Kapitel 113 - Sheila
Sheila tippte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte, bis Lisa ihre Hand auf ihre legte und sie eindringlich ansah. Schuldbewusst senkte sie den Blick, denn sie wusste, was sie ihr sagen wollte.
„Wenn er dich verwirrt, dann sag ihm das", sagte sie ernst und Sheila schluckte schwer. Tatsächlich bekam sie ein schlechtes Gewissen, weil sie Jonathan gesagt hatte, dass sie ihn noch nicht wiedersehen wollte und er offensichtlich darunter litt. Denn obwohl er sich wirklich zu bemühen schien, nett und aufmerksam zu sein, traute sie ihm noch nicht ganz.
„Es ist ja schon irgendwie süß, wenn er sich so oft meldet, aber er wollte doch diese Auszeit. Dann soll er sich auch daran halten", murmelte sie und Lisa zog die Augenbrauen hoch.
„Dann sag ihm das. Heute ist doch schon Dienstag. Bis Freitag wird er es ja wohl aushalten", erwiderte sie und Sheila spürte, wie sich ihr Kopf auf und ab bewegte.
„Na gut", seufzte sie, griff wieder nach ihrem Handy, das sie neben sich auf den Tisch gelegt hatte und tippte eine Nachricht an ihn.
„Ich weiß, dass es dir schwerfällt, aber du musst die Auszeit auch dazu nutzen, den Kopf frei zu bekommen. Es ist süß, dass du mir schreibst und mich anrufst, aber vielleicht solltest du das lassen bis wir uns wiedersehen", tippte sie ein, dann hielt sie Lisa das Handy hin. Lisa las den kurzen Text und nickte.
„Das klingt doch gut. Er wird es schon verkraften, mach dir keine Gedanken", erwiderte sie und Sheila drückte schnell auf Senden, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Ihre Hände fingen an zu zittern und obwohl Jonathan die Antwort beinahe sofort gelesen hatte, antwortete er nicht mehr.
Sheila legte ihr Handy wieder neben sich auf den Tisch, dann lehnte sie sich zurück und streckte sich. Auch wenn sie den Einkaufsbummel heute Morgen genossen hatte, war es anstrengend gewesen, durch die ganzen Geschäfte zu latschen. Bei dem Gedanken daran, dass sie gleich noch arbeiten musste, stöhnte sie innerlich auf.
Doch bevor sie sich darüber beschweren konnte, wie kaputt sie war, klingelte es. Ihr Vater kam aus der Küche, wo er damit beschäftigt war den Kuchen ordentlich auf eine Platte zu legen und lief in den Flur. Lisa neben ihr versteifte sich und Sheila spürte, wie sie ihre Hand drückte. Sie hörte, wie ihr Vater Jonas begrüßte und keine zehn Sekunden später kamen die beiden zurück ins Wohnzimmer.
Jonas sah blass aus und unter seinen Augen lagen tiefe Ringe, doch er zwang sich zu einem Lächeln und hob die Hand zum Gruß. Sheila erwiderte schüchtern den Gruß, aber sie konnte ihm ansehen, wie schlecht es ihm ging. In gewisser Weise war er nun in der gleichen Situation wie sie selbst, denn auch Matthias war in der letzten Zeit gemein zu ihm gewesen und nun war er allein und konnte durchatmen.
„Setz dich doch! Wie geht es dir?", plapperte Lisa drauf los, doch bevor Jonas antwortete zog er wie in Zeitlupe den Stuhl ihr gegenüber zurück und setzte sich. Anschließend stützte er die Ellbogen auf den Tisch und legte den Kopf auf die Hände.
„Ich weiß noch nicht wie es mir geht", antwortete er und Lisa nickte. Sheila versuchte Jonas Blick einzufangen um ihm zu sagen, dass sie für ihn da war wenn er das wollte, doch er sah nicht zu ihr.
Genau in diesem Moment kam ihr Vater mit einer Platte voll mit Kuchen und Keksen aus der Küche und stellte sie auf den Tisch, anschließend holte er noch eine Kanne mit Kaffee. Als ihr Vater sich ebenfalls zu ihnen an den Tisch setzte, stöhnte Jonas auf, griff nach der Kanne und goss sich ein.
„Wie war es denn gestern? Was haben die Ärzte gesagt?", fragte ihr Vater Jonas, während er sich selbst ein Stück Kuchen nahm. Neugierig musterte Sheila ihn, doch er wirkte, als würde er am liebsten wieder verschwinden.
„Solange er den körperlichen Entzug macht, darf er keinen Besuch bekommen. Aber er hat versprochen, dass er anruft, wenn er kann", berichtete er. Sheila hatte damit schon gerechnet, doch wenn Matthias Entzug so wie der von Ville werden würde, dann wäre er die ersten Tage gar nicht in der Lage irgendjemanden anzurufen. Wobei bei Ville nicht nur der Alkohol auf einmal weggelassen wurde, sondern noch ganz andere Substanzen, von denen ihr Bruder hoffentlich die Finger gelassen hatte.
„Wann kann man ihn denn besuchen?", fragte Darren, doch Jonas zuckte die Schultern.
„Sie meinten, dass es schon eine Woche dauern wird. Kommt auch darauf an, wie sein Körper auf den Entzug reagiert", antwortete er und nahm einen Schluck von seinem Kaffee.
„Eine Woche geht schnell vorbei. Wir sollten Esra auch Bescheid geben", sagte Darren dann, doch Jonas warf ihm einen hilfesuchenden Blick zu. Ganz offensichtlich wollte er sich nicht mit Esra auseinandersetzen. Darren sah kurz zu Lisa, bevor er nickte.
„Ich werde mit ihr sprechen", sagte er und Jonas nickte dankbar.
Nach dem Kaffeetrinken verabschiedeten Jonas und auch Sheila sich, immerhin musste sie gleich los zur Arbeit. Sie verließen gemeinsam das Haus ihres Vaters, doch bevor Sheila sich auf den Heimweg machen konnte, hielt Jonas sie am Arm fest.
„Können wir vielleicht mal reden?", fragte er. Sheila wandte sich zu ihm um und musterte ihn. Er sah irgendwie verloren aus.
„Klar. Allerdings muss ich jetzt zur Arbeit. Aber morgen Abend habe ich Zeit", sagte sie und tatsächlich huschte so etwas wie ein Lächeln über seine Lippen.
„Okay, soll ich zu euch kommen?", fragte er und schnell nickte Sheila.
„Klingt gut. Ich könnte uns was zu Essen besorgen", schlug sie vor und er nickte. Sie verabredeten sich für neunzehn Uhr, so würde sie noch genug Zeit haben, um nach der Arbeit zu duschen. Sheila winkte zum Abschied, dann machte sie sich auf den Weg nach Hause.
Doch Jonas Gesicht ging ihr nicht aus dem Kopf. Er wirkte irgendwie so verloren, als würde er glauben, dass Matthias gar nicht mehr zu ihm zurückkam. Sheila freute sich schon auf das Treffen mit ihm, denn es würde ihr sicherlich auch guttun, sich die Probleme von anderen anzuhören und sich somit von ihren eigenen abzulenken.
Eilig ging sie das kurze Stück bis nach Hause, zog sich um und stieg anschließend direkt wieder in Matthias Auto, um zur Arbeit zu fahren. Schnell warf sie noch einen Blick auf ihr Handy, doch niemand hatte ihr geschrieben. Hoffentlich hielt Jonathan sich an ihre Bitte und nutzte selbst auch die Zeit, die sie allein für sich hatten.
Sheila warf ihre Handtasche auf den Beifahrersitz, schaltete das Radio ein und fuhr los. Eigentlich hörte sie selten Radio, denn die Werbung nervte sie, doch Matthias Auto hatte nur einen Kassettenspieler. Zwar hatte sie irgendwo bei ihrem Vater bestimmt noch Kassetten aus ihrer Kindheit, doch für die paar Tage würde sie sich schon mit dem Radio arrangieren können.
Sie kurbelte das Fenster herunter, denn für April war es dieses Jahr ungewöhnlich warm. Es fühlte sich gut an, die warme Luft zu spüren und viel zu schnell kam sie am Varieté an. Erst als sie ihren Wagen auf dem Kiesparkplatz abstellte, fiel ihr ein, dass sie bald ein ernstes Gespräch mit André führen musste. Sie würde ihm sagen müssen, dass sie schwanger war und ihn fragen, was nun zu tun war. Ihre Arbeit machte ihr Spaß und sie wollte so lange arbeiten wie es ging, doch sie rannte ganz schön viel durch die Gegend und musste auch hin und wieder schwere Kostüme und Requisiten tragen.
Doch darum würde sie sich später kümmern. Zuerst musste sie die Mitarbeiter-Vorführung hinter sich bringen, dann würde sie mit ihm sprechen. Obwohl er eigentlich immer sehr nett war, hatte sie doch ein wenig Angst, wie er reagieren würde.
Schnell schob sie den Gedanken beiseite, schnappte sich ihre Handtasche und stieg aus. Kurz sah sie sich um, ob vielleicht Karim zu sehen war, doch sie konnte ihn nicht erkennen. Also ging sie über den roten Teppich durch die sich automatisch öffnende Tür und marschierte in den Raum, in dem sie ihre Tasche während der Arbeitszeit verstaute. Gerade als sie hineingehen wollte, schreckte sie zusammen, denn Karim kam heraus. Beinahe wären sie ineinander gelaufen, nur so gerade konnte sie noch bremsen.
„Oh, hi", lachte Karim, trat einen Schritt beiseite und hielt ihr die Tür auf. Sheila lachte ebenfalls und ging mit einem Nicken durch die Tür.
„Danke", sagte sie, doch anstatt nach draußen zur Bar zu gehen, wo Karim arbeitete, ließ er die Tür ins Schloss fallen und kam näher an sie heran.
„Wie geht's dir?", fragte er, während sie ihren Spind aufschloss.
„Gut und dir? Wann proben wir noch mal?", fragte sie und hoffte so, dass er ihr nicht allzu sehr auf den Zahn fühlte. Sie mochte ihn, doch auch wenn er sie sehr zu mögen schien, wollte sie nicht über Jonathan mit ihm reden. Zumindest nicht jetzt. Anscheinend funktionierte ihr Ablenkungsmanöver, denn Karim grinste.
„Genau das wollte ich dich auch gerade fragen. Daniel hätte morgen um zehn Uhr wieder Zeit", sagte er und Sheila nickte.
„Okay", sagte sie schulterzuckend, obwohl es dann ein anstrengender Tag werden würde. Ihre Schicht begann schon um zwölf Uhr, also würde sie kaum Zeit zwischen der Probe und ihrer Schicht haben. Doch das war schon in Ordnung, immerhin hätte sie so keine Zeit, sich von Jonathan verwirren zu lassen. Sie wusste, dass er deutlich mehr litt als sie selbst, aber das tat ihr nur ein kleines bisschen Leid.
„Sehr gut! Dann sehen wir uns morgen um zehn!", rief Karim, dann drückte er kurz ihre Schulter und verschwand. Sheila sah ihm einen Moment lang nach, doch dann schob sie ihre Tasche in ihren Spind und schloss ihn ab. Sie straffte die Schultern, strich ihr Hemd glatt und machte sich auf den Weg in den Fundus.
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