Kapitel 72 - Jonathan
Jonathan ließ Matthias keine Sekunde aus den Augen. Es schien ihm wirklich alles leid zu tun. Zumindest saß er wie ein Häufchen Elend in dem Sessel, die Hände zwischen die Knie geklemmt.
Jonathan legte den Arm um Sheila, die sein Knie ein wenig fester drückte, doch dann herrschte einen angespannte Stille. Gerade als er glaubte, dass von Matthias nichts mehr kommen würde, atmete er tief ein und aus, doch dann hielt er noch einen Moment inne, bis er endlich anfing zu sprechen.
„Tut mir leid, was ich gestern am Telefon gesagt habe", sagte er, woraufhin Sheila mit der Zunge schnalzte.
„Das hast du schon gesagt. Warum bist du so gemein? Was war der Auslöser?", bohrte sie weiter, doch Jonathan wollte wirklich gern wissen, was er am Telefon zu ihr gesagt hatte. Er wusste, dass Sheila ihm etwas verschwiegen hatte.
„Moment, was hast du am Telefon genau gesagt?", fragte Jonathan Matthias, der erschrocken den Kopf zu ihm herumriss. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, so direkt angesprochen zu werden. Sheila versteifte sich und sie stieß ihn kaum merklich mit dem Ellbogen an.
„Du hast es ihm nicht gesagt?", fragte Matthias dann und er klang unüberhörbar erleichtert. Sheila seufzte.
„Nicht alles. Deinen Tipp habe ich weggelassen", berichtete sie und Matthias machte ein ersticktes Geräusch.
„Was für einen Tipp?", hakte Jonathan nach und er spürte, wie er wütend wurde. Beziehungsweise noch wütender.
„Er hat gesagt, dass ich meine Probleme nicht bei ihm abladen soll", fing sie an und Jonathan nickte.
„Ja, soweit waren wir schon", gab er zurück und forderte Sheila mit seinem Blick auf, es endlich zu sagen.
„Er meinte, wenn ich bis jetzt noch nicht schwanger bin, sollen wir es bleiben lassen", flüsterte sie, dann griff sie nach seiner Hand. Jonathan schluckte. Doch es schmerzte nicht so sehr, wie es das noch gestern getan hätte. Sheila suchte panisch seinen Blick und ihm war klar, dass sie es Matthias noch nicht sagen wollte. Er schloss für einen Augenblick die Augen und hoffte, dass er es richtig deutete. Jonathan wandte den Blick wieder zu Matthias und funkelte ihn an. Dieser rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her.
„Jetzt erzähl schon. Alles von Anfang an. Oskar hat mir schon ein bisschen was erzählt, aber ich bin sicher, dass deine Version anders ist als seine", forderte Sheila ihn auf und Jonathan war überrascht von ihrem strengen Ton. Matthias räusperte sich, doch er wirkte, als wollte er es hinter sich bringen.
„Okay, aber... ach was, ihr seid sowieso schon sauer. Es hat wohl angefangen, als Oskar und ich wieder enger Kontakt hatten. Wir haben uns öfter getroffen und konnten über alles reden. Es war beinahe so wie früher", fing er an. Jonathan wusste aus Sheilas Erzählungen, dass die beiden früher wie Brüder gewesen waren, bis die beiden so etwas wie eine Affäre hatten.
„Naja, wir waren bei mir zu Hause. Jonas war auch da, aber er hat irgendetwas im Schlafzimmer an seinem Laptop gemacht. Oskar meinte, dass er froh ist, dass wir uns wieder so gut verstehen und er mich nicht mehr verlieren will. Er meinte, dass ich einer der wichtigsten Menschen in seinem Leben bin und dann hat er mich so angesehen. Dieser Blick hat in mir etwas wachgerüttelt, von dem ich dachte, es wäre längst vergessen. Ich... ich dachte wirklich, ich habe keine Gefühle mehr für ihn, aber irgendwie scheinen wir doch...", fuhr er fort, brach aber ab und vergrub das Gesicht in den Händen.
Jonathan warf einen Blick zu Sheila, die genauso geschockt aussah, wie er sich fühlte. Wollte Matthias etwa sagen, dass er glaubte, er und Oskar gehörten zusammen? Sicher, die beiden waren wirklich sehr vertraut miteinander, doch Jonathan hatte nie das Gefühl gehabt, dass sie als Paar zusammenpassen würden. Anders als bei Matthias und Jonas.
„Hat er dir das Gefühl gegeben, dass zwischen euch wieder mehr sein könnte?", fragte Sheila nach, doch Matthias schüttelte den Kopf, ohne die Hände von Gesicht zu nehmen. Erst nach ein paar Sekunden stöhnte er und nahm die Hände wieder herunter.
„Ich weiß, dass er es anders gemeint hat. Für ihn bin ich eher wie ein Bruder, aber dass ich ihm anscheinend so viel bedeute, hat mich durcheinander gebracht. Er hat mir das Herz gebrochen und ich war bisher auch glücklich mit Jonas. Aber seit diesem Tag muss ich immer daran denken, wie es sein könnte. Wenn es Jonas nicht gäbe, wenn es Johnny nicht gäbe, sondern nur mich und ihn. Gleichzeitig weiß ich, dass er nicht so für mich empfindet und dass es gleichzeitig auch irgendwie komisch wäre. Aber ich bekomme diesen Gedanken nicht mehr aus meinem Kopf. Deswegen habe ich ein schlechtes Gewissen Jonas gegenüber. Und auch Johnny, dass ich Gedanken daran habe, ihm den Mann auszuspannen. Das macht mich alles so verrückt. Wenn ich trinke, hilft es mir, das alles zu vergessen. Aber irgendwie ist das außer Kontrolle geraten. Noch mehr als ohnehin schon, meine ich", berichtete er dann und Jonathan konnte den Schmerz in seinem Blick nur zu gut erkennen.
„Warum verschwendest du Gedanken an Oskar? Du bist glücklich mit Jonas und er war es bisher auch, da bin ich mir ziemlich sicher", sagte Sheila, doch Matthias warf ihr einen zornigen Blick zu. Jonathan gefiel die Situation ganz und gar nicht, denn Matthias wirkte, als wollte er etwas Gemeines sagen. Er zog Sheila näher an sich, damit sie wusste, dass er für sie da war, egal was aus Matthias Mund kommen würde.
„Warum verschwendest du Gedanken an Ville? Ich dachte, du bist glücklich mit ihm", sagte Matthias eiskalt und machte dann eine Kopfbewegung in Jonathans Richtung, die ziemlich abwertend wirkte.
Jonathan spürte, wie seine Hand anfing zu zittern. Es war bescheuert, doch er musste an Sheilas Text denken, den er durch Zufall gelesen hatte. Auch da ging es um ihre Gefühle für Ville.
„Bitte?", hörte er sie sagen, doch sie klang schwach und verletzlich.
„Warum sonst seid ihr am Wochenende so durchgedreht? Wenn er dir egal wäre, hättest du ihn einfach ignoriert", sagte Matthias und klang dabei seltsam berechnend. Normalerweise war er gar nicht so, sondern er ließ sich genau wie Sheila von seinen Gefühlen leiten. Was ihn durchaus schon mal in Schwierigkeiten brachte, doch er hatte das nur gesagt, um Sheila und auch ihn zu verletzten. Jonathan beugte sich nach vorn und funkelte ihn an. Matthias erwiderte vollkommen ungerührt seinen Blick.
„Hör auf, von dir abzulenken. Seit wann bist du so kalt und berechnend? Hast du dir wohl von Oskar abgeguckt, denn er ist genau so", sagte Jonathan und es klang dabei irgendwie wie eine Drohung. Eine Sekunde lang flackerte etwas in Matthias Augen auf, doch dann setzte er seine Maske wieder auf.
„Ich lenke nicht von mir ab, ich sage nur, wie es ist", konterte er, aber es war gelogen, das sah Jonathan.
„Na gut, wie auch immer. Aber warum ignorierst du Esra? Warum bist du so abweisend zu Jonas? Er ist vollkommen fertig deswegen", durchbrach Sheila die angespannte Situation. Matthias unterbrach den Blickkontakt mit ihm und wandte sich dann seiner Schwester zu. Doch bevor er antworten konnte, tat Sheila etwas Unerwartetes. Sie löste sich von Jonathan und ging auf Matthias zu. Sie setzte sich auf die Armlehne des Sessels, umarmte ihn fest und sagte etwas auf Armenisch zu ihm. Jonathan wusste nicht, was sie sagte, doch es schien zu ihm durchzudringen. Matthias sah geschockt aus, dann lief ihm eine Träne über die Wange. Jonathan musterte ihn aufmerksam, bereit, Sheila von ihm wegzuziehen. Doch Matthias wischte sich die Träne weg, dann nickte er. Sheila ließ ihn wieder los und setzte sie sich wieder neben Jonathan, der sofort beschützend den Arm um sie legte.
„Ich mache mich dann mal auf den Weg. Ich sollte Jonas suchen. Und dann zu Esra fahren", sagte er und Jonathan sah Sheila überrascht an. Was hatte sie nur zu ihm gesagt?
„Gute Idee. Denk dran, dass Oskar es wirklich nicht so gemeint hat, wie du denkst. Es hat keine Zukunft und das weißt du. Zwischen euch wird nie mehr als Freundschaft sein. Es würde Johnny zerbrechen", sagte sie, woraufhin Matthias nickte.
„Stimmt, ich bin ein Idiot", erwiderte er, dann stand er auf und kam zu Jonathan. Er hielt ihm die Hand hin und etwas verwirrt nahm Jonathan sie.
„Tut mir leid. Ich war ein Arsch", sagte er und Jonathan nickte.
„Allerdings", gab er zurück, dann ließ er seine Hand wieder los. Anschließend wandte Matthias sich Sheila zu und eine ganze Weile sahen sie sich einfach nur an.
„Ich mache mich dann mal auf den Weg", sagte er, doch Sheila legte den Kopf schief.
„Ich kann dich fahren", schlug sie vor, doch er lehnte ab.
„Bist du sicher? Bis zu dir nach Hause ist es zu Fuß ein ganz schönes Stück", bemerkte sie und Jonathan musste zugeben, dass es ihm wohler wäre, wenn Sheila ihn nach Hause bringen würde. Auch wenn er lieber mit ihr zusammen wäre, schien es doch gemein, ihn zu Fuß nach Hause zu schicken.
„Na gut. Meine Flasche ist auch noch in deinem Auto", sagte Matthias schließlich und wandte sich zum Gehen.
„Ich komme gleich", sagte Sheila und sah ihm nach, bis er in den Flur verschwunden war, dann drehte sie sich zu Jonathan um und sah ihm tief in die Augen.
„Ich erzähle es dir nachher, versprochen. Aber ich glaube ich weiß, wie ich zu ihm durchdringe, ohne dass er sich zurückzieht. Ich komme so schnell es geht zurück", flüsterte sie, dann spürte er ihre Lippen auf seinen.
„Okay, aber pass auf dich auf", sagte er und sie nickte, dann lief sie ihrem Bruder hinterher.
Jonathan ließ sich erschöpft auf das Sofa fallen, doch er war nur verwirrt. Eigentlich hatte er nichts Neues erfahren, denn dass Oskar das alles ausgelöst hatte, war ihm schon klar gewesen. Doch noch immer begriff er nicht, warum Matthias so überreagierte. Jonathan hörte ein Motorengeräusch und warf einen Blick nach draußen und beobachtete, wie Sheila ihren Wagen aus der Einfahrt lenkte und dann davon fuhr.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top