Kapitel 112 - Jonathan

Jonathan hatte innerlich schon gewusst, dass Sheila ihn noch nicht wiedersehen wollte, doch es schmerzte mehr als alles andere. Ihm war bewusst gewesen, dass er sie verletzt hatte, aber dass sie so sehr verletzt war, hatte er nicht erwartet. Nicht, dass sie kalt oder abweisend war, sie hatte ihm nur klar und deutlich gesagt, dass sie ihn noch nicht wieder bei sich haben wollte. 

Jonathan starrte auf sein Handy, doch sie antwortete ihm nicht auf seine Nachricht. Am liebsten hätte er sie noch einmal angerufen, aber sobald er ihre Stimme hören würde, musste er bestimmt wieder heulen. Noch immer rannen ihm Tränen über die Wangen und wütend wischte er sie weg. Das hatte er sich alles selbst zuzuschreiben und nun musste er mit den Konsequenzen seines Handelns leben. Auch wenn es ihm schwerfiel, musste er Sheilas Wunsch akzeptieren und irgendwie die nächsten Tage ohne sie überstehen. 

Mühsam versuchte er einzuschlafen, doch es wollte ihm nicht so recht gelingen. Immer wieder hörte er ihre Worte in seinem Hirn widerhallen, bis ihn irgendwann die Müdigkeit übermannte und er einschlief.

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Jonathan wachte von einem durchdringenden Geräusch auf und es dauerte eine Weile bis er begriff, was es war. Jemand bohrte anscheinend ein Loch in die Wand. Oder besser gesagt, jemand schien seine Wand durchlöchern zu wollen. 

Verschlafen warf er einen Blick auf die Uhr. Es war bereits viertel nach zehn und er könnte tatsächlich so langsam mal aufstehen. Mit einer angestrengten Bewegung schlug er die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett, doch sofort pochte sein Kopf unangenehm. Erst da bemerkte er, dass sein Hals ganz trocken war und seine Augen sich irgendwie geschwollen anfühlten. 

Dennoch stand er auf, schnappte sich ein paar Klamotten aus seinem Koffer und trottete nach unten ins Bad. Er hörte, wie jemand staubsaugte, vermutlich seine Mutter. Schnell schloss er die Badezimmertür hinter sich, drehte den Wasserhahn am Waschbecken auf und trank gierig ein paar Schlucke Wasser. 

Sofort fühlte er sich besser und er betrachtete sich im Spiegel. Er sah verhärmt aus und er musste sich dringend rasieren, doch er hatte keine Lust noch einmal nach oben zu gehen und seinen Rasierer zu holen. Stattdessen stieg er unter die Dusche und genoss das warme Wasser auf seiner Haut. 

Sofort musste er an Sheila denken, denn sie hatte erzählt, dass sie gestern auch lange geduscht hatte. Wie schön es doch wäre, wenn sie nun hier mit ihm zusammen unter der Dusche stehen würde, genau wie damals im Ferienhaus, nachdem sie ins Meer gegangen waren. Sie hatte sich an ihn geschmiegt und sich von ihm wärmen lassen, was ein unglaublich schönes Gefühl gewesen war. 

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass er das vielleicht nie wieder spüren könnte, wenn er es nicht wieder hinbekam, netter zu ihr zu sein und sie so zu behandeln, wie sie es verdiente. Schon wieder drängten sich Tränen in seine Augen, doch schnell wischte er sie weg. Sheila hatte doch am Telefon gar nicht so geklungen, als wollte sie ihn gar nicht mehr sehen. 

Er straffte die Schultern, duschte zu Ende und ging anschließend nach unten ins Wohnzimmer zu seinen Eltern. Seine Mutter war in der Küche, doch sein Vater war nirgendwo zu sehen, auch nicht im Garten. Jonathan lehnte sich mit verschränkten Armen in den Türrahmen zur Küche und machte sich mit einem Räuspern bemerkbar. Seine Mutter zuckte zusammen und drehte sich erschrocken zu ihm um. 

„Erschreck mich doch nicht so", beschwerte sie sich und schlug mit dem Geschirrhandtuch nach ihm, das sie gerade in der Hand gehalten hatte. Schuldbewusst senkte er den Blick, gleichzeitig schlich sich ein Grinsen auf seine Lippen. 

„Hast du gut geschlafen?", fragte sie, doch er zuckte nur die Schultern. 

„Ich habe gestern Abend noch mit Sheila telefoniert", sagte er und biss sich sofort auf die Zunge. Eigentlich wollte er doch gar nicht darüber sprechen, aber nun hatte er seiner Mutter die Einladung gegeben. 

„Ach, wie geht es ihr denn?", erkundigte sie sich wie erwartet und augenblicklich pochte sein Herz schmerzhaft gegen seine Brust. 

„Gut. Zumindest meinte sie das. Aber sie will noch nicht, dass ich zurückkomme", antwortete er und spürte den mitleidigen Blick seiner Mutter auf sich. 

„Dann solltest du das akzeptieren. Du kannst so lange hier bleiben, wie du willst", sagte sie und trat einen Schritt näher zu ihm. Er nickte, doch seufzte gleichzeitig. 

„Danke. Es fällt mir nur so schwer, nicht einfach zu ihr zu fahren", gab er zu und spürte, wie seine Mutter ihm die Hand auf den Arm legte und sanft zudrückte.

„Das verstehe ich. Vielleicht hilft es dir, dich abzulenken. Du könntest vielleicht dein Auto waschen, es sieht ziemlich schmutzig aus", schlug sie vor, doch Jonathan schüttelte den Kopf. Dann hätte er nur noch mehr Zeit, sich den Kopf zu zerbrechen. Seine Mutter legte einen Finger an die Lippen, als würde sie überlegen. 

„Du könntest ihr vielleicht ein kleines Geschenk besorgen. Als Wiedergutmachung. Sicher wird sie sich darüber freuen", schlug sie vor und erst wollte er schon wieder den Kopf schütteln, doch da kam ihm eine Idee. 

Er erinnerte sich, wie sie vor gar nicht allzu langer Zeit den Ausflug in diese Höhle gemacht hatten und sie so begeistert vor der Amethystdruse gestanden hatte. 

„Ich weiß, was ich ihr hole. Das wird ihr mit Sicherheit gefallen", sagte er und lächelte. 

„Siehst du. Das wird dich sicher ablenken", erwiderte sie, dann wandte sie sich wieder dem gespülten Geschirr auf der Spüle zu. 

„Lass mich das doch machen", sagte er und streckte die Hand nach dem Geschirrtuch aus. Verwundert sah sie ihn an, reichte sie es ihm jedoch und nahm sich ein neues Geschirrtuch aus dem Schrank. Gemeinsam trockneten sie die Teller und Tassen ab, doch da fing sein Magen an zu knurren. 

„Soll ich dir etwas zum Frühstück machen?", fragte seine Mutter und wandte sich schon zum Kühlschrank. 

„Nein, musst du nicht. Ich hole mir was unterwegs", sagte er schnell und beinahe beleidigt sah sie ihn an. 

„Na gut, wie du willst. Was willst du denn für sie besorgen?", fragte sie und er berichtete in kurzen Sätzen von ihrem Ausflug und wie begeistert Sheila gewesen war. 

„Das ist eine wirklich schöne Idee", kommentierte sie und er nickte. Jonathan trocknete die letzte Tasse ab und legte sein Geschirrtuch auf der Arbeitsfläche ab. 

„Ich mache mich dann auf den Weg", sagte er, denn auf einmal hatte er es eilig. 

„Gut. Ich hebe dir etwas vom Mittagessen auf. Du kannst es dir aufwärmen, wenn du wieder kommst", sagte sie noch und er nickte schnell, dann ging er in den Flur und zog sich seine Schuhe an. 

Sicherlich würde Sheila sich freuen und es war ein gutes Gefühl, ihr eine Freude zu machen. Eilig packte er seine Schüssel ein und rief seiner Mutter eine Verabschiedung zu, dann machte er sich auf den Weg zu seinem Auto. 

Er kramte im Auto sein Handy aus der Hosentasche und prüfte noch einmal, ob Sheila ihm nicht geschrieben hatte, doch er hatte keine Nachricht. Er startete das Navi und machte sie auf den Weg. Er würde etwas eine Dreiviertelstunde unterwegs sein und bevor seine Gedanken anfangen konnten zu kreisen schaltete er Musik ein und drehte sie auf volle Lautstärke. Obwohl es ihn einigermaßen davon abhielt ständig an sie zu denken, spürte er den Drang, an jeder roten Ampel auf sein Handy zu sehen. Doch er riss sich zusammen, bis er auf den Parkplatz an der Tropfsteinhöhle fuhr. 

Dieses Mal schien kaum etwas los zu sein, denn neben ihm standen nur noch zwei Autos auf dem Parkplatz. Eilig stieg er aus und betrat den Laden, in dem man verschiedene Edelsteine und solche Dinge kaufen konnte. Er hatte keine Ahnung, was genau das alles war, doch er fand die großen Drusen, die Sheila so schön gefunden hatte ziemlich schnell. Sofort fiel ihm eine in einer dunklen Färbung ins Auge, die ihr sicher gefallen würde. 

Er konnte keinen Preis erkennen, also ging er zu der Frau hinter der Theke. Sie war ziemlich klein und dick und sie lächelte freundlich. Wahrscheinlich weil sie sich freute, dass er gleich ziemlich viel Geld hier lassen würde. 

Gemeinsam gingen sie zurück zu den Drusen und er zeigte auf die, die er haben wollte. Sie war etwa fünfzig Zentimeter groß und sah wie eine langgezogene, ausgehöhlte Röhre aus. Die Frau nannte ihm den Preis und er schluckte. Laura hatte doch gesagt, dass seine letzte Veröffentlichung besser ankam, als er gedacht hatte, also nickte er. 

„Gut, ich hole einen Kollegen, der sie hochhebt und dann packen wir sie für Sie ein", sagte sie und Jonathan nickte. Er sah der Frau nach, wie sie in Richtung Höhleneingang verschwand und keine Minute später kam ein junger Mann zu ihm und lächelte nett. Es war nicht der Typ, bei dem sie damals die Führung gehabt hatten, doch er wirkte ebenfalls noch sehr jung. Er hob die Druse hoch und trug sie zu der Frau hinter der Theke, die bereits jede Menge Verpackungsmaterial bereit gelegt hatte.

Eine Viertelstunde später saß er im Auto, die zwanzig Kilo schwere Druse stand gut eingepackt und angeschnallt neben ihm auf dem Beifahrersitz. Jonathan hielt sein Handy in der Hand, aber Sheila hatte sich noch immer nicht bei ihm gemeldet. 

Inzwischen war es schon nach Mittag, also musste sie auf jeden Fall wach sein. Kurzentschlossen schrieb er ihr noch eine Nachricht, denn ihm war die Idee gekommen, dass er die Druse ins Haus stellen konnte, wenn sie nicht da war. 

„Hey, ich hoffe du hast gut geschlafen. Was machst du gerade?", schrieb er und hoffte, dass sie seinen Plan kurz nach Hause zu kommen nicht erriet. Zu seiner Überraschung färbten sich die beiden kleinen Häkchen in der Ecke sofort blau, was bedeutete, dass sie seine Nachricht gelesen hatte. Mit pochendem Herzen wartete er auf ihre Antwort, die ziemlich schnell kam. 

„Hey, ich habe ganz gut geschlafen. Wie geht es dir denn? Ich bin noch bei meinem Vater, wir warten auf Jonas. Der wollte gleich zum Kaffee und Kuchen vorbei kommen und erzählen, wie es gestern mit Matthias gelaufen ist", schrieb sie überraschend ausführlich. 

Jonathan schluckte. Ihr Vater wohnte nicht wirklich weit von ihr entfernt und er müsste auf jeden Fall an seinem Haus vorbei fahren, wenn er zu ihrem Haus wollte. Nicht zum ersten Mal verfluchte er das kleine Dorf, in dem sie wohnten und in dem es nur einen Weg hinein und hinaus gab.

 „Ich vermisse dich noch immer. Musst du heute Abend arbeiten? Vielleicht können wir danach noch einmal telefonieren und du erzählst mir von deinem Bruder?", schrieb er und hoffte, dass er sie so ein wenig dazu bringen konnte, mit ihm zu schreiben. Auch wenn es nur Nachrichten waren, die sie hin und her schickten, war es besser als gar keinen Kontakt mit ihr zu haben. 

„Ja, ich habe heute Abenddienst. Ich melde mich später wieder", schrieb sie noch und er wusste, dass sie nun ihr Handy weglegen würde. Sie hatte auf seine Frage, ob sie noch einmal telefonieren konnten gar nicht geantwortet, was ihm das Herz brach. Das hieß wohl Nein. 

Vielleicht würde sie ihre Meinung ändern, wenn sie die Druse fand, wenn sie nach Hause kam. Er nahm sich vor, erst nach Hause zu fahren, wenn sie auf der Arbeit war. Da war die Wahrscheinlichkeit, dass sie plötzlich auftauchte und so die Überraschung kaputt machte, geringer. Also startete er den Motor und machte sich wieder auf den Weg zurück zu seinen Eltern. 

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