Kapitel 18 - Jonathan

Jonathan sah immer wieder zu seinen beiden Nichten. Aaliyah schien tief und fest zu schlafen, doch Duygu hatte noch nicht einmal die Augen geschlossen. Jonathan legte sich in die Mitte der beiden und Duygu lag auf der Seite, das Gesicht ihm zugewandt. Er sah an ihrem Blick, dass es in ihr arbeitete. Sie begriff sicherlich schon ganz gut, was passiert war. 

„Danke, dass du uns gestern geholfen hast", sagte sie mit leiser Stimme, doch er winkte ab. 

„Das war doch selbstverständlich", erwiderte er und warf einen schnellen Blick zu Aaliyah, die jedoch friedlich weiterschlief. 

„Hoffentlich wirft Mama ihn jetzt raus. Sonst gehe ich nicht zurück", sagte sie in ernstem Ton und er bemerkte, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. 

„Willst du erzählen, was bei euch zu Hause los ist?", fragte er und kurz schien sie darüber nachzudenken. Schließlich schüttelte sie den Kopf. Auf der einen Seite war Jonathan erleichtert, denn er wusste nicht so recht, wie er auf ihren Bericht reagieren sollte und andererseits war er sich sicher, dass es ihr helfen würde, das alles zu verarbeiten. 

„Ich sollte auch ein bisschen schlafen", sagte sie dann und schloss die Augen. 

„Okay", erwiderte er und krabbelte möglichst leise aus dem Bett. Er machte sich auf den Weg nach unten, doch bevor er das Zimmer verließ, warf er noch einmal einen Blick zu den beiden. Sie rührten sich nicht mehr und er beschloss, sie erst einmal in Ruhe schlafen zu lassen.

Er fand den Flur im ersten Obergeschoss leer vor, also ging er nach ganz unten ins Wohnzimmer. Sheila lag allein auf dem Sofa, das Kühlpack wieder an ihrer Wange. Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung. Er warf einen Blick aus dem Fenster zum Garten, wo er Matthias mit dem Telefon in der Hand auf und ab wandern sah. 

„Er versucht Jonas zu erreichen, aber der ist auf der Arbeit", sagte Sheila und beim Klang ihrer Stimme zuckte er ein wenig zusammen. Schnell ging er zu ihr und sie rutschte ein wenig mehr an die Seitenlehne des Sofas, damit er sich setzen konnte. Er legte seine Hand auf ihre Hüfte und er spürte, wie sie ihre Hand auf seine legte. 

„Können sie vielleicht ein paar Tage hier bleiben?", fragte sie und er nickte. Obwohl er lieber mit ihr allein gewesen wäre, vor allem weil sie beide im Moment genug Stress hatten, würde er sie nicht zu diesem Mistkerl zurückschicken. 

„Vielleicht können sie auch bei Matthias unterkommen, aber seine Wohnung ist nicht so groß", fuhr sie fort, als könnte sie seine Gedanken lesen. 

„Nein, schon okay. Sie können bleiben, so lange sie wollen. Wie konnte Esra nur an so einen Typen geraten?", fragte er ungläubig, doch Sheila sah ihn nur mit hochgezogenen Augenbrauen an. 

„Das ist manchmal schwer zu verstehen. Aber es ist...", setzte sie an, doch dann unterbrach sie sich und wandte den Blick zur Seite. Er wusste, was sie sagen wollte, denn auch sie war einmal mit einem Typen zusammen gewesen, der nicht gut für sie war. Und das sogar zwölf Jahre lang. Manchmal war es irgendwie merkwürdig mit der Liebe, denn er erinnerte sich noch gut daran, wie schwer es ihr gefallen war, von ihm loszukommen, obwohl er sie geschlagen und noch viel Schlimmeres mit ihr gemacht hatte. 

„Wie auch immer. Ich versuche mich noch ein bisschen auszuruhen, ich habe nicht wirklich viel geschlafen heute Nacht. Esra schläft in meinem Bett", erklärte sie und schloss die Augen. 

„Okay. Schlaf noch was", sagte er und küsste sie auf die Stirn. Sheila legte mit noch immer geschlossenen Augen die Hand in seinen Nacken und zog ihn zu sich herunter. Vorsichtig küsste er sie, denn er wollte ihr nicht an ihrer verletzten Wange wehtun. Doch sie intensivierte den Kuss und er stieß einen kleinen überraschten Laut aus. Als er sich von ihr löste, schlug sie die Augen wieder auf. 

„Ich liebe dich", sagte sie leise und sofort beschleunigte sich sein Herzschlag. 

„Ich liebe dich", erwiderte er und beugte sich noch einmal zu ihr herunter, um sie zu küssen. 

„Kannst du vielleicht ein wenig nach Matthias sehen? Ich glaube, er hat sich heute auf der Arbeit krank gemeldet", sagte sie und sofort nickte er. Es war ihm deutlich lieber, sich mit Matthias zu unterhalten, der meistens recht schweigsam war, als mit Esra. 

„Mach ich. Aber du schläfst jetzt erst einmal", sagte er, dann ließ er sie allein und ging auf die Terrasse. Matthias lief unten im Hof hin und her und er hielt sich schweigend das Telefon ans Ohr. Doch nach ein paar Sekunden schnalzte er unzufrieden mit der Zunge und schob sein Handy wieder in seine Hosentasche. 

Erst da schien er Jonathan zu bemerken. Er lief die kleine Treppe hoch zu ihm auf die Terrasse und ließ sich unaufgefordert auf einem der gepolsterten Stühle nieder. Er seufzte und rieb sich mit den Händen übers Gesicht. Jonathan setzte sich neben ihn auf einen Stuhl und sah ihn aufmerksam an. Nach ein paar Sekunden sah Matthias auf und erwiderte seinen Blick. 

„Jonas geht nicht ans Handy. Auf der Arbeit muss er es immer wegschließen. Ich erreiche ihn frühestens in seiner Mittagspause", berichtete er und Jonathan fragte sich, wie Jonas sich bei der ganzen Sache fühlen musste. 

„Was willst du jetzt machen?", fragte Jonathan, doch Matthias zuckte die Schultern. 

„Ich muss versuchen, Esra zur Vernunft zu bringen, mehr bleibt mir nicht übrig", sagte er und er klang dabei irgendwie hoffnungslos. Doch dann sah er Jonathan so an, als wollte er etwas sagen, wusste jedoch nicht so ganz, wie er es formulieren sollte. Jonathan wartete, bis er weitersprach. 

„Vielleicht hat es sie wachgerüttelt, als er Sheila geschlagen hat", sagte er schließlich leise und senkte schnell den Blick zweifelsfrei um dem seinen auszuweichen. Jonathan spürte einen Stich im Herzen, denn schon wieder hatte er zugelassen, dass Sheila verletzt worden war. Ein gequältes Stöhnen entfuhr ihm, was Matthias wieder den Blick heben ließ. 

„Es fühlt sich schrecklich an, dass ich es nicht verhindern konnte", hörte Jonathan sich sagen, bevor er wirklich darüber nachgedacht hatte. Matthias nickte stumm. 

„Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst. Mir geht es nämlich genauso. Ich habe auch nur zugesehen. Aber mach dir keine Vorwürfe. Sie wird wütend sein, wenn du dir Gedanken darüber machst", erwiderte Matthias, doch Jonathan schüttelte den Kopf. Am liebsten hätte er Matthias alles erzählt, was ihn bedrückte. Dass er es nicht schaffte, Sheila zu schwängern und dass er ständig das Gefühl hatte, sie nicht beschützen zu können. Aber er bremste sich. Es ging doch hier um Matthias und nicht um ihn. 

„Ich meine es ernst. Sie mag es nicht, wenn du dir so viele Sorgen um sie machst", sagte Matthias auf einmal ernst und Jonathan fühlte sich ertappt. Natürlich wusste er das, doch er konnte seine Selbstzweifel nicht abstellen. Langsam nickte er und Matthias drehte seinen Stuhl, sodass er ihn nun unverhohlen betrachten konnte. 

„Ist bei euch alles in Ordnung?", fragte Matthias ungewohnt forschend, denn eigentlich war er nicht wirklich aufmerksam und er bemerkte meistens nicht, wenn einem etwas durch den Kopf ging. Doch Jonathan war alarmiert. Hatte Sheila ihm etwas erzählt? Er wusste, dass die beiden sich oft unterhielten und sie ihm mehr über ihre privaten Probleme erzählte, als es ihm lieb war. 

„Ja", sagte Jonathan, doch es klang eher wie eine Frage. 

„Sie hat mir nichts erzählt, wenn du das glaubst, aber sie wirkt in den letzten Wochen irgendwie genervt", sagte er und Jonathan fiel ein Stein vorm Herzen. Es hatte ihm gerade noch gefehlt, dass alle über seine Probleme Bescheid wussten. Denn genau wie Sheila war Matthias nicht wirklich die Person, die Geheimnisse für sich behalten konnte. 

„Ich hatte ein wenig Stress in letzter Zeit. Aber ich arbeite dran", sagte er und hoffte, Matthias würde es dabei belassen. Jonathan spürte seinen Blick noch eine ganze Weile auf sich, doch dann erhob er sich. 

„Apropos, musst du nicht arbeiten? Ich sollte mal nach den Kindern sehen. Zumindest Duygu wird nicht schlafen können", sagte Matthias, dann verschwand er wortlos ins Haus. Jonathan blieb noch ein paar Minuten sitzen, bis er sich aufraffte. Matthias hatte recht. Noch gestern hatte er sich vorgenommen, härter zu arbeiten. 

Leise ging er wieder ins Wohnzimmer, wo Sheila schnarchte. Er war erleichtert, dass sie eingeschlafen war und er schrieb ihr einen kleinen Zettel, dass er im Studio war und legte ihn neben sie auf den kleinen Couchtisch. Er ging in den Flur und lauschte einen Moment, doch er konnte nichts mehr hören, also zog er sich an und machte sich auf den Weg zu seinem Studio, das nur ein paar hundert Meter die Straße hinunter lag. Matthias würde sich schon selbst beschäftigen können, wenn alle schliefen. 

Erst als Jonathan in seinem Studio ankam, bemerkte er, dass er noch gar nichts gefrühstückt hatte. Zum Glück hatte er einen kleinen Kühlschrank im Studio, wo er immer eine Kleinigkeit aufbewahrte, falls er keine Zeit hatte zum Mittagessen nach Hause zu gehen. 

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