sie tastete nach ihm und klammerte sich an seinem T-Shirt fest, dann lag er auf einmal über ihr und küsste ihren Hals.
Sheila genoss die Berührung und versuchte so viel Körperkontakt wie möglich mit ihm zu haben und er schien das Gleiche zu tun. Jonathan wusste genau, was er tun musste, damit sie mehr wollte. Ihr war klar, dass es keins ihrer Probleme löste, wenn sie nun mit ihm schlief, doch es fühlte sich dennoch so schön an.
Sie suchte seinen Blick und als sie in seine blauen Augen sah, wurde ihr wieder einmal klar, dass sie ihm alles verzeihen würde. Es war bescheuert, doch anscheinend schien es ihr Schicksal zu sein, sich immer in Männer zu verlieben, die irgendwann nicht mehr gut für sie waren.
„Ich liebe dich", hauchte sie und spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Jonathan küsste sie, dann strich er ihr das Haar aus dem Gesicht.
„Ich liebe dich auch", erwiderte er und genau wie bei ihr schien es aus dem tiefsten Innern seines Herzens zu kommen.
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Sheila war schnell eingeschlafen, Jonathans Hand in ihrer. Doch nun wachte sie auf und das Bett neben ihr war leer. Panisch setzte sie sich auf, dann hörte sie die Klospülung. Erleichtert atmete sie auf und beinahe hätte sie aufgelacht, dass sie sich so sehr erschrocken hatte. Er hatte ihr doch erst vor ein paar Stunden gesagt, dass er sie liebte, da würde er sich nicht einfach klammheimlich aus dem Staub machen, oder?
Sie kletterte aus dem Bett, ihre Glieder waren schwer und sie fühlte sich erschöpft. Mühsam suchte sie sich etwas bequemes zum Anziehen und schlich zum Badezimmer im oberen Stockwerk.
Gerade als sie an die Tür klopfen wollte, öffnete Jonathan sie. Er zuckte zusammen, doch dann lächelte er. Beinahe hätte sie vor Erleichterung losgeheult, denn er sah seit Langem mal wieder zufrieden aus. Noch nicht glücklich, davon schien er noch zu sehr zu grübeln, aber immerhin besser als schlecht gelaunt.
„Wie geht's dir?", fragte sie, doch bevor er antwortete ging er an ihr vorbei und drehte sich dann wieder zu ihr um.
„Ganz okay, denke ich. Und dir?", antwortete er, dann spürte sie seinen Blick auf ihrem blauen Fleck.
„Auch so. Ich bin froh, dass... Ich meine, das war schön heute Nacht", sagte sie und spürte, wie ihre Wangen heiß wurden.
„Ja", sagte er nur, dann stieß er einen zufriedenen Laut aus und ließ sie stehen. Verwirrt sah sie ihm nach, doch keine Minute später kam er mit frischen Klamotten im Arm zurück zu ihr.
„Kommst du mit duschen?", fragte er und schnell nickte sie. Er ging vor ihr die Treppe nach unten und obwohl er sich bis jetzt ganz normal benahm, fühlte sie sich auf der Hut. Zu oft war er schon von guter Laune zu schlechter Laune und Beschimpfungen gewechselt, ohne dass sie es hätte vorhersehen können. Zwar war es schön, ihn bei sich zu haben, doch sie fühlte sich die ganze Zeit wie unter Hochspannung.
Sie folgte ihm ins Bad und schloss die Tür hinter sich, dann blieb sie unschlüssig stehen. Jonathan zog sich aus und stieg in die Dusche und erst da schien er zu bemerken, dass sie noch immer wie bestellt und nicht abgeholt an der Tür stand. Er warf einen Blick durch die noch offene Duschtür und zog eine Augenbraue hoch.
„Auf was wartest du?", fragte er und lachte leise. Sheila schluckte ihre Unsicherheit hinunter, dann legte sie ihre frischen Klamotten neben seine auf den geschlossenen Klodeckel und zog sich schnell ihren Schlafanzug aus. Mit weichen Knien stieg sie zu ihm in die Dusche und schloss die Duschtür. Sie war sich durchaus bewusst, dass Jonathan sie anstarrte. Sanft strich er über ihr Schlüsselbein, während er seine verletzte Hand ein wenig ungelenk aus dem Wasserstrahl hielt.
„Hier ist ein riesiger blauer Fleck", sagte er und sie versuchte die Stelle zu sehen, die er berührte. Doch sie würde es sich gleich im Spiegel ansehen müssen. Jonathan ließ seine Hand sinken, griff nach dem Duschkopf und nahm ihn aus der Verankerung. Er hielt den Wasserstrahl auf sie gerichtet und sie genoss das warme Wasser auf ihrer Haut.
„Willst du die Haare waschen?", fragte er und sie nickte. Mit Sicherheit war noch immer Erde in ihren Haaren. Er hob den Duschkopf über ihren Kopf und sie hielt die Hände über die Augen, damit das ganze Wasser nicht in ihre Augen lief.
„Dreh dich um", sagte er leise und sie gehorchte. Nachdem sie vollständig nass war, nahm sie ihr Shampoo aus der Ablage und schäumte ihre Haare und dann den Rest von sich ein. Mit geschlossenen Augen tastete sie nach ihm und er gab ihr den Duschkopf.
Eine ganze Weile genoss sie das warme Wasser, doch dann stieg sie aus der Dusche. Obwohl sie beide hineinpassten, war es dennoch leichter, wenn nur einer darin war. Sie wrang ihre Haare über dem Waschbecken aus und wickelte ein Handtuch darum und betrachtete sie sich im Spiegel.
Tatsächlich war an der Stelle, wo der Gurt normalerweise über dem Schlüsselbein lag, ein dunkelblauer Fleck. Auch ihr Gesicht leuchtete blau. Das würde sie nicht mit Schminke überdecken können und sie konnte die Blicke der Kollegen und Künstlerinnen auf der Arbeit schon auf sich spüren. Ihr blaues Auge von Esras komischen Typen war gerade erst verheilt und nun tauchte sie schon mit der nächsten Verletzung auf.
Sie hörte, wie Jonathan aus der Dusche stieg und sie reichte ihm sein Handtuch an. Sheila trocknete sich schnell ab und putzte sich die Zähne, dann zog sie sich an.
„Ich sehe aus, als hätte ich mich geprügelt", lachte sie, doch Jonathan schien es gar nicht lustig zu finden.
„So lange niemand denkt, dass ich es war", bemerkte er und klang verbittert. Sheila musste zugeben, dass sie das auch schon gedacht hatte, denn die Leute zogen schnell falsche Schlüsse. Zum Glück kannte niemand auf der Arbeit ihre Vergangenheit, denn es war doch oft so, dass Frauen die sich einmal einen Schläger angelacht hatten ein Händchen dafür hatten, immer wieder einen neuen zu finden. Doch Jonathan war nicht wie Ville. Sheila fuhr energisch mit der Bürste durch ihre verknoteten Haare, bis sie entwirrt waren.
„Was denkst du?", fragte Jonathan und gleichzeitig nahm er ihr die Bürste aus der Hand und drehte sie mit leichten Druck an ihrer Taille zu sich herum. Sie wollte ihn nicht anlügen, doch das konnte sie ihm nicht sagen. Würde sie ihm sagen, dass sie ihn unwillkürlich mit Ville verglichen hatte, wäre der gerade gewonnene Frieden mit einem Schlag dahin.
„Sag es mir, bitte. Ich will wissen, was in dir vorgeht", bohrte er weiter, doch sie seufzte.
„Es wird dir nicht gefallen", sagte sie, was ihn nur noch neugieriger zu machen schien.
„Ich verspreche dir, nicht wütend zu werden", erwiderte er, doch sie wusste nicht, ob er das so steuern konnte. Dennoch atmete sie tief durch, um ihm zu erzählen, was in ihr vorging.
„Ich musste daran denken, dass man leicht denken könnte, dass mein Mann mich schlägt. So wie Ville mich geschlagen hat. Aber du bist nicht so wie er", sagte sie und schloss die Augen. Sie erwartete, dass er sie stehen lassen würde, doch auch nach ein paar Sekunden lag seine Hand noch immer an ihrer Taille. Vorsichtig schlug sie die Augen wieder auf und erst da antwortete er.
„Erinnere ich dich an ihn?", fragte er vollkommen ernst und in seinen Augen stand so etwas wie Schmerz. Sheila musste kichern. Ville und Jonathan waren so verschieden, Jonathan war liebevoll und machte sie glücklich. Er manipulierte sie nicht und log ihr nicht dreist ins Gesicht. Dennoch war auch Ville nicht immer so gewesen wie am Ende ihrer Beziehung.
„Nicht so, dass du so wirst wie er, aber... auch mit ihm war ich mal glücklich, und dann ist er irgendwie abgedreht. Bei ihm wusste ich, dass es wegen den Drogen war, aber bei dir bin ich mir nicht so sicher, was der Auslöser ist. Das macht es... unerwarteter", sprach sie aus, doch kaum dass es draußen war, presste sie sich die Hand vor den Mund. Das hätte sie nicht sagen sollen. Jonathans Wutausbrüche waren bei Weitem nicht so schlimm wie die von Ville, allerdings genau so unberechenbar und unvorhersehbar.
Jonathan fing an zu beben, doch dann zog er sie sanft enger an sich und schlang die Arme um sie. Sheila erwiderte die Umarmung und es fühlte sich gut an.
„Tut mir leid. Wirklich. Aber genau deswegen brauche ich mal eine Pause. Ich weiß nicht, warum ich so genervt und gereizt bin, aber es ist so. Mir ist klar, dass ich dir im Moment mehr wehtue als ich dir guttue, also...", flüsterte er, doch er ließ den Satz unbeendet in der Luft hängen. Sheila nickte.
„Heute Nacht hast du gesagt, dass du darüber nachdenkst, dich von mir zu trennen", erinnerte sie ihn und sofort spürte sie einen stechenden Schmerz in ihrem Herzen.
„Stimmt. Aber ich meinte es nicht so, dass ich dich nicht mehr liebe. Diese ganzen Streits und die Anspannung halte ich nicht mehr lange aus. Und du auch nicht", erklärte er und wieder nickte Sheila. Sie konnte es nachvollziehen, auch wenn ihr der Gedanke, dass er sie wirklich verlassen könnte noch immer die Tränen in die Augen trieb.
„Ich verstehe dich und ich fühle mich auch ausgelaugt, aber ich will, dass du wiederkommst. Ich will nicht ohne dich sein. Eine alleinerziehende Mutter sein", flüsterte sie. Beim letzten Satz brach ihre Stimme und sie klammerte sich fester an ihn. Jonathan keuchte, doch er schwieg. Er löste sich von ihr und sah ihr fest in die Augen.
„Ich will dich nicht verlassen. Eine Auszeit heißt doch nicht gleich Schluss. Ich muss nur viel nachdenken", sagte er und Sheila nickte.
„Okay. Ich verstehe dich ja, aber bitte sag mir, wie ich mich verhalten soll", bat sie, doch er zuckte die Schultern.
„Ich weiß es noch nicht", antwortete er, dann strich er ihr sanft über die Wange.
„Ich mache uns was zum Frühstück", sagte er, dann ließ er sie allein im Bad. Sheila starrte eine Weile auf die geschlossene Tür, durch die er verschwunden war, doch dann föhnte sie ihre Haare. Er hatte gerade nicht so geklungen, als wollte er ihre Ehe beenden. Eher so, als bräuchte er mal eine Art Urlaub.
Dieser Gedanke gefiel ihr deutlich besser und sie musste an Lisas Worte denken. Auch sie war der Meinung, dass er sie nicht verlassen wollte. Da fiel ihr ein, dass sie Lisa unbedingt noch anrufen oder ihr zumindest schreiben musste. Sie verstaute den Föhn wieder an seinem Platz im Schrank und ging ins Wohnzimmer, wo sie ihr Handy vermutete.
Tatsächlich lag es noch auf dem Sofa, doch der Akku war leer. Sie schloss es an das Ladekabel an, das in einer Steckdose am Sofa steckte und wartete eine Minute, bis es sich wieder einschalten ließ.
Sie stellte erschrocken fest, dass sie drei verpasste Anrufe hatte. Zwei von Jonathan und einen von ihrem Bruder. Ihr Blick wanderte in Richtung Küche, wo sie Jonathan hantieren hörte. Er musste sie angerufen haben, als er auf dem Weg von Leonards Wohnung nach Hause war. Apropos Leonard, den sollte sie auch noch anrufen. Doch zuerst las sie die Nachricht, die sie erhalten hatte. Sie war von Matthias.
„Ist alles okay bei dir? Ich habe irgendwie ein komisches Gefühl. Melde dich, wenn du das liest", schrieb er. Sie schluckte. Hatte er so etwas wie eine Vorahnung gehabt, dass sie diesen blöden Unfall hatte? Eilig tippte sie eine Antwort.
„Alles okay. Ich hatte einen kleinen Unfall, aber es ist nichts passiert", schrieb sie, wobei ihr durchaus bewusst war, dass es Matthias nicht beruhigen würde. Als nächstes klickte sie auf Lisas Namen, doch bevor sie ihr eine Nachricht schrieb, blickte sie wieder in Richtung Küche. Vielleicht wäre es besser, wenn sie heute ihren Vater besuchen würde. Dann konnte er sich auch ihr Auto mal näher ansehen, denn sie hatte keine Ahnung, ob sie so etwas bei der Versicherung melden musste oder nicht.
Kurzentschlossen stand sie auf und ging zu Jonathan. Als er sie bemerkte, warf er ihr einen schnellen Blick zu, konzentrierte sich aber schnell wieder auf das Rührei in der Pfanne vor ihm.
„Ich sollte vielleicht mal bei meinem Vater reinschauen", sagte sie dann und er wandte sich wieder ihr zu. Er sah sie schulterzuckend an und lächelte.
„Okay. Willst du, dass ich mitkomme?", fragte er, doch langsam schüttelte sie den Kopf. Nach dem, was sie Lisa gestern erzählt hatte, wäre es merkwürdig, mit ihm zusammen aufzutauchen. Außerdem würde sie sie dann nicht beraten können, wie sich verhalten sollte, wenn Jonathan tatsächlich am Montag wegfahren würde.
„Okay", sagte er nur und klang dabei nicht beleidigt oder verletzt.
„Ich sollte sowieso noch etwas arbeiten. Ich habe nicht viel geschafft in den letzten Tagen", sagte er und sie nickte.
„Lass dir ruhig Zeit. Hast du... hast du ihm von uns erzählt?", fragte sie und wieder schüttelte sie den Kopf.
„Nein, ihm noch nicht. Aber ich habe gestern auf dem Weg zur Arbeit kurz mit Lisa telefoniert. Ich bin fast durchgedreht, als du nicht da warst", sagte sie und ließ sich das Gespräch von gestern noch einmal durch den Kopf gehen. Sie hatte auch Lisa gesagt, dass sie vielleicht schwanger war. Oder besser gesagt: Lisa hatte es erraten. Jonathan schwieg, doch sein Atem beschleunigte sich.
„Sie hat mich gefragt, ob ich schwanger bin", sagte sie dann und Jonathan fiel der Bratwender aus der Hand. Mit einem Schritt war er bei ihr und sah sie erst wütend, doch dann mitfühlend an.
„Was hast du gesagt?", fragte er.
„Die Wahrheit. Dass wir es noch nicht sicher wissen", antwortete sie, doch er schüttelte den Kopf.
„Wieso kannst du eigentlich nie etwas für sich behalten?", fragte er und ging wieder zurück zum Herd. Sheila schluckte. Ihr war klar, dass das eine ihrer Schwächen war, aber gleichzeitig war es doch gut, wenn man über seine Gedanken sprach und nichts in sich hineinfraß.
„Tut mir leid", stammelte sie nur, doch von Jonathan kam keine Reaktion mehr. Kopfschüttelnd ging sie zurück zum Sofa, allerdings kam er ihr ein Stück hinterher und blieb mit verschränkten Armen im Türrahmen stehen.
„Schüttel nicht so den Kopf. Wir hatten uns drauf geeinigt, es noch niemandem zu sagen und du plapperst es überall aus", sagte er und klang gar nicht mehr so entspannt wie vorhin. Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, denn er hatte ja recht.
„Du hast doch sonst so viel zu sagen und jetzt bist du still?", fragte er bitter und endlich hob sie den Blick.
„Bis vor zwei Minuten warst du noch gut gelaunt und jetzt bist du schon wieder so gemein", beschwerte sie sich, woraufhin er schnaubte. Gleichzeitig sah sie an seinem Blick, dass er darüber nachdachte.
„Weil du dich nicht an Absprachen hältst. Wem hast du es noch alles erzählt?", wollte er wissen.
„Matthias und Johnny", sagte sie trotzig, doch er schüttelte nur den Kopf.
„Super", sagte er tonlos, dann ging er zurück in die Küche. Sheila spürte, wie sich ein Gewicht auf ihre Schultern legte. Langsam ging sie zurück zum Sofa und tippte eine Nachricht an Lisa.
„Seid ihr zu Hause? Ich muss euch was sagen", schrieb sie und beinahe sofort kam eine Antwort.
„Papa arbeitet im Keller, aber ich bin da", schrieb Lisa. Erleichtert schloss sie die Augen. Auch wenn sie ihrem Vater alles erzählen konnte, wollte sie lieber mit Lisa reden.
„Ich frühstücke noch etwas, dann komme ich, okay?", fragte sie und von Lisa kam noch ein Daumen nach oben.
Gerade als sie ihr Handy auf die Sofalehne legte, klingelte es. Sie hatte noch immer nicht den Ton ausgeschaltet und zuckte bei dem schrillen Geräusch zusammen. Ein Blick auf das Display verriet ihr, dass es Matthias war. Sie beeilte sich das Gespräch entgegen zu nehmen.
„Hey", meldete sie sich und sofort atmete ihr Bruder erleichtert aus.
„Willst du, dass ich einen Herzinfarkt bekomme?", erwiderte er, was Sheila kichern ließ.
„Was ist passiert?", fragte er und in kurzen Sätzen berichtete sie, wie sie von der Straße in den Acker geschlittert war.
„Bist du wirklich okay?", fragte er dann und klang seltsam besorgt.
„Ja, nur ein paar blaue Flecken", bestätigte sie und sah sie aus dem Augenwinkel, wie Jonathan die Pfanne zum Tisch balancierte.
„Ich muss auflegen. Ich melde mich später", sagte sie, dann legte sie ohne eine Antwort abzuwarten auf. Jonathan verschwand wieder in der Küche und holte noch Butter und Brot, dann setzte er sich.
Sheila ging zum Tisch und ließ sich ebenfalls auf ihrem Platz nieder. Eine Weile beobachtete sie ihn, wie er sich Essen auf den Teller lud. Er wich ihrem Blick aus und sie entschied sich, ihn nicht zu nerven. Denn anscheinend tat sie das in letzter Zeit.
Das Frühstück schien ewig zu dauern, doch nachdem sie sich gezwungen hatte, ein paar Bissen hinunterzuwürgen, schob sie ihren Teller von sich weg. Sie wartete, bis Jonathan erst seinen Teller und anschließend ihren leergegessen hatte, dann stand sie auf und brachte alles in die Küche. Sie sah, dass Jonathan zu ihr in die Küche kam und sie anstarrte, doch er sagte nichts. Sie räumte alles in die Spülmaschine, dann wandte sie sich ihm zu. Vorsichtig trat sie dicht an ihn heran und legte die Hände an seine Hüfte. Er ließ es zu, doch er wirkte angespannt. Sie ließ ihren Kopf auf seine Schulter sinken und erst da legte auch er seine Arme um sie.
„Sehen wir uns noch, bevor ich zur Arbeit muss?", fragte sie, woraufhin er ihr eine Hand unter das Kinn legte und ihren Kopf anhob. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihren Kiefer, doch sie ignorierte ihn.
„Du willst heute wirklich zur Arbeit? Vielleicht solltest du dich heute noch etwas ausruhen", sagte er, doch sie schüttelte den Kopf.
„Nein, das geht schon", antwortete sie und lächelte, aber Jonathan sah skeptisch aus.
„Na gut. Aber wenn du dich schlecht fühlst, geh sofort nach Hause. Und um deine Frage zu beantworten: Wenn du willst bin ich da, wenn du dich fertig machen musst", sagte er und lächelte ebenfalls, doch es sah genau so gezwungen aus wie sich ihres anfühlte.
„Ja, bitte. Ich muss um halb fünf los", erinnerte sie ihn und er nickte.
„Ich weiß", gab er zurück, dann sah er ihr tief in die Augen. Sheila spürte den Drang, ihn zu küssen, doch sie war sich nicht sicher, ob er das auch wollte.
„Darf ich dich küssen?", fragte sie und eilig legte er seine Lippen auf ihre. Beinahe hätte sie vor Erleichterung aufgestöhnt, doch nach nur einem Kuss löste er sich von ihr.
„Du musst mich so was nicht fragen", sagte er, doch sie zuckte die Schultern.
„Ich wusste nicht, ob du auch willst", gab sie ehrlich zurück und ließ ihre Hand auf seiner Brust genau über dem Herzen nieder. Es schlug ganz normal.
„Ich will wirklich, dass es mit uns funktioniert, das musst du mir glauben. Ich fühle mich nur so ausgebrannt", sagte er ernst und Sheila spürte, wie ihr eigenes Herz schneller schlug.
„Okay. Wir kriegen das alles schon hin, oder?", fragte sie und fühlte sich schon ein wenig optimistischer als vorhin. Jonathan nickte, dann beugte er sich noch einmal zu ihr hinunter und küsste sie.
„Ich mache mich mal an die Arbeit", sagte er, dann und löste sich aus ihrer Umarmung. Sheila nickte und folgte ihm in den Flur und anschließend die Treppe nach oben.
„Gehst du jetzt gleich zu deinem Vater?", fragte er, während er sich seine Mütze vom Bettpfosten schnappte und sie sich auf den Kopf setzte.
„Ja, allerdings arbeitet er. Lisa ist aber da und ich glaube, ich würde lieber mit ihr sprechen. Mein Vater ist doch etwas... ich weiß nicht, ich glaube er ist noch wütend auf Matthias", erwiderte sie und Jonathan nickte.
„Okay. Falls du früher zurückkommst und ich nicht hier bin, kannst du ruhig ins Studio kommen", sagte er und zwinkerte ihr doch tatsächlich zu. Sheila spürte, wie ihr heiß wurde und sie fühlte sich wie frisch verliebt.
„Mache ich", versprach sie, doch dann drückte er ihr einen Kuss auf die Wange und ließ sie allein.
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