Kapitel 45 - Sheila
Sheila war ein wenig nervös, denn sie wusste, dass Jonathan es nicht mögen würde. Doch er würde es erst erfahren, wenn es zu spät war. Sie schlenderte zu ihrem Vater und sah gerade noch, wie Lisa in ihrem Auto mit den Kindern wegfuhr.
Sheila klingelte und beinahe sofort öffnete ihr Vater ihr die Tür. Wahrscheinlich hatte er gerade noch Lisa verabschiedet, dennoch zuckte Sheila zusammen.
„Ach du bist es", sagte er und klang ein wenig enttäuscht, doch dann winkte er sie hinein.
„Wen hast du denn erwartet?", fragte sie und lachte leise.
„Lisa ist mit den Kindern zu irgendeinem Fest im Kindergarten unterwegs und ich dachte, sie hätten etwas vergessen", erklärte er, dann ging er ihr voraus in die Küche. Sheila blieb jedoch an die Küchentheke gelehnt stehen, die den Küchen- vom Essbereich trennte.
„Kaffee?", fragte Darren und eilig nickte sie. Er hantierte mit der Kaffeemaschine herum und keine drei Minuten später reichte er ihr eine Tasse dampfenden Kaffee.
„Kann ich dich mal was fragen?", setzte sie an, denn sie wollte es schnell hinter sich bringen, bevor sie es sich noch anders überlegte.
„Was denn?", fragte ihr Vater und lehnte sich von der anderen Seite ihr gegenüber an die Theke. Er musterte sie aufmerksam, doch Sheila wand sich. Zweifel überkamen sie, aber Jonathan würde es hoffentlich verstehen. Sie atmete noch einmal tief durch, dann sprach sie es einfach aus.
„Jonathan ist im Moment ziemlich frustriert, weil es mit seiner Arbeit nicht wirklich so läuft, wie er es sich gewünscht hat. Er hat in den letzten drei Monaten nicht wirklich viel verdient, aber er will unbedingt seine eigene Musik weitermachen. Ich habe mir gedacht, dass du vielleicht ein wenig Werbung für ihn machen könntest", sagte sie und spürte, wie ihre Hand anfing zu zittern.
Ihr Vater war doch ziemlich bekannt und er konnte machen, was immer ihm gefiel, denn er hatte genug Fans, die seine Musik cool fanden aus dem einfachen Grund, dass sie von ihm war. Ihr Vater war nicht sehr aktiv auf den sozialen Medien, doch hin und wieder postete er Lieder von jungen Künstlern, die er unterstützen wollte. Es würde sich mit Sicherheit für Jonathan lohnen und vielleicht konnte er so ein paar mehr Leute erreichen.
„Klar, kann ich machen. Ist es mit ihm abgesprochen?", fragte er dann und klang dabei, als kannte er die Antwort bereits.
„Er hat keine Ahnung, aber... er ist unter anderem deswegen in der letzten Zeit so genervt und wir streiten oft. Ich will nur, dass wieder alles so ist wie früher", sagte sie und auf einmal kam ihr ihre Idee bescheuert vor.
„Wann veröffentlicht er etwas neues?", fragte ihr Vater dann. Sheila sah ihn überrascht an, denn obwohl er bereits zugesagt hatte, war sie noch immer nicht ganz sicher, ob er es auch wirklich tun würde.
„Er hat gestern ein Video fertig bearbeitet und wollte es heute hochladen", antwortete sie, woraufhin ihr Vater ihr mit einer Kopfbewegung bedeutete, ihr in sein Arbeitszimmer zu folgen. Sheila griff nach ihrer Tasse und nahm sie, ebenso wie ihr Vater, mit in den Keller, wo er sich ein Studio eingerichtet hatte. Er stellte seine Tasse auf seinen Schreibtisch und fuhr den Computer hoch.
„Hoffentlich wird er nicht wütend", seufzte Sheila, doch Darren winkte ab.
„Es ist eine Sache, gute Musik zu machen. Die andere Sache und vielleicht auch die wichtigere ist, sich zu vermarkten. Ich helfe euch gerne. Wenn er sich beschweren will, schick ihn zu mir", erwiderte Darren, dann rief er Jonathans Kanal auf. Tatsächlich hatte er vor zwanzig Minuten das Video hochgeladen.
„Ist es gut?", fragte ihr Vater dann und schnell nickte sie.
„Ja, ist es wirklich", bestätigte sie, woraufhin Darren es anklickte. Obwohl Jonathan durch die Kamera ein wenig anders aussah, konnte sie den Glanz in seinen Augen erkennen. Er wirkte lebendiger.
„Es ist wirklich gut, er sollte viel selbstbewusster sein", kommentierte Darren, dann teilte er das Video in den sozialen Medien. Es dauerte keine fünf Minuten und doch würden diese Minuten Jonathan hoffentlich die Anerkennung bringen, die er verdiente.
„Danke", sagte sie und umarmte ihren Vater kurz, doch er winkte nur ab.
„Schon okay. Ich helfe gerne, das weißt du doch", sagte er, dann erhob er sich von seinem Stuhl und deutete auf ihr Gesicht.
„Was macht deine Verletzung?", fragte er ernst, woraufhin Sheila unwillkürlich die Hand an ihre Wange legte.
„Ach, es ist gar nicht mehr schlimm. Jonathan hat mich ja verteidigt", sagte sie und grinste in sich hinein. Darren seufzte, dann gingen sie wieder nach oben, wo sie sich auf dem riesigen grauen Sofa niederließen.
„Und sonst? Ist alles in Ordnung zwischen euch?", fragte er und Sheila nickte schnell. Vielleicht ein wenig zu schnell, denn als wollte ihr Hirn sie ärgern fiel ihr die Sache mit dem Kuss wieder ein. Doch schnell zwang sie sich zu einer Antwort, bevor ihr Vater misstrauisch wurde.
„Ja, es ist alles gut. In den letzten fünf oder sechs Wochen war er irgendwie genervt und wir haben ein paar Mal gestritten, aber es ist alles wieder gut, es geht ihm wieder besser. Aber gestern habe ich etwas gefühlt, was ich bei ihm noch nie hatte", setzte sie an, doch dann zögerte sie. Normalerweise fiel es ihr nicht schwer, mit ihrem Vater über ihre Gefühle und Gedanken zu sprechen, gleichzeitig wollte sie nicht, dass er schlecht von Jonathan dachte. Er konnte nichts dafür, dass Karima ihn anscheinend irgendwie mochte. Oder hasste, denn eigentlich brachte sie ihn durch ihre Lügen nur in Schwierigkeiten.
„Willst du darüber reden?", fragte er und langsam nickte sie.
„Ich weiß, dass es blödsinnig ist, aber ich war gestern kurz eifersüchtig. Eigentlich wusste ich, dass ich es nicht sein muss, aber... Ich weiß nicht, es hat sich schrecklich angefühlt", berichtete sie, doch ihr Vater sah sie nur verwirrt an.
„Warum bist du eifersüchtig geworden?", hakte er nach, dann erzählte Sheila ihm die ganze Geschichte von dem Kuss und der Lügengeschichte, die Karim ihr erzählt hatte.
„Als er morgens nicht da war, habe ich mir Sorgen gemacht. Es war ein Zufall, dass sie behauptet hat, dass sie sich genau an diesem Morgen treffen wollten, aber ich bin misstrauisch geworden und habe ihn angeschnauzt", beendete sie ihren Redefluss. Eine Weile schien ihr Vater nachzudenken, bis er sie anlächelte.
„Es ist okay, wenn man ein bisschen eifersüchtig ist. Solange es nicht in unbegründete Unterstellungen ausartet. Wie hat er denn reagiert?", wollte er wissen und Sheila dachte nach.
„Ganz ruhig eigentlich. Zuerst war er überrascht, dass ich das gefragt habe, aber dann hat er ganz ruhig erklärt, dass er sich niemals mit ihr treffen würde und er sich auch eigentlich gar nicht gut mit ihr verstanden hat", berichtete sie und bekam sofort wieder ein schlechtes Gewissen, dass sie ihn so angefahren hatte.
„Das ist doch gut. Ich glaube nicht, dass du dir bei ihm Sorgen machen musst. Wenn ihr zusammen seid, scheint er nur Augen für dich zu haben. So lange ihr über alles sprechen könnt und ihr glücklich seid, wüsste ich nicht, warum du dir ernsthafte Sorgen machen müsstest", sagte er und auf einmal kam Sheila sich vor wie in einer ihrer vielen Therapiesitzungen.
„Ich mache mir auch eigentlich keine Sorgen. Es war nur eine blöde Situation", sagte sie, trank den letzten Schluck Kaffee aus ihrer Tasse und stellte sie auf dem Couchtisch ab.
„Aber mal was anderes: Hat Matthias dich angerufen?", fragte er schließlich und Sheila dachte einen Moment lang nach.
„Ich habe Sonntag kurz mit ihm telefoniert, aber in der letzten Zeit erzählt er mir nicht mehr so viel", erklärte sie und spürte einen kleinen Stich im Herz. Sie und ihr Bruder hatten sich eigentlich immer sehr nahe gestanden, doch irgendwie schien er in der letzten Zeit andere Dinge im Kopf zu haben.
„Ist denn irgendetwas passiert?", fragte sie und musterte ihren Vater aufmerksam.
„Nein, nicht wirklich passiert. Ich habe nur das Gefühl, dass er die ganze Zeit kurz vor einem Zusammenbruch steht. Nicht, dass er unglücklich ist, aber es passiert immer so viel", erklärte er dann und zog sorgenvoll die Augenbrauen zusammen.
„Dass Esra ihm verbieten wollte, die Kinder zu sehen, hat ihn ziemlich fertig gemacht", erinnerte sie sich und ihr Vater nickte.
„Ja, allerdings. Aber ich mache mir wegen etwas anderem Sorgen", setzte ihr Vater an, doch bevor er weitersprach trank auch er seinen Kaffee aus und stellte die Tasse neben ihre. Sheila wartete geduldig, bis er weitersprach.
„Du weißt doch, dass er schon immer viel getrunken hat. Seit einem halben Jahr ungefähr scheint es wirklich bedenkliche Ausmaße anzunehmen. Ich glaube im letzten Monat hat Jonas mich sieben Mal angerufen, weil er nicht mehr wusste, was er mit ihm machen sollte. Entweder war er so betrunken, dass die Polizei ihn mitnehmen wollte oder er hat sich zu Hause volllaufen lassen und einen Nervenzusammenbruch bekommen", berichtete er. Sheila sah ihn ungläubig an. Wie hatte sie nicht mitbekommen können, dass es so ernst mit Matthias war?
„Weißt du, warum er so viel trinkt? Wenn er dich in einem Monat sieben Mal angerufen hat, dann trinkt er anscheinend nicht nur am Wochenende, wenn sie weggehen. Das muss doch einen Grund haben", überlegte sie laut, doch ihr Vater hob resignierend die Hände und seufzte.
„Ich weiß es nicht. Jonas kommt nicht mehr wirklich an ihn heran und auch mit mir spricht er nicht. Anscheinend entfernt er sich auch von dir. Ich habe ehrlich gesagt ein wenig Angst um ihn", sagte ihr Vater dann und Sheila musste einen Kloß in ihrer Kehle hinunter schlucken. Sie wusste, dass ihr Bruder schon seit er achtzehn war mehr oder weniger regelmäßig einen über den Durst trank. Doch sie hatte nie den Eindruck gehabt, dass er es tat, um seine Probleme zu ertränken.
„Wie reagiert er denn, wenn man ihn direkt darauf anspricht?", fragte sie, woraufhin ihr Vater nur den Kopf schüttelte.
„Bei Jonas macht er komplett dicht. Ich habe ihn auch schon mehrmals gefragt, aber er meint nur, dass es mich nichts angeht und ich ihm sowieso nicht helfen kann. Irgendetwas ist da, das ihn fertig macht, aber keiner weiß was. Objektiv gesehen geht es ihm doch gut, aber anscheinend hat er innere Dämonen, gegen die er kämpft", sagte er und klang dabei vollkommen hilflos. Sheila konnte es nur zu gut verstehen.
„Hat Oskar schon versucht, mit ihm zu sprechen?", schlug sie vor, doch der Blick ihres Vaters verriet ihr die Antwort.
„Vielleicht kann ich mal mit Oskar über ihn sprechen. Er kennt ihn wirklich gut und du weißt, wie gut Oskar darin ist, jemandem an den Augen die Probleme und Gedanken abzulesen. Vielleicht bekommt er etwas raus", schlug sie schulterzuckend vor, doch ihr Vater sah nicht wirklich überzeugt aus.
„Ich will auch nicht, dass er denkt, ich hätte alle möglichen Leute auf ihn angesetzt. Aber so kann es ja auch nicht weitergehen. Hinterher verliert er noch seine Arbeit oder Esra will ihm die Kinder wirklich nicht mehr geben, weil er sich betrinkt, wenn sie da sind. Was ich absolut verstehen kann. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich mit ihm tun soll", stöhnte er und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht.
„Ich versuche mal, mit ihm zu reden. Vielleicht fällt mir irgendetwas ein, wie ich es geschickt ansprechen kann", schlug sie vor, doch eigentlich glaubte sie nicht daran, dass er sie nicht sofort durchschauen würde.
„Ja, versuchen sollten wir es auf jeden Fall weiter. Vielleicht macht es bei ihm irgendwann Klick und er sieht ein, dass es so nicht weitergeht und wir ihm nur helfen wollen", sagte er dann, bevor er noch einmal tief durchatmete und die Schultern straffte.
„Aber mal was anderes: Hast du eine Idee, was wir Jonathan zum Geburtstag schenken könnten?", fragte Darren und setzte ein gezwungenes Lächeln auf. Sheila erwiderte es, denn es war offensichtlich, dass ihr Vater nicht länger über Matthias nachdenken wollte.
Sie dachte an das Geschenk, das sie für ihn besorgt hatte. Sie versteckte es schon seit ein paar Wochen vor ihm im Bügelzimmer. Wobei, es war eigentlich so klein, dass er es auch in ihrem Kleiderschrank nicht gefunden hätte, aber sicher war sicher. Doch sie konnte es unmöglich ihrem Vater sagen, das wäre einfach zu peinlich.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top