Kapitel 108 - Jonathan

Sein „Ich liebe dich auch" hatte sie wahrscheinlich nicht mehr gehört, denn sie hatte zu schnell aufgelegt. Einen Moment lang starrte Jonathan sein Handy an, als würde er so eher begreifen, was Sheila ihm gerade erzählt hatte. Sie war schon in der fünften Woche! Sein Herz pochte wie wild und doch zwang er sich, ruhig zu bleiben. 

Genau wie sie anscheinend auch spürte er das drängende Bedürfnis, wieder zu ihr nach Hause zu fahren und all das Schlechte was zwischen ihnen passiert war zu vergessen. Gleichzeitig hatte er beim Telefonat auch gespürt, dass sie ihn mit ihrer ewigen Fragerei nach Karima nervte. Sicher, er hatte davon angefangen, doch nur damit sie hinterher nicht sagen konnte, er hätte es vor ihr verheimlicht. 

Jonathan seufzte, warf sein Handy aufs Bett und stand mühsam auf. Er hatte noch nicht wirklich viel geschlafen, aber wenn er nun wach blieb konnte er vielleicht heute Abend besser einschlafen. 

Er suchte sich aus seinem Koffer frische Klamotten und ging damit nach unten ins Bad. Für einen Moment betrachtete er sich im Spiegel über dem Waschbecken. Unter seinen Augen lagen tiefe Ringe und seine Haut war fahl und seine Augen schimmerten. 

Es war wirklich wahr. Nach so langen Monaten hatte es endlich geklappt und Sheila war schwanger geworden. Vielleicht brauchte sein Hirn noch eine Weile, bis es das verarbeitet hatte, doch dann war er sich ziemlich sicher, dass ein Punkt seiner Stressliste abgebaut sein würde. Es hatte ihn gestört, dass es einfach nicht klappte, obwohl ihm bewusst war, dass weder er noch Sheila etwas dafür konnte. 

Jonathan drehte den Wasserhahn auf und ließ sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen. Er hatte schon ein paar Mal gesehen, wie Sheila das getan hatte, wenn sie im Stress war. Mit geschlossenen Augen versuchte er sich auf die Kühle auf seiner Haut zu konzentrieren und tatsächlich entspannte es ihn. Nach etwas mehr als einer Minute drehte er das Wasser wieder ab und stieg unter die Dusche. Vielleicht könnte er Sheila nach ein paar Tipps fragen, die ihr beim Stressabbau halfen. Sie hatte ihm mal erzählt, dass sie das in einer Therapie gelernt hatte und er kam sich blöd vor, sie nicht schon früher gefragt zu haben.

Nachdem er ausgiebig geduscht hatte, ging er nach unten ins Wohnzimmer, wo seine Eltern am Esstisch saßen und frühstückten. 

„Oh guten Morgen", begrüßte sein Vater ihn, der noch nicht wirklich viel zu ihm gesagt hatte, seit er hier war. Jonathan war in den letzten Monaten aufgefallen, dass er langsam alt wurde. Er war am liebsten allein und arbeitete in Ruhe im Garten oder saß in seinem Sessel und las Zeitung. 

Unwillkürlich verglich er ihn mit Sheilas Vater, der ganz anders war. Nicht nur, weil er deutlich jünger war, er befand sich durch die beiden Kinder in einer ganz anderen Lebensphase als er. Jonathan ließ sich auf dem freien Platz nieder, den seine Mutter für ihn mitgedeckt hatte. 

„Gut geschlafen?", fragte seine Mutter dann und musterte ihn aufmerksam. Jonathan konnte nun ein Lächeln nicht mehr unterdrücken und obwohl er sich vorgenommen hatte, seinen Eltern noch nichts offiziell von Sheilas Schwangerschaft zu erzählen, musste er es nun doch einfach loswerden. 

„Sheila ist schwanger. Sie war heute Morgen beim Arzt", hörte er sich sagen, bevor er darüber nachdenken konnte. Seine Mutter ließ klirrend ihr Messer auf den Teller fallen, dann schlug sie sich die Hand vor den Mund und lachte leise. Auch sein Vater schien zu lächeln. 

„Wirklich? Das ist ja toll! Wie weit ist sie?", fragte sie und rutschte näher an ihn heran. Jonathan spürte, wie seine Hände anfingen zu zittern. 

„Fünfte Woche hat sie gesagt", berichtete er und nun wurde das Grinsen auf seinem Gesicht breiter. 

„Ist denn alles in Ordnung bei ihr?", plapperte seine Mutter weiter, doch irgendwie störte es ihn gar nicht, dass sie so aufgedreht war. 

„Ja, es ist alles okay. Aber ich habe ganz vergessen sie nach dem Ultraschallbild zu fragen", fiel es ihm dann ein und am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte sein Handy von oben geholt. 

„Mach das doch gleich noch. Aber jetzt musst du erst einmal was essen. Du hast ja gestern dein Essen kaum angerührt", betüddelte ihn seine Mutter weiter und er griff gierig nach einem Brötchen. Tatsächlich hatte er ein flaues Gefühl im Magen, doch ob es wirklich nur vom Hunger kam, wusste er nicht.

Nach dem Frühstück fühlte er sich ganz und gar nicht mehr genervt und irgendwie beschwingt. Dennoch hatte er noch immer Sorge, dass das nicht lange anhalten würde. Es fühlte sich an, als würde noch immer ein dunkler Schatten über ihm lauern, der ihn daran hinderte, wieder glücklich zu sein. Doch durch die Nachricht von Sheila war er ein wenig verblasst. 

Jonathan verzog sich wieder in sein Zimmer und setzte sich aufs Bett. Sein Handy lag noch dort, wo er es vorhin hingeworfen hatte und er klickte auf das Nachrichtenprogramm und schrieb Sheila eine Nachricht. 

„Hast du ein Ultraschallbild bekommen? Könntest du es mir schicken?", schrieb er und wartete eine Minute, ob eine Antwort kam, aber sie hatte anscheinend keine Zeit. 

Da fiel ihm auf einmal die E-Mail von Karl ein und er schrieb eine Nachricht an Laura. Immerhin konnte es nicht schaden, sich vielleicht mit ein wenig Arbeit an ihrem Radiosender abzulenken. Gerade als er die ersten Worte eingetippt hatte, löschte er sie wieder und rief sie stattdessen an. Das wäre doch deutlich einfacher und sie könnte ihm erklären, was genau sie plante. Ziemlich schnell meldete sie sich und klang deutlich überrascht. 

„Hallo, wie geht es dir?", fragte sie fröhlich wie immer und sofort spürte er, dass sich in seinem Körper so etwas wie eine angenehme Wärme ausbreitete. 

„Ganz okay. Ich wollte mal fragen, was du für eine Idee für deinen Radiosender hattest", antwortete er und sie gluckste leise. 

„Ich wusste nicht, ob du da Lust drauf hättest und ich könnte dir nichts dafür geben. Aber ich dachte, es würde vielleicht Spaß machen und du könntest ein wenig von deiner Arbeit erzählen", erklärte sie. Jonathan nickte langsam, obwohl sie es nicht sehen konnte. 

„Klar, wieso denn nicht?", sagte er bemüht fröhlich, doch über seine Arbeit zu sprechen würde ihm sicher nicht leicht fallen. 

„Cool! Wann hast du denn Zeit? Du könntest zu uns kommen und live in meiner Sendung sein", sagte sie aufgeregt. 

„Ich kann immer. Wann soll ich wo sein?", fragte er, woraufhin sie einen überraschten Laut ausstieß. 

„Du würdest echt mitmachen?", fragte sie ungläubig und er bejahte. 

„Super! Kannst du vielleicht schon heute Abend? Es ist etwas spontan, aber...", setzte sie an und klang dabei, als wäre es ihr unangenehm, ihn so kurzfristig einzuladen. 

„Wir sehen uns heute Abend", antwortete er und grinste. Sie verabredeten sich für neunzehn Uhr, denn sie würde ihre Sendung um zwanzig Uhr starten. So würden sie noch genug Zeit haben, um alles zu besprechen. 

Jonathan musste zugeben, dass er schon ein paar Tage nicht mehr richtig gearbeitet hatte und keine Ahnung hatte, wie gut sein neues Lied bei den Leuten angekommen war. Dazu würde er nun auch keine Möglichkeit mehr haben und er hoffte, dass Laura ein wenig für ihn recherchiert hatte. 

Jonathan ließ sich aufs Bett fallen und starrte an die Decke. Obwohl er erst seit gestern nicht mehr bei Sheila war, fühlte er sich schon ein wenig entspannter. Zwar noch lange nicht so weit, dass er wieder zu ihr zurückfahren wollte, aber dennoch glaubte er, auf einem guten Weg zu sein. Vielleicht tat es ihm gut, heute Abend bei seinen Freunden zu sein. Auch wenn sie beide am Samstag bei seinem Geburtstag gewesen waren, hatte er nicht so viel Zeit, sich mit ihnen zu unterhalten. 

Jonathan warf noch einmal einen Blick auf sein Handy, doch Sheila hatte sich noch nicht gemeldet. Vielleicht hatte sie sich wieder zur Probe für die Mitarbeiter-Vorführung verabredet. Wobei, durfte sie überhaupt tanzen, wenn sie schwanger war? Beinahe hätte er ihr noch eine Nachricht geschrieben, aber er hielt sich zurück. Er wollte warten, bis sie sich meldete. 

Plötzlich riss ihn ein Klopfen an seiner Zimmertür aus seinen Gedanken und schnell setzte er sich auf. Ohne eine Antwort von ihm abzuwarten öffnete seine Mutter die Tür einen Spalt weit und streckte den Kopf herein. Sie grinste über das ganze Gesicht, doch sie blieb im Türrahmen stehen. 

„Was gibt's?", fragte er möglichst lässig, doch anstatt zu antworten winkte sie ihn nur mit einer Handbewegung zu sich. Jonathan rollte die Augen, denn er mochte es gar nicht, wenn jemand so geheimnisvoll tat, dennoch er ging ohne zu meckern zu ihr. 

„Komm mal mit nach unten. Papa und ich haben da noch was für dich", sagte sie und wandte sich um. Jonathan folgte ihr die Treppe nach unten und sie sah sich ein paar Mal nach ihm um, als befürchtete sie, er würde wieder umkehren und sich in seinem Zimmer verkriechen. Erst da wurde ihm klar, dass sie bestimmt ein Geburtstagsgeschenk für ihn besorgt hatten. Er stöhnte innerlich auf. Hoffentlich war es nichts allzu Großes. 

Seine Mutter führte ihn ins Wohnzimmer, doch sein Vater war schon wieder im Garten verschwunden. Sein Blick fiel auf den kleinen Couchtisch, wo ein keines Geschenk stand. Er ließ sich neben seiner Mutter nieder, die nach dem Geschenk griff und es ihm hinhielt. 

„Danke", murmelte er, doch seine Mutter winkte ab. 

„Es ist nichts Großes, aber wir dachten, es könnte dich - oder besser gesagt euch – ein wenig freuen", sagte sie aufgeregt und Jonathan riss das bunte Papier auf. Er mochte es nicht, wenn sie ihm teure Geschenke machte. Unter dem Papier erkannte er eine hübsch gearbeitete Holzkiste, die Sheila mit Sicherheit gefallen würde. 

„Es ist eher etwas... naja, es ist etwas abergläubisch, aber ich fand es ganz nett", plapperte seine Mutter, als wäre es ihr nun doch ein wenig peinlich. 

„Lass es mich doch erst einmal auspacken", lachte er und klappte die Kiste auf. Sie war mit allerlei Zeug ausstaffiert, das ihn an bräunliches Ostergras erinnerte. In der Mitte lag ein kleines Gestell aus dunklem Holz, in das wie ein Globus ein blauer, glasiger Stein eingesetzt war. Er nahm das etwa handtellergroße Modell heraus und stellte fest, dass es tatsächlich ein kleiner Globus war. In den Edelstein, der als Erde eingesetzt war, hatte man mit feinen Linien die Umrisse der Kontinente eingraviert. Tatsächlich war es ziemlich hübsch und es erinnerte ihn an ihre Weltreise. 

„Das ist ein Topas und er soll Glück bringen. Ich dachte das passt zu euch, weil du doch immer so sehr von eurer Reise schwärmst", erklärte seine Mutter und Jonathan nickte. 

„Danke", sagte er und stellte den kleinen Globus vorsichtig auf dem Wohnzimmertisch ab, denn unter dem Graszeug war noch ein Umschlag zu sehen. Er zog ihn heraus, schüttelte das Ostergras ab und öffnete ihn. Darin war eine Grußkarte, doch als er sie öffnete fiel ein Gutschein heraus. 

„Es ist zwar etwas weiter zu fahren, aber es wird sich lohnen. Zumindest habe ich gehört, dass es sehr gut sein soll", plapperte seine Mutter drauf los, doch Jonathan antwortete nicht und sah sich den Gutschein an. 

„Kulinarische Weltreise – einmal Essen um die Welt", stand darauf und es schien eine Art Restaurant-Gutschein zu sein. 

„Danke, das sieht gut aus", sagte er und lächelte. Tatsächlich sah es interessant aus und er drehte den Gutschein um. 

„Wir begleiten Sie einmal um die Welt! Probieren Sie Köstlichkeiten von allen Kontinenten und lassen Sie ihre Sinne verwöhnen", las er vor und grinste. 

„Willst du mich wieder auf Weltreise schicken?", scherzte er, doch seine Mutter knuffte ihn. 

„Nein, ich will dich nicht schon wieder sieben Monate nicht sehen. Aber vielleicht erinnerst du dich noch an Sandra aus der Schule? Ihr Mutter hat mir erzählt, dass es dort ganz toll sein soll und ich dachte mir, das würde euch vielleicht Spaß machen", erklärte sie, dann legte Jonathan den Gutschein und den kleinen Globus zurück in die Kiste. 

Einen Moment lang zögerte er, doch dann breitete er die Arme aus und drückte seine Mutter so fest an sich, wie er es schon lange nicht mehr getan hatte. Sie stieß einen überraschten Laut aus, doch dann erwiderte sie die Umarmung. Es tat gut, einfach nur im Arm gehalten zu werden, auch wenn er das niemals zugegeben hätte. 

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