Kapitel 76 - Jonathan
Jonathan versuchte wirklich, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, doch es gelang ihm nicht. Ständig wanderte sein Blick wie automatisiert zu seinem Mailprogramm, denn inzwischen trafen beinahe minütlich Mails von Karima ein.
Er hatte Sheila erst vor einer halben Stunde gesprochen und er rechnete damit, dass sie nicht vor elf Uhr nach Hause kommen würde. Mit Sicherheit wollte Matthias noch mit ihr über den Termin reden und da wollte er sie auch nicht stören.
Doch mit jeder weiteren Mail von Karima fühlte er sich in seiner Entscheidung bestätigt. Auch wenn er ein schlechtes Gewissen Sheila gegenüber hatte, wäre es so wohl das Beste. Sie würde es mit Sicherheit verstehen.
Er atmete noch einmal tief durch, klickte auf ihre letzte Mail, dann auf Antworten. Seine Finger schwebten über den Tasten, allerdings ihm fiel nun doch nicht so recht ein, was er schreiben sollte. Sein Blick wanderte im Raum umher, als könnte er dort irgendwo die Antwort finden. Sein Blick blieb am Klavier hängen und er musste daran denken, wie Sheila gestern für ihn gespielt und getanzt hatte. Sein Herz schlug schneller bei dem Gedanken daran, wie glücklich sie ausgesehen hatte.
Beflügelt von der Erinnerung an das wunderschöne Gefühl, das ihn durchflutet hatte, als sie ihn angelächelt hatte, tippte er eine Nachricht an Karima.
„In Ordnung, treffen wir uns. Ich kann nur jetzt. Wo bist du?", schrieb er und bevor er es sich anders überlegen konnte, klickte er auf Senden. Seine Hände fingen an zu schwitzen und er flehte, dass er keinen Fehler machte. Hoffentlich würde Sheila erst zurück kommen, wenn er wieder da wäre, dann könnte er es ihr in Ruhe erklären. Keine Minute später traf eine neue Nachricht von Karima ein.
„Danke, du wirst es nicht bereuen. Ich bin bei mir zu Hause. Du kannst vorbei kommen, wenn du willst", schrieb sie, dazu noch ihre Adresse. Jonathan schluckte. Ihm war gar nicht wohl dabei, zu ihr nach Hause zu fahren, doch er wollte es einfach nur so schnell es ging hinter sich bringen. Er schaltete den Bildschirm aus, schnappte sich seinen Schlüsselbund, der auf dem Schreibtisch lag und machte sich auf den Weg.
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Schon als er sich einen Parkplatz in der ruhigen Wohngegend suchte, in der sie wohnte, lastete das schlechte Gewissen schwer auf ihm. Doch es war das Richtige, zumindest redete er sich das ein. Karima würde ihn sonst nicht in Ruhe lassen und vielleicht noch weiter gemeine und verletzende Sachen über Sheila schreiben. Sheila hatte ihm klar zu verstehen gegeben, dass sie alle Mails und Bilder von ihr sehen wollte und dann würde sie auch die abwertenden Bemerkungen sehen. Das wollte er um jeden Preis verhindern. Er parkte schließlich ein paar Häuser von der Adresse entfernt, die sie ihm geschickt hatte, schob seine Mütze zurecht und stieg aus.
„Bitte verzeih mir, Schatz", murmelte er, in der Hoffnung, Sheila könnte ihn irgendwie hören. Er schob die Hände in die Hosentaschen und ging zu dem Haus, in dem sie wohnte. Es war eine Doppelhaushälfte aus rotem Klinker. Der Vorgarten war hübsch bepflanzt und er musste unwillkürlich grinsen, denn Sheilas Pflanzversuche waren bisher alle gescheitert.
Seine Knie wurden weich, als er das ordentlich Grundstück betrat und er versuchte sich die Worte zurechtzulegen, doch sie purzelten in seinem Kopf nur durcheinander. Er war unglaublich wütend auf Karima, vor allem weil sie Sheila so respektlos behandelte.
Er legte den Finger auf die Klingel und zuckte bei dem lauten Schrillen zusammen, das bis nach draußen zu hören war. Jonathan blickte durch das kleine runde Glas, das in die weiße Tür eingelassen war und sah, wie Karima zur Tür kam. Er würde auf keinen Fall zu ihr reingehen, sondern sie bitten, draußen mit ihm zu reden. Karima öffnete die Tür und er sah, dass sie bis über die Ohren lächelte.
„Wir können...", setzte er an, doch weiter kam er nicht. Karima griff nach seinem Pulli und zerrte ihn beinahe herein. Jonathan war zu perplex, als dass er es verhindern konnte und auf einmal stand er in ihrem Flur. Sie schloss die Tür hinter ihm, dann umarmte sie ihn. Das alles war so schnell gegangen, dass er keine Chance gehabt hatte, zu reagieren. Genau so war es bei ihrem Kuss gewesen. Er schob sie unsanft von sich weg und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Lass uns doch ein Stück gehen", schlug er vor, ohne sie richtig anzusehen. Es behagte ihm gar nicht, in ihrem Haus zu sein.
„Nein, setz dich. Hier gibt es viele neugierige Nachbarn. Bitte", flehte sie und beinahe erwartete er, dass sie ihn wieder berührte, aber sie tat es nicht. Jonathan seufzte, doch dann nickte er. Um so schneller er das alles hinter sich hatte, um so besser.
Karima ging ihm voraus den Flur entlang bis ins Wohnzimmer. Erst da betrachtete er sie. Sie trug eine knallenge Jeans und eine rotes T-Shirt. Für sie war beides jedoch mindestens eine Nummer zu klein und er stellte es sich ziemlich unbequem vor.
Ohne es wirklich zu wollen sah er sich im Wohnzimmer um. Es war hübsch, der Boden war orangebraun gefliest und die Stühle am Esstisch und einige Beistelltischchen waren aus hellem Rattan. Jonathan hätte sich lieber an den Esstisch gesetzt, doch Karima steuerte auf das beigefarbene Sofa zu. Sie setzte sich und klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich. Widerwillig ließ Jonathan sich nieder, achtete aber darauf, dass zwischen ihnen ein angemessener Abstand war.
Doch Karima ignorierte seinen Wunsch nach Abstand und rutschte einfach näher an ihn heran. Abwehrend hob er die Hände und sah sie eindringlich an.
„Hey, ich wollte dir nur sagen, dass du aufhören sollst, mir zu schreiben. Ich meine es ernst, es wird niemals etwas zwischen uns sein", sagte er klar und deutlich und tatsächlich wich für einen Moment das Lächeln aus ihrem Gesicht und sie sah auf ihre Hände.
„Ich meine es ernst. Lass mich bitte in Ruhe", setzte er nach, woraufhin Karima seufzte. Dann hob sie den Blick wieder und er glaubte, in ihren Augen etwas Wahnsinniges zu sehen.
„Bist du dir wirklich ganz sicher?", fragte sie nach, doch anstatt die Augen zu verdrehen, nickte er.
„Na gut. Hast du dir meine Bilder angesehen?", fragte sie, woraufhin er den Kopf schüttelte.
„Nein, nur die ersten drei", antwortete er und sie stieß einen erstickten Laut aus.
„Vielleicht überlegst du es dir anders, wenn du sie gesehen hast", versuchte sie es weiter, doch Jonathan schüttelte vehement den Kopf.
„Du bist nicht mein Typ", sagte er, dann wollte er aufstehen. Es hatte keinen Sinn, mit ihr zu diskutieren und er bereute es, hierher gekommen zu sein.
„Nein, warte!", rief sie beinahe erschrocken aus und legte ihm eine Hand auf den Arm. Jonathan hielt inne, doch dann schob er ihre Hand bestimmt weg.
„Hör auf damit", sagte er, doch Karima rutschte mit einer schnelleren Bewegung, als er ihr zugetraut hatte, auf seinen Schoß und drückte ihn in die Kissen. Jonathan biss sie so fest auf die Zunge, dass er Blut schmeckte. Er würde sie nicht von sich herunter bekommen, ohne grob zu sein. Sie war kräftig gebaut, so ganz anders als Sheila und er konnte sie nicht so leicht einfach von sich schieben wie sie.
„Geh runter", forderte er, ohne sie anzusehen, aber natürlich bewegte sie sich nicht.
„Ich meine es ernst", setzte er nach, doch sie ignorierte ihn. Stattdessen spürte er ihre Hand an seiner Wange. Sie strich ihm mit dem Daumen darüber und er wurde panisch. Was er hier tat war falsch. Er packte ihren Arm und zwang sie so, seine Wange loszulassen. Doch sie wand sich aus seinem Griff und schmiegte sich an ihn. Er spürte ihren Atem an seinem Hals, aber war da noch etwas anderes.
Sie legte ihre Lippen daran und bevor er wirklich begriff, was sie da tat, spürte er es. Nun überfiel ihn blanke Panik und er stieß sie mit aller Kraft von sich hinunter, dass sie rücklings auf das Sofa fiel. Sie stieß einen erschrockenen Laut aus, doch Jonathan sprang auf, die Hand auf seinen Hals gepresst, der noch von ihrer Liebkosung feucht war. Er funkelte sie an und schüttelte dann langsam den Kopf.
„Schreib mir nie wieder", sagte er, dann marschierte er in Richtung Tür. Gerade als er sie öffnete, spürte er ihre Hand auf seiner Schulter. Er zwang sich, sie zu ignorieren und ging nach draußen. Noch immer hatte er seine Hand auf seinen Hals gepresst, wo sich ohne Zweifel ein Knutschfleck bilden würde.
Er rannte beinahe zu seinem Auto und sein Atem ging stoßweise. Wie sollte er das nur Sheila erklären? Sie würde ihm mit Sicherheit nicht glauben, wenn er mit einem Knutschfleck am Hals nach Hause kam, dass zwischen ihm und Karima nichts gelaufen wäre.
Jonathan erreichte sein Auto, setzte sich hinein und fuhr los. Hinterher rannte Karima ihm noch nach und das war das Letzte, was er nun gebrauchen konnte. Seine verletzte Hand klammerte sich ums Lenkrad und er genoss den stechenden Schmerz. Er hatte es wirklich verdient. Was hatte er sich nur dabei gedacht, hierher zu fahren? Es war doch eindeutig schon vorher klar gewesen, dass sie irgendetwas in diese Richtung versuchen würde. Sein Hals brannte an der Stelle, an dem sie ihn berührt hatte und er konnte schon Sheilas enttäuschtes Gesicht vor sich sehen.
Er flehte stumm, dass sie ihm glauben und verzeihen konnte, doch er war sich in diesem Moment nicht sicher. Immerhin hatten sie sich noch nie in einer solchen Situation befunden und weder er noch sie hatten einen Grund, wütend zu sein.
Unwillkürlich musste er daran denken, wie Sheila Ville im Ferienhaus geküsst hatte und sein Herz wollte ihm aus der Brust springen. Genau so würde Sheila sich fühlen, nur schlimmer. Denn bei ihr war es eine Art Köder gewesen. Auch wenn ihm durchaus bewusst war, dass sie damals noch irgendwie Gefühle für Ville gehabt hatte, fühlte sich das hier schlimmer an. Er war hinter ihrem Rücken zu Karima gefahren, obwohl er wusste, dass sie sich an ihn heranmachen würde. Seine Aktion kam ihm ziemlich ungeplant vor, denn er hätte es ganz anders aufziehen müssen. Er hätte mehr auf der Hut vor solchen Annäherungsversuchen sein müssen, um sie abzuwehren und nicht schon wieder einfach passieren lassen.
Jonathan beschleunigte, doch gleichzeitig wäre er am liebsten an den Straßenrand gefahren und für immer dort geblieben, damit er Sheila nicht von seinem miesen Verhalten erzählen musste. Doch ehe er es sich versah, parkte er seinen Wagen am Straßenrand und sah, dass Sheilas Parkplatz in der Einfahrt noch leer war. Tatsächlich erleichterte ihn das ein wenig, denn so konnte er sich noch etwas Gutes einfallen lassen, das sie davon überzeugte, dass er die Wahrheit sagte.
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