Kapitel 122 - Jonathan
Jonathan kochte Spaghetti Bolognese und hoffte, dass Sheila hungrig war. Sie würde spätestens um halb eins da sein, denn ab zwölf Uhr begann die erste Schicht im Varieté und sie würden die Bühne räumen müssen. Inzwischen war es schon Viertel vor eins, doch vielleicht hatte sie noch ein wenig mit Karim gequatscht.
Er schüttete die Nudeln ab und brachte alles zum Esstisch, den er schon gedeckt hatte. Genau in diesem Moment hörte er ein Motorengeräusch von draußen und er lief zur Tür, um ihr zu öffnen. Sie kramte noch in ihrer Handtasche herum, als er ihr die Tür aufmachte, doch dann stieg sie aus.
Sofort spürte er, dass etwas nicht in Ordnung war. Hatte sie geweint? Mit gesenktem Kopf kam sie auf ihn zu und erst als sie genau vor der Tür stand, sah sie auf. Erschrocken zuckte sie zusammen, als hätte sie ihn bisher noch nicht bemerkt. Sie strauchelte und schnell packte er sie am Arm, damit sie nicht fiel.
„Hey", sagte er betont fröhlich, doch ihre Augen und Wangen waren eindeutig gerötet. Sanft zog er sich hinein und schloss die Tür hinter ihr.
„Was ist los?", fragte er und legte einen Arm um sie. Sie schniefte und ließ sich gegen ihn fallen. Sie vergrub das Gesicht an seiner Schulter und klammerte sich an ihm fest. Er umarmte sie fester, doch nach ein paar Sekunden schob er sie ein Stück von sich weg und sah sie an. Sie wischte sich mit dem Ärmel Tränen und Rotz ab und atmete ein paar Mal tief durch. Erst dann sah sie ihn richtig an, allerdings zogen sich ihre Augenbrauen schmerzverzerrt zusammen. Sie schlang die Arme um seine Mitte und schluckte schwer.
Was war nur los mit ihr? Hatte irgendjemand etwas Gemeines zu ihr gesagt? Womöglich Karima? Oder hatte Leonard sie weiter mit Nachrichten bombardiert? Er spürte, dass sie es ihm sagen wollte, doch irgendetwas hielt sie zurück.
„Komm erst mal mit ins Wohnzimmer", sagte er sanft, griff nach ihrer Hand und zog sie zum Esstisch. Sie setzte sich auf ihren Platz und er tat es ihr gleich. Sie streckte ihre Hand über den Tisch nach seiner aus und er verschränkte seine Finger mit ihren. Beinahe wirkte sie so, als hätte sie ein schlechtes Gewissen.
„Dein Gips ist ab", sagte sie und drehte seine Hand ein wenig hin und her. Jonathan wurde misstrauisch.
„Lenk nicht ab. Was ist passiert?", fragte er in bestimmtem Ton und musterte sie eindringlich. Sheila senkte den Blick auf ihren noch leeren Teller.
„Leonard hat mich auf der Arbeit abgefangen. Er hat mir gesagt, dass er mich liebt und er wollte mich küssen", sagte sie und wischte sich wieder mit dem Ärmel durchs Gesicht. Jonathan spürte, wie er wütend wurde. Sofort schossen Bilder in seinen Kopf, wie sie flirteten.
„Was heißt das, er wollte dich küssen?", fragte er nach, wobei seine Stimme zitterte.
„Ich habe ihn weg geschubst, es ist nichts passiert", sagte sie schnell. Zu schnell. Er zog seine Hand aus ihrer und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, damit er nicht wütend auf den Tisch schlug. Wie konnte er es nur wagen, sich noch einmal an sie ranzumachen?
„Warum weinst du? Hat er etwas Gemeines gesagt?", fragte er bemüht ruhig, doch es störte ihn, dass es sie offensichtlich mitnahm. Dass seine Worte sie nicht kaltließen. Statt zu antworten stand sie auf und rannte nach oben. Er hörte noch, wie sie eine Tür zu knallte, dann war Stille.
Jonathan wusste nicht so recht, ob er ihr hinterher gehen sollte. Doch wenn sie hätte reden wollen, wäre sich nicht weggelaufen. Er beschloss ein wenig zu warten, doch er musste sich gleich an die Arbeit machen, sonst würde er schon an seinem ersten Tag seinen neuen Zeitplan durcheinander bringen.
Er aß eine Teller Spaghetti, aber Sheila war noch immer nicht wieder nach unten gekommen und es drang kein Laut zu ihm. Er seufzte. Wahrscheinlich hatte sie Angst, dass er ausflippen würde. Doch komischerweise war er ganz ruhig. Sicher, er war wütend auf Leonard, dass er sie nicht in Ruhe ließ, nicht auf Sheila. Denn er glaubte ihr, dass sie ihn abgewiesen hatte. Er dachte an Karima und seine eigenen Fehler und er wusste wie es sich anfühlte, wenn etwas passierte, bevor man es überhaupt begriff.
Er schob seinen Stuhl zurück und ging langsam nach oben. Seine Hände fingen an zu zittern, als er leise an die geschlossene Schlafzimmertür klopfte. Er hörte, wie die Bettdecke raschelte, doch sie sagte nichts.
„Kann ich rein kommen?", fragte er leise, doch er bekam als Antwort nur ein Schniefen. Kurzentschlossen drückte er die Klinke nach unten und zu seiner Überraschung war die Tür nicht verschlossen.
Sheila lag auf dem Bauch, das Gesicht in ihrem Kissen vergraben. Zögernd setzte er sich auf die Bettkante und legte ihr die Hand auf den Rücken.
„Hey", sagte er leise und endlich reagierte sie auf ihn. Sie drehte den Kopf zu ihm herum und sah sie aus geröteten und verquollenen Augen an.
„Komm her", sagte er und streckte die Arme nach ihr aus. Sie krabbelte zu ihm und setzte sich seitlich auf seinen Schoß, den Kopf lehnte sie an seine Schulter. Jonathan war froh, dass sie sich nicht ganz vor ihm verschloss, doch er wusste auch nicht so recht, ob er sie auf die Sache ansprechen wollte. Es interessierte ihn brennend, was genau passiert war, aber wenn es ihr unangenehm war, wollte er sie auch nicht dazu drängen, es ihm zu erzählen.
Sie schlang die Arme um seinen Hals und er spürte, wie Tränen in sein T-Shirt sickerten. Er wiegte sie eine Weile hin und her, bis sie sich ein wieder beruhigt hatte.
„Willst du mir sagen, wie es dir geht?", fragte er vorsichtig und er spürte, wie sie an seinem Hals nickte. Dann löste sie sich von ihm, rutschte von seinem Schoß und legte sich wieder ins Bett und streckte die Hand nach ihm aus. Er legte sich genau wie sie auf die Seite, sodass sie sich ansehen konnte und verschränkte dann seine Finger mit ihren.
„Bist du wütend?", fragte sie mit kratziger Stimme und schnell schüttelte er den Kopf.
„Nein. Das heißt, nicht auf dich", antwortete er ehrlich und konnte förmlich sehen, wie eine Welle der Erleichterung über sie schwappte. Sie atmete auf und schloss für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, lag Sorge darin.
„Er hat mir gesagt, dass er mich liebt und das auch schon eine ganze Weile. Er...", setzte sie an, doch dann unterbrach sie sich. Jonathan wartete geduldig, bis sie bereit war, weiter zu sprechen.
„Er hat seine Hände um mein Gesicht gelegt und es mir ins Ohr geflüstert. Ich habe ihn mit der Hand weggedrückt, aber nicht doll genug. Er meinte, dass er mich gerne küssen würde und da habe ich ihm mit voller Kraft gegen die Brust gestoßen", berichtete sie und Jonathans Wut brodelte unter der Oberfläche weiter nach oben. Er biss die Kiefer aufeinander und am liebsten wäre er in sein Auto gestiegen und auf direktem Wege zu Leonard gefahren. Was fiel diesem Kerl eigentlich ein?
„Hat er etwas gegen deinen Willen gemacht?", presste er hervor, doch schnell schüttelte sie den Kopf.
„Nein, das nicht. Das ist es auch nicht. Ich bin...", fing sie an, doch wieder unterbrach sie sich und drückte seine Hand fester.
„Ich habe nicht solche Gefühle für ihn, aber bisher mochte ich ihn gerne. Es... hat doch schon irgendetwas mit mir gemacht, als er das so sanft gesagt hat", gab sie zu und zog den Kopf ein, als erwartete sie einen Wutausbruch. Doch Jonathan beherrschte sich. Er sollte es ihr hoch anrechnen, dass sie so ehrlich war.
„Was macht es denn mit dir?", fragte er mit zitternder Stimme und auf einmal wurde er unsicher. Wenn sie sagte, dass es etwas mit ihr machte, schien sie ja doch irgendwie Gefühle für ihn zu haben. Sie schien einen Moment darüber nachzudenken, dann sah sie ihm so direkt in die Augen, dass sein Herzschlag sich beschleunigte.
„Ich habe irgendwie Herzklopfen bekommen, aber anders als bei dir. Es... tut mir irgendwie leid, dass ich ihn verletze, indem ich seine Gefühle nicht erwidere. Und es fühlt sich auch irgendwie schön an, so etwas gesagt zu bekommen", beichtete sie und Jonathan war sprachlos. Sie war so offen und ehrlich, dass ihm das Herz schwer wurde.
„Sage ich dir nicht oft genug, dass ich dich liebe?", fragte er, denn vielleicht mochte sie es, wenn Leonard ihr das sagte, weil sie es von ihm vermisste.
„Nein, das ist es nicht. Ich... ach, es ist einfach schwer zu beschreiben. Ich will nicht mit ihm zusammen sein oder mit ihm schlafen, aber wahrscheinlich würde es dir genau so gehen, wenn dir jemand seine Gefühle gesteht, den du wirklich magst", versuchte sie sich zu erklären und auf einmal hatte er das Gesicht von Laura vor seinem inneren Auge.
Sie hatten sich so gut verstanden, als er bei ihr gewesen war und er mochte sie wirklich. Immerhin kannten sie sich seit der fünften Klasse. Aber wenn sie ihm auf einmal vollen Ernstes gesagt hätte, dass sie ihn liebte, wäre er wahrscheinlich auch überfordert. Jonathan löste seine Hand aus ihrer und strich ihr das Haar hinters Ohr.
„Hattest du Angst, ich würde... anders reagieren?", fragte er und sofort nickte sie.
„Ja, schon. Ich bin auch ehrlich gesagt ein wenig überrascht, dass du so gelassen bist", antwortete sie und schob ihre Hand zu ihm herüber und fing an, mit dem Finger Muster auf seine Brust zu zeichnen. Jonathan wurde nervös, denn eigentlich tat sie das nur, wenn sie ihn anmachen wollte.
„Oh, ich bin ganz und gar nicht gelassen. Aber ich werde das nicht an dir auslassen. Du hast nichts falsch gemacht", antwortete er und wie erwartet ließ sie ihre Finger weiter nach unten wandern. An seinem Hosenbund hielt sie inne und suchte seinen Blick.
„Es tut mir leid, dass ich ihn nicht schon früher aufgehalten habe. Er hat meine Wange berührt", sagte sie, doch mit ihrem Finger, den sie in seinen Hosenbund eingehakt hatte, konnte er nicht wirklich denken. Er beugte sie vor, um sie zu küssen, doch sie legte ihm den Finger auf die Lippen und hielt ihn sie zurück. Sie drückte ihn an der Schulter in die Kissen, rutschte näher an ihn heran und schob mit einer schnellen Bewegung ihre Hand in seine Hose.
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Natürlich hatte er schon ein seinem ersten Tag seinen sorgsam ausgearbeiteten Zeitplan über den Haufen geworfen. Doch es war wichtig für Sheila und auch für ihn gewesen, dass er ihr gezeigt hatte, dass er nicht ausflippte. Noch vor einer Woche, hätte er ganz anders reagiert. Aber die Erfahrung von ihr getrennt zu sein, auch wenn es nur zwei Tage waren, hatten ihm deutlich gemacht, dass er sich mehr unter Kontrolle haben musste. Und es war auch gar nicht so schwer.
Auch wenn es ihm jetzt deutlich schwerer fiel, denn er saß in seinem Auto vor Leonards Wohnung und starrte hinauf zu dem erleuchteten Fenster. Er war also zu Hause. Sheila war auf der Arbeit und kaum dass sie weg war, hatte er sich in sein Auto gesetzt. Nicht, dass er sich unbedingt mit Leonard streiten wollte, doch er musste ihm klar machen, dass er zu weit gegangen war. Obwohl er sein Cousin war, hatte er nicht das Recht, seine Frau zum Weinen zu bringen.
Er atmete noch einmal tief durch und straffte die Schultern, dann stieg er aus und marschierte in Richtung Haustür. Er drückte die Klingel so fest, dass sie knackte, doch es war ihm egal. Er war wütend und das sollte Leonard ruhig zu spüren bekommen. Der Türöffner summte und eilig ging er ins Haus.
Sein Herz pochte unregelmäßig, als er die Stufen nach oben hetzte. Leonard hatte die Wohnungstür nur ein kleines Stück geöffnet und sein Blick war schuldbewusst auf den Boden gerichtet. Jonathan ging auf ihn zu und wollte die Tür aufstoßen, doch Leonard hatte offensichtlich einen Fuß dahinter gestellt.
„Lass mich rein, wir müssen reden", sagte er ernst und funkelte ihn an. Leonard seufzte, doch dann nickte er und öffnete die Tür so weit, dass er hereinkommen konnte. Ohne eine Einladung abzuwarten ging er in die Wohnküche, lehnte sich an die Arbeitsfläche und verschränkt die Arme vor der Brust.
Leonard trottete ihm hinterher wie ein geschlagener Hund, die Hände in den Hosentaschen vergraben und sein Blick war ausdruckslos. Er ging an ihm vorbei und zog sich einen Stuhl vom Esstisch heran. Er setzte sich verkehrt herum darauf und legte die Arme auf die Lehne, dann legte er seinen Kopf darauf ab.
„Warum hast du ihr das gesagt und bist ihr so nahe gekommen? Es hat sie ganz durcheinander gebracht", fragte er ihn mit fester Stimme, doch Leonard, der sonst zu allem seinen Senf dazu gab, zuckte nur die Schultern. Jonathan schnaubte verächtlich und schüttelte ungläubig den Kopf. Doch da räusperte Leonard sich und Jonathan starrte ihn an.
„Ich musste es tun. Ich habe es nicht länger ausgehalten. Sie war so unglücklich, als ihr euch so oft gestritten habt", startete er einen schwachen Versuch der Rechtfertigung, doch Jonathan hob drohend einen Finger.
„Moment mal. Du hast es ihr erst gesagt, nachdem du wusstest, dass wir uns wieder vertragen haben. Du wusstest, dass sie deine Gefühle nicht erwidert", entgegnete er, doch Leonard grinste frech.
„Ich weiß, aber ich musste es ihr einfach sagen", erklärte er sich, aber Jonathan fand das ziemlich schwach.
„Weißt du, wie fertig sie war, als sie wieder nach Hause gekommen ist? Sie hat eine halbe Stunde lang nur geheult, bis sie mit mir geredet hat", fuhr er ihn an, doch Leonard schüttelte den Kopf.
„Hast du sie wieder angeschrien?", fragte er und grinste, als wäre das alles nur ein Spiel. Jonathan machte einen Schritt auf ihn zu und durchbohrte ihn mit seinem Blick.
„Mir geht es wieder gut. Ich habe sie nicht angeschrien und sie hat mir alles erzählt. Ich will dir nicht drohen, aber lass die Finger von ihr. Ruf sie nicht mehr an, schreib ihr nicht mehr und lauer ihr nicht mehr auf! Such dir jemand anderes", flüsterte er bedrohlich und Leonard schluckte.
„Es ist einfach... Sie ist meine Frau und wir erwarten ein Kind. Hör auf, sie zu verwirren", setzte er nach und wider Erwarten nickte Leonard.
„Okay, aber wenn ich mitbekomme, dass du sie wieder so schlecht behandelst, werde ich sie von dir wegholen", sagte er, doch Jonathan schnaubte.
„Das wird nicht wieder passieren, also mach dir keine Hoffnung", entgegnete er, dann wandte er sich zum Gehen. Er hörte, dass Leonard aufstand und ihm nachlief, doch er ignorierte ihn. Gerade als er nach der Türklinke griff, spürte er seine Hand auf seiner Schulter.
„Hey, warte", sagte Leonard in versöhnlicherem Ton, doch Jonathan schüttelte seine Hand ab. Dennoch wandte er sich um und funkelte ihn an.
„Stell dir vor, ich hätte mich an Rebecca rangemacht, als ihr verlobt wart. Das hättest du bestimmt auch nicht gut gefunden, auch wenn ich ernste Gefühle für sie gehabt hätte", sagte er, dann ließ er ihn stehen.
Er beeilte sich, die Treppe nach unten zu kommen, denn er wollte nicht noch weiter mit ihm reden. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, denn er hatte sich gut angefühlt, ihm die Meinung zu sagen. Er würde Sheila bitten, es ihm sofort zu sagen, wenn er sich in der nächsten Zeit noch einmal bei ihr meldete.
Zufrieden mit sich setzte er sich in sein Auto und fuhr in Richtung seines Studios. Es sah ganz danach aus, als würde er eine Nachtschicht einlegen müssen und seit Langem freute er sich wieder auf die Arbeit.
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