Kapitel 115 - Sheila
„Schätzchen", rief jemand hinter ihr und die Stimme kam ihr sehr bekannt vor. Sheila wandte sich um und sah in das vertraute Gesicht von Miss Buttercup. Obwohl sie ihre orangefarbene Perücke nicht trug, war sie es unverkennbar. Sheila winkte und stellte die Getränkekiste, die sie gerade getragen hatte auf dem Boden ab.
„Hallo!", rief sie und ging zu ihr. Gleichzeitig sah sie sie verwundert an, denn im Moment trat sie gar nicht mit ihrer Gruppe hier bei ihnen im Varieté auf.
„Was machst du denn hier?", fragte sie sie ungeniert, doch Miss Buttercup würde es ihr nicht übelnehmen, denn sie selbst war durchaus direkt und offen. Sie lachte und nahm Sheila in den Arm, dann hielt sie sie an den Schultern ein Stück von sich weg und betrachtete sie.
„Ach, ich habe euch alle hier so sehr vermisst, dass ich mit deinem Chef darüber geredet habe, wieder zurück zu kommen", erklärte sie und Sheila strahlte.
„Das würde mich freuen", sagte sie, doch Miss Buttercup lächelte nur müde.
„Mir scheint es jedoch so, als wärest du denn nicht mehr hier... Mami", lachte sie, doch sie hatte die Stimme so weit gesenkt, dass niemand sie hören konnte. Sheila durchfuhr ein Schock und panisch blickte sie an sich herunter. Bisher war sie der Meinung gewesen, dass man noch nichts sehen konnte, aber anscheinend hatte sie sich getäuscht. Sie spürte wie ihre Wangen heiß wurden und schnell legte sie den Finger an die Lippen.
„Es weiß noch niemand", flüsterte sie und Miss Buttercup tat so, als würde sie ihren Mund mit einem Schlüssel verschließen.
„Welche Woche?", fragte sie dann leise und Sheila streckte die Hand mit allen ausgestreckten Fingern in die Luft.
„Das ist so wunderbar", strahlte sie, doch Sheila sah zerknirscht drein.
„Sieht man es schon?", fragte sie und wieder wanderte ihr Blick an sich hinunter.
„Ein kleines bisschen kann man es doch schon erahnen", erwiderte sie und panisch zog Sheila an ihrem Hemd herum. Tatsächlich saß es etwas enger, doch seit sie Jonathan kannte hatte sie auch ein paar Kilo zugenommen.
„Mach dir keinen Kopf, du bist wunderschön", sagte sie, dann ließ sie sie endlich los.
„Aber ich muss dann mal. War schön, dich wieder zu sehen", sagte Miss Buttercup, dann wandte sie sich mit einer eleganten Drehung um und stiefelte davon.
Ein wenig unschlüssig blieb Sheila stehen und strich über ihren Bauch. Auf einmal musste sie daran denken, was Jonathan dazu sagen würde. Ob er auch schon eine Veränderung an ihr wahrnahm? Schnell schüttelte sie den Kopf und machte sich wieder an die Arbeit. Sie würde bis zum Wochenende warten, dann könnte sie ihn fragen. Vorausgesetzt, er war bis dahin wieder normal.
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Nach der Arbeit fiel es ihr schwer, im Auto die Augen offen zu halten, so müde war sie. Sie öffnete das Seitenfenster und ließ so ein wenig kalte Luft herein, um sich wachzuhalten, doch sie war froh, als sie endlich zu Hause ankam. Sie lenkte Matthias Wagen in die Einfahrt und griff nach ihrer Handtasche. Kurz warf sie einen Blick auf ihr Handy, doch bis jetzt hatte Jonathan sich noch an ihre Bitte gehalten.
Sie stieg aus und ging durch die kalte Nachtluft zur Haustür und schloss sie auf. Kaum dass sie den Flur betrat spürte sie, dass etwas anders war. Es fühlte sich an, als wäre jemand hier gewesen. Sofort bekam sie Panik. War hier etwa jemand eingebrochen?
Schnell ließ sie den Blick durch den Flur wandern und huschte dann ins Wohnzimmer. Es sah alles aus wie immer. Nur ein Detail war anders. Der Notizblock, der eigentlich immer auf der Kommode lag, war irgendwie zusammen mit einem Stift auf den Esstisch gekommen. Sofort war sie erleichtert, denn es war offensichtlich kein Einbrecher gewesen. Ihr erster Gedanke wanderte zu Jonathan, was sie irgendwie freute und zugleich ärgerte.
Für einen Moment lauschte sie, ob er nicht noch hier war, doch sie konnte nichts als Stille hören. Dennoch rief sie seinen Namen, aber es kam keine Reaktion. Sheila ging wieder zurück in den Flur, ließ ihre Tasche auf den Boden sinken und zog sich die Schuhe aus.
Obwohl sie noch vor fünf Minuten fast einschlafen war, fühlte sie sich nun hellwach. Ihr Herz pochte noch immer laut und sie beschloss, in aller Ruhe duschen zu gehen. Sie ging direkt ins Bad, ohne sich ihren Schlafanzug von oben zu holen und drehte das Wasser auf ganz heiß. Sie zog sich in der Zeit, in der es sich aufwärmte aus und betrachtete sich dann im Spiegel über den Waschbecken. Sie drehte sich hin und her und musterte ihren Bauch. Tatsächlich konnte man eine winzige Wölbung erkennen, wenn man wusste, wonach man suchte. Anscheinend hatte Miss Buttercup telepathische Fähigkeiten.
Sie schüttelte den Kopf und stieg unter die Dusche. Sofort spürte sie, wie sich ihre Anspannung löste und sie genoss die Hitze des Wassers. Eine gefühlte Ewigkeit stand sie unter dem heißen Wasserstrahl, doch dann drehte sie das Wasser ab und griff nach dem Handtuch. Wenn sie immer so lange duschte würde ihre Haut noch ganz austrocknen.
Sie trocknete sich schnell ab, dann wickelte sie das Handtuch um ihren Körper und ging auf nackten Füßen die Treppe nach oben und schaltete das Licht an. Sofort fiel ihr Blick auf ein Funkeln und ihr Herz blieb stehen. Neben dem kleinen Beistelltischchen stand eine große Amethystdruse, an der ein kleiner Zettel klebte. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, doch gleichzeitig drehte sich alles in ihrem Kopf. Sie musste den Zettel nicht lesen um zu wissen, dass Jonathan sie hier her gebracht hatte. Er war also tatsächlich hier gewesen.
Sheila ging in die Hocke und betrachtete die wunderschöne Druse. Sanft strich sie mit dem Finger darüber und spürte, wie ihr die Brust eng wurde. Zwar hatte sie schon lange so eine Druse haben wollen, doch bisher hatte sie immer der Preis abgeschreckt. Das konnte nicht Jonathans Ernst sein. Er sollte doch nicht so viel Geld für sie ausgeben.
Sie stand wieder auf und ging ins Schlafzimmer, wo sie sich ihren Schlafanzug anzog, doch dann lief sie wieder nach unten, um ihr Handy zu holen. Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und machte ein Foto von dem Geschenk. Erst da nahm sie den Zettel ab und las die kleine Notiz. Beinahe hätte sie erwartet, dass er ihr seine Liebe und Besserung geschworen hätte, doch es war einfach nur eine kleine Notiz. Kein Ich liebe dich und kein Ich vermisse dich.
Sie legte den Zettel auf den Tisch und überlegte, was sie nun tun sollte. Es wäre doch unhöflich, wenn sie sich nicht bei ihm dafür bedankte, doch gleichzeitig zögerte sie, denn sie wollte nicht schon jetzt ihre eigene Bitte nach Kontaktvermeidung brechen. Vielleicht wollte er das auch genau damit bezwecken, immerhin hätte er ihr die Druse auch am Wochenende mitbringen können.
Sie starrte einen Moment lang auf ihr Handy, hin und her gerissen, ob sie ihn anrufen sollte oder nicht. Doch dann überlegte sie, wer vielleicht um diese Uhrzeit noch wach sein und ihr einen Tipp geben könnte. Allerdings war es schon kurz nach ein Uhr nachts und morgen würden alle zur Arbeit müssen. Sie schluckte und legte ihr Handy wieder zur Seite.
Noch einmal warf sie einen Blick auf die Druse, doch dann stand sie auf und legte sich ins Bett. Sie nahm sich vor, Jonathan nicht anzurufen und ihm auch nicht zu schreiben. Sie könnte sich am Freitag bedanken.
Doch kaum dass sie im Bett lag und versuchte einzuschlafen, konnte sie an nichts anderes denken als an Jonathan. Bestimmt wartete er darauf, dass sie sich meldete und sich bedankte. Sie konnte sich bildlich vorstellen, wie er bei seinen Eltern in seinem alten Kinderzimmer im Bett lag und auf sein Handy starrte. Allein durch diese Vorstellung bröckelte ihre Entschlossenheit.
Sie griff nach ihrem Handy, das sie neben sich auf den Nachttisch gelegt hatte. Sie setzte sich auf und lehnte sich mit dem Rücken an das Kopfende des Bettes und wie automatisiert wählte sie seine Nummer. Innerlich verfluchte sie sich, doch gleichzeitig kam sie sich albern vor, dass sie sich so benahm. Er vermisste sie offensichtlich so sehr, dass er anfing zu weinen, wenn sie ihn zurückwies. Und wenn sie ehrlich zu sich war, vermisste sie ihn auch. Zwar wollte sie nicht, dass sie sich schon wieder stritten, gleichzeitig sollte sie auf sein Urteil vertrauen. Wenn er glaubte, dass er wieder in Ordnung war, dann sollte sie sich darauf verlassen. Sie lauschte dem Tuten und wie erwartet meldete er sich beinahe sofort.
„Ist alles okay mit dir?", fragte er beinahe panisch, so als habe er erwartet, dass sie sich nur meldete, wenn ihr etwas passiert war. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, denn es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass er sich um sie sorgte.
„Ja, es ist alles okay. Ich... wollte mich nur für dein Geschenk bedanken", stammelte sie und kam sich auf einmal vor wie ein Teenager, der das erste Mal mit seinem Schwarm spricht. Dabei war es doch Jonathan. Sie hörte, wie er erleichtert ausatmete und obwohl sie ihn nicht sehen konnte wusste sie, dass er lächelte.
„Hab ich gerne gemacht. Gefällt sie dir?", fragte er sanft.
„Ja, die ist wirklich cool", sagte sie und erinnerte sich, wie sie gemeinsam in der Tropfsteinhöhle gewesen waren und sie stundenlang vor diesen Drusen gestanden hatte.
„Das freut mich wirklich. Also dann... Gute Nacht", sagte er und augenblicklich bekam sie Panik. Er klang gar nicht so, als wollte er auflegen, sondern eher so, als hätte er das Gefühl, er müsste es tun.
„Wie... wie geht es dir denn?", fragte sie schnell, denn auf einmal tat es ihr gut, ihn zu hören. Er stieß einen überraschten Laut aus, dann seufzte er.
„Um ehrlich zu sein geht es mir nicht wirklich gut", gestand er und sofort wollte sie ihn fest umarmen und ihm sagen, dass alles gut werden würde. Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass sie doch genau das einfach tun könnte. Aber brach sie damit nicht ihre eigenen Prinzipien? Zählte so etwas in der Liebe?
„An was denkst du?", hörte sie sich fragen, bevor sie richtig darüber nachgedacht hatte.
„An dich. Rund um die Uhr. In jeder Sekunde", antwortete er sofort und klang dabei todernst. Sheila schlug sich die Hand vor den Mund, damit sie nicht losschrie. Er klang so ehrlich, dass sie sich fragte, was das alles sollte. Warum tat sie ihm das an und quälte ihn? Sicher, er hatte gemeine Dinge zu ihr gesagt, doch er hatte schon mehr als einmal bewiesen, dass es ihm leidtat.
„Und an was denkst du?", fragte er dann vorsichtig und sie hörte, wie seine Stimme zitterte. Einen Moment zögerte sie, bevor sie das aussprach, was ihr als erstes in den Sinn kam.
„An dich. Wie du neben mir im Bett liegst und meine Hand hältst", sagte sie, dann traten ihr die Tränen in die Augen und sie konnte ein Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Auch Jonathan stieß einen merkwürdig erstickten Laut aus.
„Wenn du willst, könnte ich genau das tun. In einer Dreiviertelstunde kann ich bei dir sein", sagte er und Sheila nickte.
„Okay", flüsterte sie, dann schniefte sie und auch Jonathan schien schon wieder mit den Tränen zu kämpfen.
„Meinst du das ernst? Ich... kann ich wieder zurück kommen?", fragte er und sie bejahte. Sie vermisste ihn doch, warum sollte sie sich dagegen wehren?
„Aber nur, wenn du mir versprechen kannst, dass du nicht bei jeder Kleinigkeit an die Decke gehst", sagte sie noch, doch ihr war klar, dass er ihr in diesem Moment alles versprechen würde.
„Ich pack mein Zeug zusammen und fahre los, okay?", fragte er und Sheila spürte, wie sie nervös wurde. Er war nur zwei Tage nicht bei ihr gewesen und doch kam es ihr wie eine Ewigkeit vor.
„Okay", wiederholte sie, dann hörte sie, wie er seine Bettdecke zurückschlug und durchs Zimmer lief.
„Ich beeile mich", sagte er und klang auf einmal gehetzt.
„Fahr vorsichtig. Ich warte auf dich", erwiderte sie, dann verabschiedeten sie sich. Sheila warf ihr Handy neben sich und presste sich das Kissen vors Gesicht und schrie hinein. Sie ließ all ihre Wut und Enttäuschung raus und hoffte, dass er sich wirklich besser fühlte. Dass nicht wieder alles von vorn losging und sie sich schon morgen wieder stritten, weil er frustriert war. Denn sollte das der Fall sein, wusste sie nicht, ob sie es noch einmal so lange aushalten würde. Vielleicht schaffte sie es dann früher die Reißleine zu ziehen und ihn wieder wegzuschicken.
Sie warf das Kissen auf die Seite und stand auf. Sie war so nervös, dass sie nicht mehr ruhig sitzen bleiben konnte. Sie ging in den Flur und betrachtete noch einmal die Druse, die er hier hingestellt hatte, als sie auf der Arbeit gewesen war. Mit dem Finger fuhr sie an der scharfen Kante entlang. Sie wollte gar nicht so genau wissen, wie viel Geld er dafür ausgegeben hatte, doch ein paar hundert Euro mussten es schon gewesen sein. Kopfschüttelnd und lächelnd zugleich betrachtete sie die funkelnden Amethystsplitter im Innern und sie dachte daran, wie sie sich gleich in Jonathans Arme stürzen würde.
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