Kapitel 73 - Sheila

Sheila fühlte sich schlecht, dass sie Matthias daran erinnert hatte, was Oskar ihm angetan hatte, doch es war nötig gewesen, damit er aufwachte. Oskar hatte ihr selbst gesagt, dass Matthias es falsch verstanden und er damit nicht gemeint hatte, dass er auch noch solche Gefühle für ihn hatte. 

Zwar glaubte sie auch, dass zwischen den beiden eine Verbindung bestand, die der zwischen ihr selbst und Jonathan ähnelte, doch es waren keine romantischen Gefühle im Spiel. Zumindest keine ernsthaften. 

Sheila fuhr in Richtung der Wohnung von Matthias und Jonas und beobachtete, wie er seine Schnapsflasche in den Händen hin und her drehte. 

„Ich will deine Gefühle nicht herunterspielen, aber du weißt doch, wie es endet, wenn du Oskar zu sehr an dich heranlässt. Er wird dir Johnny immer vorziehen und dann sind ihm deine Gefühle egal. Du hast mit Jonas einen so tollen Freund. Er kümmert sich um deine Kinder und er respektiert dich", wiederholte sie ihre Worte von eben. Sie hatte gehofft, dass die Erinnerung daran, wie Oskar Johnny vorgezogen und Jonas ihn aus dem Loch gezogen hatte, ihm half. Ihr Gefühl hatte sie nicht getäuscht, denn tatsächlich schien das irgendetwas in ihm wachzurütteln. 

„Du hast ja recht und ich weiß es. Aber Oskar und ich stehen uns wieder so nah, dass mein Herz durcheinander ist. Es ist unfair Jonas gegenüber und wenn er es wüsste, wäre er verletzt", sagte er und seine Abgeklärtheit schien wie weggeblasen zu sein. 

„Du musst es ihm sagen. Er ist doch nicht doof, er wird es sowieso herausfinden", sagte sie eindringlich und Matthias nickte. 

„Vielleicht nicht heute. Aber... weißt du, woran ich gerade denken muss?", fragte er und Sheila sah ihn neugierig an. 

„Du darfst aber nicht durchdrehen", sagte er und sah sie ein wenig unsicher an. Sie nickte, denn sie wollte wissen, was ihm durch den Kopf ging. 

„Letztes Wochenende ist das alles doch nur rausgekommen, weil Ville damit gedroht hat, Johnny zu erzählen, dass zwischen Oskar und mir wieder mehr ist, als es angemessen wäre. Oskar hat mich sofort vergessen. Er würde mich links liegen lassen, wenn er somit seine Beziehung zu Johnny retten könnte", sagte er und es klang so, als wäre ihm das erst jetzt klar geworden. Sheila seufzte. 

„Stimmt. So wie er es mir erzählt hat, meinte er es auch nicht so, wie du es verstanden hast. Er hat sich mit Sicherheit schwammig ausgedrückt, aber er hat nicht solche Gefühle für dich. Setz doch nicht deine eigene Beziehung für so etwas aufs Spiel", erwiderte sie streng und hoffte, dass er es wirklich endlich begriff. Er stöhnte. 

„Ich weiß, es ist bescheuert. Aber ich frage mich immer was wäre, wenn Oskar Johnny damals wirklich für mich verlassen hätte", seufzte er, dann sah er aus dem Fenster. Sheila schluckte. Sie hatte nicht erwartet, dass Matthias nach all den Jahren immer noch so sehr an dieser Idee hing, etwas Ernsthaftes mit Oskar anzufangen. 

„Das hat er aber nicht. Es ist Schwachsinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich habe auch damit aufgehört mir vorzustellen, wie es wäre, wenn Ville mich nicht geschlagen hätte. Er hat es getan und das ist das, was zählt. Oskar hat dir mit seinen leeren Versprechungen das Herz gebrochen und er wird es wieder tun. Du musst daran denken, was du hast. Und das ist Jonas. Zumindest noch", sagte sie ernst, doch Matthias verzog das Gesicht zu einer Grimasse. 

„Hat er gesagt, dass er Schluss machen will?", fragte er und klang besorgt. 

„Nein, hat er nicht. Aber er meinte, dass er das nicht mehr lange durchhält. Er hat keine Ahnung, was in dir vorgeht und er zerbricht sich den Kopf darüber", erklärte sie und hoffte, dass es nicht zu spät war und er Jonas noch zurückgewinnen konnte. Matthias seufzte und raufte sich die Haare. 

„Am liebsten würde ich die Zeit zurückdrehen. Ich wünschte, Oskar hätte mir das alles nicht gesagt", stöhnte er, doch dann spürte Sheila seinen Blick auf sich. 

„Aber jetzt genug von mir. Warum habt ihr euch vorhin so angesehen, als du ihm gesagt hast, was ich gestern am Telefon gesagt habe?", fragte er und auf einmal klang er neugierig. Sheila fiel ein Stein vom Herzen, denn er schien zumindest in diesem Moment wieder der Alte zu sein. 

Dennoch zögerte sie, es ihm zu sagen. Wäre er nicht so ein Idiot gewesen, hätte sie es ihm mit Sicherheit gesagt, doch es war eine sensible Information, die eigentlich noch niemanden etwas anging. Es war doch noch viel zu früh. Matthias sah sie weiterhin durchdringend an und sie spürte, dass sie es aussprechen wollte. Sie wollte, dass er seinen Kommentar dazu abgab und sich für sie freute. Sheila bemerkte, dass sie schon in der Straße waren, in der Matthias wohnte und sie fuhr zuerst in eine Parklücke, bevor sie ihn ansah. Ihre Mundwinkel zuckten unwillkürlich nach oben. 

„Ich bin überfällig", sagte sie nur, dann suchte sie Matthias Blick. Sie sah in die Augen, die ihren so ähnlich waren und seit Tagen hatte sie endlich wieder das Gefühl, ihren Bruder zu sehen. 

„Echt?", fragte er in seinem gewohnt dümmlichen Ton, den sie zugegebenermaßen vermisst hatte. Sie lachte, doch dann spürte sie, wie ihr Tränen über die Wangen liefen. 

„Oh Mann! Und ich sage dir noch, dass ihr es bleiben lassen sollt", erwiderte er, beugte sich zu ihr hinüber und umarmte sie etwas unbeholfen. Sie schlang ebenfalls die Arme um ihn und es fühlte sich gut an. 

„Aber bitte sag es niemandem. Wirklich niemandem. Wir wollen erst am Sonntag den Test machen, wenn die Woche rum ist, in der meine Periode kommen sollte. Aber normalerweise fängt es Samstag oder Sonntag an und heute ist ja schon Dienstag", flüsterte sie an seinem Ohr und er nickte. 

„Okay. Danke, dass du mir das gesagt hast. Es tut mir wirklich leid, wie ich war. Aber ich muss dir auch noch etwas sagen, das unter uns bleiben sollte", sagte er und löste sich wieder von ihr. Neugierig sah sie ihn an. 

„Was denn?", fragte sie nach, als er stumm blieb. 

„Willst du vielleicht mit nach oben kommen? Dann kann ich es dir zeigen", fragte er und schnell nickte sie. Er sollte über seine Probleme reden und Sheila hoffte, dass er noch eine Weile so offen blieb. 

„Okay. Ich habe aber nicht aufgeräumt", sagte er, doch sie zuckte die Schultern. 

„Lass uns nach oben gehen", sagte sie und schnallte sich ab. Matthias tat es ihr gleich und gemeinsam gingen sie zu dem Haus, in dem er wohnte. Matthias kramte aus seiner Hosentasche seinen Haustürschlüssel und öffnete die Tür, dann lief er überraschend schnell die Treppe nach oben. Sheila folgte ihm und sie konnte seine Nervosität förmlich spüren. Als er seine Wohnungstür aufschloss, zitterten seine Hände, sodass er drei Versuche brauchte, um endlich die Tür aufzubekommen. Bevor er hineinging, warf er Sheila einen Blick über die Schulter zu, doch sie lächelte. 

„Es ist wirklich schlimm", sagte er, aber sie winkte ab. Sie wusste, dass er unordentlich war, genau wie sie selbst. Er atmete tief durch, wie um sich zu wappnen, dann betraten sie die Wohnung. Automatisch sah Sheila sich um, doch im Flur sah es noch recht normal aus. Zwar lagen seine Schuhe kreuz und quer durcheinander, doch es war noch nicht wirklich sehr unordentlich. Allerdings stieg ihr ein muffiger Geruch in die Nase. 

„Du könntest mal lüften", sagte sie und er nickte. Sie folgte ihm ins Wohnzimmer, wo er die Balkontür aufriss. Sheila stockte der Atem, denn sie hatte nicht erwartet, dass es so unordentlich war. Überall lag Zeug herum, benutztes Geschirr stapelte sich in der Spüle und überall lagen mehr oder weniger volle Flaschen herum. Allein auf dem kleinen Wohnzimmertisch standen vier leere Schnapsflaschen. Sie schlug die Hand vor den Mund, dann sah sie zu ihrem Bruder, der mit den Händen in den Hosentaschen dastand und sich offensichtlich alles andere als wohlfühlte. 

„Wie lange ist Jonas jetzt weg?", fragte sie, denn in den paar Tagen konnte es unmöglich so dreckig geworden sein. Er zuckte nur die Schultern, doch dann führte er sie nach draußen auf den Balkon, dem einzigen Ort, der nicht ganz so schlimm aussah. 

Sheila setzte sich an den kleinen Glastisch, der dort stand. Jonas Aschenbecher stand noch darauf, daneben ein Glas, das offensichtlich schon einige Male benutzt wurde. Matthias griff unter den Tisch und zog eine Flasche hervor. 

„Willst du auch was?", fragte er, doch Sheila schüttelte den Kopf. 

„Du solltest auch nichts trinken, wenn du Jonas anrufen willst", mahnte sie ihn, doch er ignorierte sie und kippte sich eine ordentliche Menge klaren Schnaps in der schmutzige Glas. Er kippte alles in einem Zug herunter, dann stand er auf und ging wieder nach drinnen. 

„Ich suche gerade was", nuschelte er und sie beobachtete, wie er Zeug hin und herschob, bis er einen ziemlich zerknitterten Zettel hervorzog und ihn gegen seine Brust presste und glattstrich. Er kam wieder zu ihr und schob ihr den Zettel über den Tisch zu. 

„Was ist das?", fragte sie, doch er machte eine Handbewegung, die ihr bedeutete, dass sie lesen sollte. Matthias stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Sheila ahnte, dass es etwas Schlimmes sein musste und sie betrachtete den Zettel genauer. 

Im Briefkopf war ein Logo und der Schriftzug, den sie als den eines Arztes erkannte. „Psychiatrische Klinik für Suchterkrankungen" stand darauf. Sheila hob panisch den Blick, doch Matthias starrte auf den Boden. Sie zwang sich, auch den Rest zu lesen, aber sie bekam eine Vorahnung. Es war ein Arztbericht und sie überflog den Text, bis sie zur Diagnose kam. Zunächst standen dort die ICD-10-Codes, mit denen sie jedoch nicht viel anfangen konnte, doch darunter stand ein Text. Mit jedem Wort, das sie las, sank ihr das Herz weiter in die Hose. Obwohl sie den Text bereits zwei Mal gelesen hatte, begriff sie nicht, was da stand. 

„Was heißt das?", fragte sie, doch Matthias seufzte nur, dann legte er die Hand auf die Augen und schluchzte. Sheila sah noch einmal auf das Blatt. Hier stand im Prinzip, dass er alkoholsüchtig war, so viel hatte sie verstanden. Matthias wischte sich den Rotz mit dem Ärmel ab, dann griff er nach dem Zettel. 

„Ich war heute bei einem Arzt. Jonas wollte das schon länger, aber ich habe mich bisher immer geweigert. Aber er hatte recht. Der Arzt meinte, dass ich Alkoholiker bin und ich einen Entzug machen muss. Ich soll in eine Klinik", sagte er und sah sie hilfesuchend an. 

Sheila schluckte. Sie wusste, dass er viel trank und auch schon oft über das Ziel hinausgeschossen war, doch dass es wirklich die Ausmaße einer Sucht angenommen hatte, war ein Schock. Es bedeutete doch, dass er ohne Hilfe nicht mehr aufhören konnte. 

„Weiß das schon jemand?", fragte sie, woraufhin er den Kopf schüttelte. 

„Ich muss morgen noch einmal zum Arzt, damit wir alles besprechen können. Er meinte, dass es bei mir früh genug erkannt wurde und man es noch gut behandeln könnte, wenn ich mich darauf einlasse", erklärte er. 

„Das ist doch schon mal gut. Wie lange sollst du in die Klinik?", fragte Sheila, doch Matthias riss den Kopf herum und sah sie geschockt an. 

„Du findest es nicht schlimm?", fragte er und sie schüttelte langsam den Kopf. Hatte er wirklich gedacht, dass sie ihn verurteilen würde? Sie selbst war mehrere Male in Klinken gewesen und wenn sie ehrlich war, hatte es ihr immer geholfen. Zumindest dann, wenn sie nicht alle Angebote verweigert hatte. 

„Nein, wieso sollte ich? Es war richtig, dass du dir hast helfen lassen", sagte sie, doch er schnaubte. 

„Ich habe es nur gemacht, damit ich es Jonas zeigen kann", erwiderte er, doch Sheila lächelte. 

„Das ist gut. Es zeigt, dass er dir wichtig ist. Er wird stolz auf dich sein, glaub mir", versuchte sie ihn aufzumuntern und hoffte, dass sie Jonas richtig einschätzte. 

„Wird er nicht. Er wird enttäuscht sein", widersprach er, doch Sheila schüttelte den Kopf. 

„Ruf ihn an und du wirst es erfahren", schlug sie vor, aber er sah sie nur ängstlich an. 

„Kannst du vielleicht...", setzte er an, brach den Satz jedoch ab. 

„Soll ich gehen?", fragte sie, doch panisch schüttelte er den Kopf. 

„Nein, ich meine... kannst du noch hier bleiben, während ich ihn anrufe? Und mir vielleicht ein bisschen beim Aufräumen helfen, falls er kommt?", fragte er. Sheila nickte. Ihr war klar, dass es ihn ganz schön Überwindung gekostet haben musste, sich ihr anzuvertrauen. 

„Okay, ich rufe ihn mal an", sagte er dann und zog sein Handy aus der Hosentasche. Er wählte seine Nummer und Sheila lauschte angestrengt. Es dauerte lange, doch schließlich meldete Jonas sich. Matthias warf noch einmal einen hilfesuchenden Blick zu ihr und sie nickte ihm aufmunternd zu. 

„Hey, ich bin's. Können wir reden?", fragte er und Sheila sah, dass seine Hände zitterten. Sie hörte, dass Jonas etwas sagte, doch es war zu leise, als dass sie es hätte verstehen können. 

„Okay, dann... bis gleich. Ich liebe dich", sagte er, anschließend legte er auf. Matthias sah sie an und irgendwie sah er geschockt aus. 

„Er meinte, er ist in einer Stunde da und bringt was zu Essen mit", berichtete er, dann zuckten seine Mundwinkel. 

„Siehst du! Na los, du gehst duschen und ich räume hier ein bisschen auf", sagte sie und erhob sich. Matthias nickte und stolperte nach drinnen, offensichtlich war er aufgeregt. Sheila fing an, die ganzen leeren Flaschen einzusammeln. Sie stellte sie in eine Klappkiste und sie nahm sich vor, sie gleich mitzunehmen und auf dem Weg in den Glascontainer zu werfen. 

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